I. „Wir haben Fahrtwind selbst gegen den Tod“ – „Nordisches Lebensgefühl“ und die Gründe für die Entstehung der Wikingerzeit
Der von Skandinavien bis Neuseeland belegbare Wikingerboom der Gegenwart ist wohl als harmloses Phänomen zu erachten, auch wenn eine seiner Wurzeln, die Germanenmode vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945, weniger harmlose Verwendung gefunden hat und deswegen nach dem 2. Weltkrieg auch weitgehend geächtet wurde und erst in der allerjüngsten Vergangenheit wieder etwas mehr Interesse erweckt (PM-Perspektive Nr. 39/1995: Die Germanen; Spiegel vom 28.10.1996: Die Germanen – unsere barbarischen Vorfahren). Eine Rückkehr der Germanentümelei ist jedoch wohl nicht zu befürchten, und die Wikingertümelei ist wenigstens außerhalb Skandinaviens eine recht periphere Erscheinung. Wenn die südwestenglische Stadt Tavistock 1997 ihre Brandschatzung durch Wikinger feiert und nachvollziehen will, oder wenn der erst im 19. Jahrhundert gegründete Ort Dannevirke auf North Island in Neuseeland der skandinavischen Herkunft seiner Bewohner mit einem Viking Festival unter Verbrennung eines Wikingerschiffes gedenkt, dann sind die zugrundeliegenden Beweggründe für derartige Feiern wohl nicht in dem Wunsch nach Rückkehr zu wikingerzeitlichen Bräuchen oder Idealen zu sehen. Ähnlich wie in den überaus zahlreichen skandinavischen Aktivitäten wird darin eher die Suche nach vorzeigbaren historischen Wurzeln deutlich, die der Identitätsfindung von Gemeinden oder Regionen in einer immer uniformeren und reglementierten Welt dienen. Diese Suche nach der historischen Dimension einer solchen Identität ist in Skandinavien, hier besonders in Schweden und Norwegen, und auf den nordatlantischen Inseln, insbesondere den Orkneys und Shetlands, längst mit dem Rekurs auf die Wikingerzeit entschieden. In Dänemark ist dies weniger offensichtlich, aber als man während des dänischen EU-Vorsitzes im ersten Halbjahr 1993 ein Schiff von einer bronzezeitlichen Felszeichnung als Logo wählte, wurde es – obwohl immerhin 3000 Jahre älter – durchwegs als Wikingerschiff bezeichnet.
Die Wikingerzeit scheint sich also offenbar als historische Größe im Bereich der Identitätsfindung einer erstaunlich großen Zahl von Ländern, Regionen und Gemeinden anzubieten. Natürlich stellt sich dabei die Frage nach dem Grund für dieses Phänomen, und den wiederum dürfte man in erster Linie im Bild der „Wikinger“ in der öffentlichen Meinung zu sehen haben. Selbst wenn man, wie eine ZDF-Dokumentation am 3.11.1996, eine populäre Darstellung der Wikingerzeit mit dem Verweis auf die „metsaufenden Raufbolde“ aus dem Norden beginnt, so ist es heute üblich, dieses Zerrbild sofort durch eine ausführliche Beschreibung wikingischer kultureller Leistungen zu konterkarieren. So auch im vorliegenden Fall, wo der Film den Titel „Genies aus der Kälte“ trägt. Diese Entwicklung wurde im wesentlichen durch Peter H. Sawyers Buch The Age of the Vikings (London 1962) eingeleitet und ist heute für jeden Diskurs zum Thema Wikinger dominierend. Das Spannungsverhältnis zwischen den Wikingern als mörderischen Barbaren und den Wikingern als Kulturträgern ist wohl einer der Hauptgründe für den gegenwärtigen Wikingerboom: In einer reglementierten, bürokratisierten Welt, in der jedes triebhafte Ausleben des menschlichen Aggressionspotentials streng geahndet wird, muß die – seinerzeit wenigstens innerhalb Skandinaviens – sozial akzeptable Form organisierten Aggressionsverhaltens der Wikingerzeit ideal verklärt als Ventil für entsprechende (auch unterbewußte) Wunschvorstellungen heute herhalten. Andererseits hat die Hervorhebung der kulturellen und organisatorischen Leistungen der Wikingerzeit den Vorwurf entkräften helfen, die Wikinger hätten sich auf einer noch barbarischen Kulturstufe befunden. Der Vergleich mit Skythen, Awaren, Magyaren und Mongolen, die trotz einer von ihrer Umwelt als ähnlich barbarisch empfundenen Kriegsführung eine ebenfalls nicht unbeträchtliche Sachkultur hervorgebracht haben, entfällt dabei meist.
Im Gegensatz zu den Gründen für den Wikingerboom geht es bei den Gründen für den Beginn der skandinavischen Expansion, die man üblicherweise als Wikingerzeit bezeichnet, nur peripher um Identitäten, obwohl diese in der wikingischen Spätzeit eine Rolle gerade bei der Selbstdarstellung gespielt haben mögen. Es muß zudem vorweg festgestellt werden, daß keiner der vielen in der Vergangenheit genannten Gründe allein eine ausreichende Erklärung dafür bieten kann, warum innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte an der Wende vom 8. zum 9. Jahrhundert plötzlich jährlich etliche Flotten mit Dänen und Norwegern aus Skandinavien aufbrachen, um ihr Glück in Friesland, England und Frankreich zu machen. Auch die vorgeschlagene Reduktion auf drei Hauptursachen (Boyer 1994) wird den komplexen Ursachen für diese späte Phase der Völkerwanderungszeit nicht gerecht. Nur eine multikausale Erklärung kann Anspruch darauf haben, die Wurzeln der Wikingerzeit wenigstens einigermaßen sichtbar zu machen.
Es zeigt sich aber schon bei erster Betrachtung, wie sehr gerade bei der Suche nach den Gründen für die Wikingerzeit der Wikingermythos die historischen Fakten in einer Weise überwuchert hat, die für uns die wahren Ursachen kaum mehr zugänglich macht. Das Dilemma der Forschung liegt dabei gerade darin, daß uns zeitgenössische Texte nur wenig über die Ursachen der Wikingerzeit berichten, wohl weil dieses Phänomen auch für sie nicht einsichtig war. Wir sind somit auf wenige Stellen angewiesen, die von der Forschung unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt rezipiert wurden. Die ältere Forschung (so noch Brøndsted 1960) sah in einer angeblichen Überbevölkerung Skandinaviens und in der damit verbundenen Verknappung der agrarischen Ressourcen die Hauptursachen für den Aufbruch größerer Banden jugendlicher Krieger nach Süden. Dieser Erklärungsansatz aber fußt auf den Aussagen des notorisch unverläßlichen normannischen Geschichtsschreibers Dudo von St. Quentin (De moribus et actis primorum Normanniae ducum, verfaßt um 1020 gegen Bezahlung für die normannischen Herzöge), der die Verherrlichung der normannischen Herrscher zum Ziel hatte:
Diese Menschen geben sich unverschämt den Ausschweifungen hin, leben in Gemeinschaft mit mehreren Frauen und zeugen durch diesen schamlosen und gesetzlosen Verkehr eine zahllose Nachkommenschaft. Wenn sie aufgewachsen sind, streiten die Jungen gewaltsam mit ihrern Vätern und Großvätern oder untereinander um Besitz, und wenn sie zu zahlreich werden, und sich nicht mehr ausreichendes Land für ihren Lebensunterhalt erwerben können, wird nach altem Brauch durch das Los eine große Gruppe junger Menschen ermittelt, welche zu fremden Völkern und Reichen getrieben wird, wo sie sich durch Kampf Länder erwerben können und wo sie in dauerhaftem Frieden leben können. (Lib. I,1)
An seiner Beschreibung ist die christliche Entrüstung nur oberflächlich, darunter steckt aber die absichtsvolle Bewunderung für die Virilität der normannischen Adeligen, die zu seiner Zeit neue Aktualität hatte. Es war gerade diese Virilität, die etwa im 2. Viertel des 11. Jahrhunderts dazu führte, daß von den 12 Söhnen des Tancred de Hauteville die meisten nach Süditalien zogen, um dort ihr Glück zu machen, und schließlich die sizilianische Königslinie begründeten. Die Aussagen der normannischen Schriftsteller des 11. Jahrhunderts wie Dudo oder auch Wilhelm von Jumièges müssen also vor dem Hintergrund gesehen werden, daß zu ihrer Zeit eine neue normannische Auswanderungswelle eben nach Süditalien im Gange war, wo sich die Normannen innerhalb der nächsten 100 Jahre ein weiteres Reich erobern sollten.
Es war also wenig opportun für Dudo und seine Zeitgenossen, reine Habsucht oder Abenteuerlust als Motive der ersten normannischen Expansion von Dänemark nach Nordfrankreich darzustellen. Aber auch ein weiterer Chronist des 11. Jahrhunderts, Adam von Bremen, der Verfasser der Hamburgischen Kirchengeschichte (Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum, ca. 1072; IV, 31), dem die Schilderung der skandinavischen Bekehrung ein großes Anliegen war, stellte die Wikingerzüge als aus der Not geborene Unternehmungen dar, zu der die Norweger aus Armut gezwungen wurden und die sie inzwischen wieder aufgegeben hätten, wohl nicht zuletzt, um die inzwischen zum Christentum bekehrten und zur Hamburgisch-Bremer Diözese gehörigen Skandinavier in ein besseres Licht zu rücken.
Noch ein dritter Grund findet sich in den mittelalterlichen Quellen, wenn auch schon mit deutlich größerem zeitlichen Abstand, nämlich die Aussagen der Isländersagas des 13. Jahrhunderts. In ihnen findet sich häufig der Topos, daß die norwegischen Auswanderer nach Island am Ende des 8. Jahrhunderts das unter Harald Schönhaar sich zu einer zentral beherrschten Monarchie entwickelnde Norwegen in der Regel deshalb verlassen hätten, um sich nicht der Königsmacht beugen zu müssen und in Island weiter als freie Bauern leben zu...