2. Kapitel. Die Kraft des Hauses
»In einer Unterredung mit Frau Campan bemerkte Napoleon Bonaparte: »Die alten Erziehungssysteme scheinen nichts wert zu sein; was ist nötig, um das Volk richtig zu erziehen?« »Mütter,« erwiderte Frau Campan. Über diese Antwort war der Kaiser betroffen. »Ja,« sagte er, »das ist ein ganzes Erziehungssystem in einem Wort. Lassen Sie es Ihre Sorge sein, Mütter aufzuziehen, die ihre Kinder zu erziehen verstehen!«
Aimé Martin.
Das Haus ist die erste und einflußreichste Schule des Charakters. Hier erhält jeder seine beste oder schlechteste Erziehung; denn hier nimmt er die Prinzipien auf, die ihn durch das Leben begleiten und die erst mit dem Tode aufhören.
Eine landläufige Redensart besagt: »Manieren machen den Mann;« und eine andere: »Der Geist macht den Mann;« aber richtiger als beide ist eine dritte: »Das Haus macht den Mann.« Denn die häusliche Bildung geht nicht nur auf Manieren und Geist, sondern auch auf den Charakter. Es ist vor allem das Haus, welches das Herz öffnet, die Gewohnheiten bildet, den Geist erweckt und den Charakter zum Guten oder Schlechten anleitet.
Aus dieser Quelle, sei sie rein oder trübe, entspringen die Prinzipien und Maximen, welche die Gesellschaft beherrschen. Sogar die Gesetze sind nur ein Reflex des häuslichen Lebens, Alles was an Ansichten im Familienleben in den Geist der Kinder gepflanzt wurde, geht später hinaus in die Welt und wird zur öffentlichen Meinung; denn die Völker gehen aus den Kindern hervor, und diejenigen, welche die Kinder am Gängelband führen, können einen größeren Einfluß ausüben, als diejenigen, welche die Zügel der Regierung in Händen halten.
Häusliches Leben sollte naturgemäß das soziale vorbereiten: Geist und Charakter sollten ihre erste Bildung zu Hause empfangen. Hier werden die Individuen, die später die Gesellschaft bilden, jedes für sich behandelt und erzogen. Aus der Familie treten sie ins Leben, und aus den Knaben werden Bürger. Deshalb darf das Haus als die einflußreichste Schule der Zivilisation betrachtet werden. Denn am Ende läßt sich die Zivilisation in der Hauptsache auf eine Frage individueller Bildung zurückführen; und je nachdem die Mitglieder der Gesellschaft in der Jugend gut oder schlecht erzogen worden sind, wird auch das Gemeinwesen, das sie bilden, mehr oder weniger human und zivilisiert sein.
Die Erziehung auch des weisesten Mannes muß unfehlbar wichtig beeinflußt werden durch die moralische Einwirkung seiner Umgebung in seinen Jugendjahren. Er kommt hilflos zur Welt und hängt hinsichtlich seiner Ernährung und Pflege ganz von seiner Umgebung ab. Von dem allerersten Atemzug an beginnt seine Erziehung. Als eine Mutter einst einen Geistlichen fragte, wann sie die Erziehung ihres damals vierjährigen Kindes beginnen sollte, erwiderte er: »Frau, wenn Sie nicht schon begonnen haben, so haben Sie vier Jahre verloren. Von dem ersten Lächeln an, das auf der Wange eines Kindes erglänzt, beginnt schon Ihre Pflicht!«
Doch auch in diesem Falle hatte die Erziehung schon begonnen; denn das Kind lernt ohne Anstrengung durch bloße Nachahmung, gleichsam durch die Poren der Haut. »Ein Feigenbaum, der einen anderen ansieht, trägt Frucht«, sagt ein arabisches Sprichwort. Und so ist es mit den Kindern: Ihr erster großer Lehrer ist das Beispiel.
Wie unbedeutend die Einflüsse, welche den Charakter bilden helfen, auch zu sein scheinen, so dauern sie doch durch das ganze Leben an. Der Charakter des Kindes ist der Kern in dem des Mannes; alle spätere Erziehung lagert sich nur darum an, die Form des Kristalls bleibt dieselbe. So erweist sich das Wort des Dichters im großen und ganzen als wahr: »Das Kind ist der Vater des Mannes«, oder, wie Milton es ausspricht, »Die Kindheit zeigt den Mann, wie Morgenrot den Tag«. Diejenigen Triebe, die am längsten dauern und am tiefsten wurzeln, haben immer ihren Ursprung im frühesten Kindesalter. Zu dieser Zeit wird der Keim zu Tugenden öder Lastern, zu Gefühlen oder Gesinnungen eingepflanzt, welche den Charakter lebenslang bestimmen. Das Kind wird sozusagen auf die Schwelle einer neuen Welt gelegt, und alles was es sieht, ist neu und wunderbar. Zuerst begnügt es sich damit, sie anzustarren; aber allmählich beginnte es zu sehen, zu beobachten, zu vergleichen, zu lernen, und Eindrücke und Gedanken zu bewahren, und unter weiser Leitung macht es wahrhaft wunderbare Fortschritte. Lord Brougham hat bemerkt, daß ein Kind vom achtzehnten bis dreißigsten Monat mehr von der Welt, von seinen eigenen Fähigkeiten, von der Natur anderer Körper und sogar von seinem und anderer Geist lernt, als es sich sein ganzes übriges Leben hindurch aneignet. Die Kenntnisse, die ein Kind sich in dieser Periode erwirbt, und die Ideen, die sein Geist faßt, sind so wichtig, daß, wenn sie später ausgelöscht würden, die ganze Gelehrsamkeit eines ergrauten Professors zu Cambridge oder eines hervorragenden Dozenten in Oxford soviel wie nichts bedeuten und ihren Besitzer nicht befähigen würde, seine Existenz auch nur um eine Woche zu verlängern.
In der Kindheit ist der Geist am empfänglichsten für Eindrücke und gleich bereit, sich beim ersten Funken zu entzünden. Da werden Ideen schnell aufgefaßt und lebenslänglich bewahrt. So soll Scott seine erste Neigung für Balladen durch die Deklamationen seiner Mutter und Großmutter empfangen haben, lange bevor er lesen konnte. Die Kindheit ist wie ein Spiegel, der im späteren Leben die ersten Bilder wieder reflektiert. Der erste Eindruck des Kindes bleibt immer bestehen. Die erste Freude, der erste Kummer, der erste Erfolg, der erste Mißerfolg, die erste Leistung malen den Vordergrund des Lebensbildes.
Unterdessen schreitet die Bildung des Charakters – des Temperaments, des Willens und der Gewohnheiten – fort, auf dem so sehr das Glück der Menschen im späteren Leben beruht. Obgleich der Mensch mit einer gewissen selbsttätigen Kraft begabt ist, zu seiner eigenen Entwicklung beizutragen, unabhängig von den ihn umgebenden Umständen, und auf das Leben um sich einzuwirken, so ist doch die Richtung, die seinem Charakter in frühester Jugend gegeben worden ist, von immenser Bedeutung. Man stelle den geistig bedeutendsten Philosophen inmitten täglichen Elends, täglicher Sittenlosigkeit und Gemeinheit, und er wird unmerklich zur Roheit herabsinken. Wieviel empfänglicher ist das allen Eindrücken zugängliche und hilflose Kind in solcher Umgebung! Es ist unmöglich, eine edle Natur, empfindlich gegenüber dem Schlechten, rein an Geist und Herz, inmitten Roheit, Elend und Verworfenheit heranzubilden.
So wird ein Haus, die Pflegestätte von Kindern, die zu Männern und Frauen heranwachsen, gut oder schlecht sein, je nach den Mächten, die dort herrschen. Wenn der Geist der Liebe und Pflichttreue vorherrscht, – wenn Kopf und Herz weise regieren – wenn das tägliche Leben ehren- und tugendhaft ist, – wenn die Leitung zart, gütig und liebevoll ist, dann dürfen wir aus einem solchem Hause gesunde, nützliche und glückliche Wesen erwarten, welche, wenn sie die nötige Stärke gewonnen haben, fähig sind, den Fußtapfen ihrer Eltern zu folgen, aufrecht zu wandeln, sich weise zu beherrschen und zu der Wohlfahrt ihrer Umgebung beizutragen.
Andererseits werden sie, wenn sie von Unwissenheit, Roheit und Selbstsucht umgeben sind, unwillkürlich denselben Charakter annehmen und zu rohen, unwissenden Leuten heranwachsen, die für die Gesellschaft um so gefährlicher sind, wenn sie mitten in die mannigfachen Versuchungen dessen, was man Zivilisation nennt, hineingestellt werden. »Gib dein Kind einem Sklaven zur Erziehung,« sagte ein alter Grieche, »und du wirst zwei Sklaven statt des einen haben.«
Das Kind muß nachahmen, was es sieht. Alles ist ihm ein Vorbild – für Manieren, Gesten, Sprache, Gewohnheiten, Charakter. »Für das Kind,« sagt Friedrich Richter, »ist die wichtigste Lebensepoche die Kindheit, wo es anfängt, sich durch die Gemeinschaft mit anderen zu bilden und zu färben. Jeder neue Erzieher bewirkt weniger als sein Vorgänger, bis schließlich, wenn wir das ganze Leben als eine Erziehungsanstalt ansehen, ein Weltumsegler weniger von allen Nationen, die er gesehen hat, als von seiner Amme beeinflußt ist«. Vorbilder sind deshalb von der größten Bedeutung für die Bildung des Kindes; und wenn wir edle Charaktere haben wollen, so müssen wir ihnen edle Vorbilder bieten. Das Vorbild aber, das sich am meisten vor dem Auge des Kindes befindet, ist die Mutter.
»Eine gute Mutter ist hundert Lehrer wert«, sagt George Herbert. Zu Haufe ist sie »ein Magnetstein für alle Kerzen und ein Leitstern für alle Augen.« Ihr wird beständig nachgeahmt. Sie ist gleichsam eine »Welt von Lebensregeln«. Aber ein Beispiel ist weit mehr denn eine Regel. Es ist eine Belehrung durch die Tat. Es lehrt ohne Wort und verdeutlicht es oft besser, als es die Zunge vermag. Angesichts eines bösen Beispiels haben die besten Regeln nur geringen Wert. Das Beispiel wird befolgt, nicht die Vorschrift. Eine Lehre, die mit der Praxis nicht übereinstimmt, ist noch schlimmer als nutzlos, da sie nur dazu dient, das feigste aller Laster, die Heuchelei, zu lehren. Sogar Kinder haben darin schon ein Urteil, und die Lehren der Eltern, die das eine sagen und das entgegengesetzte tun, werden schnell durchschaut. Die Predigt jenes Klosterbruders, der über die Tugend der Ehrlichkeit mit einer gestohlenen Gans im Ärmel predigte, war nichts wert.
Durch die Nachahmung von Handlungen wird der Charakter langsam und unmerklich, aber schließlich doch entscheidend gebildet. Die einzelnen Handlungen mögen an sich unbedeutend erscheinen; aber so sind sie auch im täglichen Leben. Sie fallen so unmerklich...