Vorwort
Für mich als jemand, der die Entwicklung der Systemischen Therapie seit den 1970er Jahren begleitet und in gewissem Umfang mitgestaltet hat, war es eine Freude, das vorliegende Buch gleich nach der Fertigstellung des Manuskripts zu lesen zu bekommen. Nun habe ich darüber hinaus die Ehre, von den Autorinnen um ein Vorwort dazu gefragt worden zu sein.
Ich gehöre zu jenen, die zu den Gründerzeiten der Systemischen Therapie auf eine Denkweise gestoßen sind, die eine erfreuliche Möglichkeit anbahnte, eine neue, kreative Praxis begründen zu können. Diese ging nicht nur über die einengenden Vorschriften der analytischen und objektivistischen Ansätze hinaus, sondern beruhte auf einem neuartigen Verständnis des Menschen und seinen Interaktionen: das systemische Denken. Dieses an neue wissenschaftliche Erkenntnisse anknüpfende Denken bot eine begeisternde Alternative zu den medizinischen Analogien zu somatischen Erkrankungen, wie sich dies in der Psychopathologie niederschlägt. Die den Menschen belastenden Probleme des Lebens wurden zuerst als kommunikative Prozesse aufgefasst. Das Interesse konzentrierte sich in der Hauptsache auf soziale Zusammenhänge und suchte darin die Erklärung für das Entstehen dieser Probleme. Die darauf bezogen entstandene Systemische Therapie war dementsprechend so konzipiert, dass sie faktisch oder virtuell mit sozialen Kontexten als Klienten gearbeitet hat, sei es mit Familien, Paaren oder anderen Gruppen. Diese Arbeit ließ sich am direktesten im Umgang mit den Problemen verwirklichen, die von Kindern erzeugt wurden. Für die therapeutische Arbeit mit Paaren und anderen Gruppen von Erwachsenen wurden die ursprünglichen Konzepte unwesentlich erweitert.
De facto aber werden systemische Therapeuten immer wieder von Individuen aufgesucht, die ihr Leid als etwas Eigenes erleben und entweder über keinen relevanten sozialen Kontext verfügen oder nicht bereit sind, ihre Angehörigen in die Therapie einzubeziehen. Als systemischer Lehrtherapeut musste ich bei den vorgesehenen Live-Supervisionen akzeptieren, dass die Kursteilnehmer trotz eindringlich formulierter Vorgabe einzelne Klienten mitbrachten und nicht in der Lage waren, soziale Systeme vorzustellen. Als Therapeut, aber auch als Supervisor musste man sich in Ermangelung einer passenden Alternative damit begnügen, die für soziale Kontexte erarbeiteten Konzepte und Interventionen auf Individuen anzuwenden. Schaute man aber genau hin, stellte man fest, dass die meisten systemischen Therapeuten, die Einzeltherapien durchführten, mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen auf fremde Konzepte zurückgriffen. Erst in den letzten Jahren ist der Fokus langsam auf eine systemisch kohärente Konzeptualisierung intrapsychischer Problemlagen erweitert worden, die über die von Steve de Shazer eher keck formulierte Erklärung – »bad luck« – hinausgeht und die Erarbeitung dazu passender Interventionen anstrebt.
An dieses Bemühen knüpft das vorliegende Buch an. Die Autorinnen, Elisabeth Wagner und Ulrike Russinger, sind in der Praxis vielfältig erfahrene Therapeutinnen, die darüber hinaus ihr Wissen als Lehrtherapeutinnen mit werdenden systemischen Therapeuten an der Wiener Lehranstalt für Familientherapie teilen. In dieses Buch geht an jeder Stelle sowohl die theoretische Reflexionsbereitschaft als auch die praktische Erfahrung der Autorinnen spürbar mit ein. Das Buch geht von einem »theoretischen Unbehagen« mit dem herrschenden Eklektizismus bezüglich der Wahl der Interventionen aus. Bekanntlich führen die meisten systemischen Therapeuten Einzeltherapie durch, eine darauf angelegte Konzeptualisierung bleibt aber bei Weitem hinter dieser praktischen Entwicklung zurück. Die systemischen Therapeuten seien deshalb in ihrer Arbeit mit Individuen sich selbst überlassen. Um diese Lücke zwischen Theorie und Praxis nach Möglichkeit zu schließen, greifen die Autorinnen über den Tellerrand des etablierten systemischen Bereiches hinaus und bedienen sich dort von Konzepten und Techniken aus anderen Bereichen, um auf diese Weise die ohnehin vorhandene Erweiterung der Handlungsweisen in der systemischen Einzeltherapie konzeptionell zu begründen, ohne den metatheoretischen Rahmen systemischen Denkens zu überschreiten. Ihr Ziel ist nicht additiv, es begnügt sich nicht damit, nur ein paar Techniken dazu zu gewinnen; Ziel ist vielmehr, das Handlungsrepertoire mit dem eigenen Konzept kongruent zu erweitern.
Die eventuellen Hindernisse, die in der Einzeltherapie durch nicht gezielte Beachtung struktureller, biografischer, emotionaler Aspekte auftreten, sollen durch Anreicherung des Verstehens und der Handlungsmöglichkeiten vermindert oder sogar beseitigt werden. Um sich diesem Ziel zu nähern, bietet das Buch als Ausgangslage eine komprimierte, aber gut verständliche Zusammenfassung der Entwicklung der Systemischen Therapie bis zum aktuellen Stand. Im Anschluss daran werden die Grundsteine für die später zu folgernden Vorgehensweisen gelegt. Dafür wird eine Auswahl relevant erachteter psychologischer Konzepte dargelegt. Das sind das basale Konzept der Grundbedürfnisse, das Konzept der Schemata zur Organisation von Erfahrung und die Konzeptualisierung affektiver und emotionaler Prozesse. Eine knappe Auseinandersetzung mit dazu passenden, neueren Erkenntnissen der Neurobiologie rundet diesen einführenden Teil ab.
Auf die Praxis bezogen bestimmen die Autorinnen die Erarbeitung eines Fallverständnisses als unerlässliche, grundsätzlich professionelle Leistung. Das erfordert eine Form des Diagnostizierens, die keine Klassifikation des Falls im psychopathologischen Sinne anstrebt, sondern darauf fokussiert, dass das jeweils erarbeitete Fallverständnis eine darauf ausgerichtete Wahl der Intervention ermöglicht. Den Professionellen obliegt es, den therapeutischen Prozess auf das Fallverständnis auszurichten, welches sie durch Einbeziehung ihrer Expertise angereichert haben. Mit diesem Vorschlag, der im eigentlichen systemischen Therapieverständnis allenfalls implizit, jedoch nicht explizit vorgesehen ist, gehen die Autorinnen allerdings angemessen behutsam um. Sie regen an, das Fallverständnis je nach Komplexität mit mehr oder weniger Expertenwissen (Störungs- und Lösungswissen) anzureichern. Bei relativ einfachen Problemen könne man sich auf den direkten Umgang mit dem formulierten Anliegen der Klienten beschränken, bei komplexeren Problemen, die selbst für den Klienten unergründbar sind, sei der Therapeut aufgefordert, das Problem in einen breiteren Kontext zu stellen.
Um diese Kontexterweiterung leisten zu können, bieten die Autorinnen drei Zugänge aus anderen Ansätzen, die sie ausführlich beschreiben. Es handelt sich um strukturelle Überlegungen aus der psychodynamischen Therapie, emotionsfokussierte Vorgehensweisen aus den humanistischen Therapien und schematherapeutische Aspekte aus der kognitiven Verhaltenstherapie. Die ausführliche Darstellung dieser Ansätze dürfte vor allem jenen Therapeuten hilfreich sein, die sie in ihrer Ausbildung nicht kennengelernt haben.
Die zu Anfang des Buches vorgelegte Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen führt im dritten und letzten Teil zu dem, was ich für das Herzstück des Buches halte. Hier wird eine Abfolge von gut ausgewählten Beispielen aus Systemischen Therapien dargestellt, in denen neben den üblichen Vorgehensweisen im systemischen Kontext verschiedene Techniken aus anderen Therapieansätzen Anwendung finden. Bei jedem dieser Beispiele wird genau expliziert, aufgrund welcher Überlegungen die Therapeutin sich für das angewandte Vorgehen entschlossen hat. Darüber hinaus wird reflektiert, inwiefern das gewählte Vorgehen mit den Prämissen systemischen Denkens kongruent ist. Sie folgen somit der von den Autorinnen formulierten Sequenz: Fallverständnis → therapeutische Absicht → Intervention. Die dargelegten Beispiele bieten gleichsam dem Lernenden und dem Erfahrenen eine Fundgrube von ebenso hilfreichen wie differenzierten Anregungen.
Mit diesem Band haben die Autorinnen Licht in ein Niemandsland gebracht, das zwar seit Langem von vielen systemischen Therapeuten und Therapeutinnen nolens volens bevölkert wurde, bisher jedoch weitgehend im Bereich des Unausgesprochenen, mitunter sogar des Unerlaubten, vergraben war. Es ist das Verdienst von Elisabeth Wagner und Ulrike Russinger, den Mut zu haben, das zu veröffentlichen, was andere meistens nur im Verborgenen handhaben. Allein die Tatsache, dass dieses Material...