Der Finger im Ozean
Der Tanach ist wie ein Ozean, grenzenlos nach allem Maß. Selbst nach Jahrtausenden kann der noch Neues entdecken, der danach sucht, der wagt, in die Tiefe zu blicken, den Finger in das Schwarze zu tauchen.
Der liebende Schöpfer
Der Gott der Bibel ist ein eifersüchtiger und äußerst leidenschaftlicher Zeitgenosse. Wen er liebt, liebt er mit der ganzen Wildheit seines Herzens. Aus seiner Zuneigung macht er keinen Hehl – das Gegenteil: Er wird nicht müde, seine Auserwählten auf penetranteste Weise zu privilegieren, damit die ganze Welt jene Menschen als seine Lieblinge erkennt, an denen er seine Größe demonstrieren möchte. Diese Auserwählten, diese Geliebten Gottes, sind nicht zu vergleichen mit den glattgeschliffenen Heiligen des Christentums, noch mit den holzschnittartig-rohen Charakteren des Griechen- oder Römertums. Stattdessen haben wir es mit echten Menschen zu tun, mit Männern und Frauen, die unsere oft naive Vorstellung vom Auserwähltsein, von Reinheit, von Perfektion und Hingabe, gründlich auf den Kopf stellen. Diese Eigenartigkeit, diese sonderbare Synthese aus Perfektion und Unvollkommenheit erweist sich gerade in ihrer menschlichen, ja allzumenschlichen Natur. Weder sind sie makellos, noch eindimensional. Sie kennen das Böse und das Gute – die verbotene Speise ist ihnen wohl bekommen. Uns begegnen in den Gestalten des Jakob/Israel, des Josef und des David hochkomplexe Persönlichkeiten, die ihren Anteil sowohl am Licht der Übermenschlichkeit wie auch an jener verzehrenden Finsternis haben, die auf dem Grund der Seele lauert.
Dieses Büchlein wird einen dieser Geliebten Gottes näher betrachten: Jakob. Die Dramaturgie seiner jeweiligen Lebens- und Glaubenskontexte wird die Basis einer Deutung bilden, die zum Ziel hat, jene biographischen und charakterlichen Wesenselemente zu enthüllen, die Gottes Liebe ursächlich und notwendig vorausgehen. Für den Gläubigen hat die Untersuchung also einen sehr praktischen Sinn: Sie wird ihm aufweisen, unter welchen Bedingungen er Gottes Wohlwollen gewinnen kann.
Bittere Pillen
Die obligatorische Klage des Propheten: Was tun, wenn zwischen Wahrheit und Wohlgefallen zu entscheiden ist?
Warum, oh Herr, zwingt du mich, dem Volk den Kopf zu waschen?
Sie werden mich steinigen.
Dass die Idee der konditionalen Liebe Gottes wie sie hier vertreten wird, vielen bitter aufstoßen wird, versteht sich von selbst. Dass der Text, den wir als Gottes Wort verstehen – die Tora als Fundament und der Tanach als weiteren Aufbau –, aber gar keine andere Deutung zulässt, ohne ihm dabei Gewalt anzutun, liegt gleichfalls auf der Hand. Der Autor muss nun wählen, ob er den Text oder die Gefühle seiner Leserschaft respektiert. In jeder anderen Konstellation, wäre die Leserschaft, das Publikum, zu bevorzugen. In dieser besonderen aber muss man dem Text gerecht werden, steht doch die Wahrheit und Autorität des Gotteswortes sehr eindeutig über den Befindlichkeiten seiner Adressaten – zu ihrem Nutzen freilich, eine bittere Pille, ein Ende mit Schrecken.
Imago Dei – Warum Gott liebt, wen er liebt
Das größte Missverständnis aufgeklärter Religionen ist die abstruse Behauptung, die Liebe Gottes wäre universal, abstrakt und auf die ganze Menschheit, ja Schöpfung, d.h. nicht auf das Individuum, sondern auf die gleichfalls universale und abstrakte Gattung an sich bezogen. Eine solch allumfassende Liebe zu allem und jedem wäre notwendig kalt und tot, sind es doch die Einzelheiten, das Besondere, das Außergewöhnliche, das liebenswert ist und macht. Eine universale Liebe ist undenkbar, da unmöglich. Liebe ist warm und lebendig und konkret und situativ; sie ist wandelbar, sie kann gewonnen und verloren werden. Liebe wird erlebt; sie verwirklicht sich im Erleben. Der Satz „Gott ist die Liebe“ ist gleichbedeutend mit „Gott ist tot.“
Das zweite Missverständnis, das sich ganz konsequent aus der anmaßenden Behauptung einer universalen Liebe Gottes ergibt, ist die Leugnung eines göttlichen Hasses. Gott kann nicht hassen, weil er eben lieben muss. Was lieben? Wen lieben? Alles und jeden und immer. Abstrus und, wenn zu Ende gedacht, unerträglich.
Stellen wir uns einen Mann vor, der einer schwangeren Frau, die er nicht kennt, aus purer Neugier, den Bauch aufschlitzt. Gott liebt ihn! Stellen wir uns den Despoten vor, der Tausende foltern und hinrichten lässt. Gott liebt ihn! Stellen wir uns einen Menschen vor, der sich an Kindern, an Säuglingen vergeht. Gott liebt auch ihn. Schon diese Sätze zu schreiben, erfüllen einen mit Widerwillen. Wie sollte Gott das Böse, das Schlechte, das Verletzende lieben? Ein solcher Gott wäre sein genaues Gegenteil, ein Antigott, ein Aftergott – Satan.
Warum beharrt man aber darauf, Gott einen indifferenten, einen wahllosen Liebeswillen zu unterstellen, eine, wenn man so will, karitative Promiskuität? Dieser berechtigen Nachfrage begegnen die meisten Religionsvertreter mit der arroganten Feststellung, dass der Mensch, der kleine, sündige Mensch, dieses Gewürm, das seine elenden Tage auf dieser elenden Welt verbringen muss, schlicht nicht fähig sei, diese große, reine und bedingungslose Liebe zu begreifen, mit der uns Gott wie eine Prostituierte wahllos beschenkt. Wie kann aber eine Religion behaupten, die Liebe Gottes als Wahrheit, als Faktum erkannt zu haben, wenn der Mensch, d.h. jeder einzelne, unfähig ist, diese Liebe überhaupt zu fassen, d.h. sie zu erleben? Eine Liebe, die nicht erlebt werden kann, ist keine Liebe, sondern nur Begriff, Abstraktion – die stinkende Leiche des Heiligen.
Die Absurdität, die dem Gottsuchenden hier entgegen schlägt, ist atemberaubend. Dass der Atheismus sich in Anbetracht solcher Idiotien wie eine Epidemie verbreiten muss, dass religiöse Systeme selbst in erschreckender Geschwindigkeit erodieren, verwundert nicht. Gott ist tot, hat Nietzsche postuliert, ihr habt ihn getötet: Ihr, die Priester und Theologen jener Lügensysteme, die behaupten, Gott wäre etwas Unfassbares, Abstraktes, unendlich weit Entferntes, dem man sich nur über seine Vertreter – seine Zuhälter – und deren Vermittlungsleistungen (Dogma, Ritual etc.) annähern kann.
Was ist das für ein Gott, der Vermittler braucht? Ist es derselbe, der die Schöpfung ins Werk gesetzt und sie mit einer vollkommenen Ordnung versehen hat? Man kann es kaum glauben und wer ein wenig Verstand und einen Rest gesunden Instinkt besitzt, der glaubt es auch nicht.
Gottes Liebe ist wie er selbst: Klar, luzide, souverän, konkret, d.h. ohne jede Vernebelung, echt, authentisch. Gottes Liebe ist fassbar, man kann sie sehen, fühlen, erleben. Gott liebt, wie wir Menschen lieben: Wild und leidenschaftlich und prätentiös. Seine Liebe ist ungerecht und verzehrend, sie ist mitunter wandelbar und sehr, sehr verletzlich – ein Betrug, eine Enttäuschung genügen, um Zuneigung in Hass und Abscheu zu verwandeln. Aus Segen wird Fluch. Die Furcht Gottes, die jeder kluger Mensch besitzen sollte, ist sehr wörtlich zu verstehen. Man sollte sich vor ihm fürchten, sich fürchten, ihn zu verärgern. Und je mehr man geliebt wird, desto größter sollte die Furcht sein – aus der Höhe fällt man tief oder: Die Furcht ist der Anfang aller Weisheit.
Wie ermisst man diese Liebe Gottes? Was ist ihr Gegenstand? Wie kann man sich ihrer gewiss sein? Das protestantische Dogma von der Auserwählung durch Gott identifiziert das Vorhandensein der Liebe mit dem bereits innerweltlich empfangenen Segen. Wem es gut geht, der ist auserwählt, geliebt, wem es schlecht geht, nun, der hat wohl Zorn und Strafe nicht ohne Grund auf sich gezogen, denn Gott ist gerecht und vergilt jedem nach seinen Wegen. Dieses Dogma ist zwar strukturell richtig – das Auserwähltsein ist faktisch sichtbar –, allerdings zeigt sich die Erwählung nicht im Spiegel innerweltlicher Erfolge, die ja vor Gottes Augen ohnehin keine Bedeutung haben. Der Spiegel ist der Mensch selbst, sein Charakter, sein Innenleben und auch sein Äußeres. Die sozialen und monetären Früchte seiner Privilegierung treten wenn, so erst an zweiter Stelle dazu.
Imago Dei, Abbild Gottes ist der Mensch. Gott erblickt daher in seinem Geschöpf sich selbst und sich selbst liebt er im Menschen – was sollte Gott auch anderes lieben als sich selbst?
Im Spiegel seiner Schöpfung erkennt sich der Schöpfer selbst. Nicht sein Idol erkennt er, kein lebloses, starres, doch vollkommen geformtes Objekt. Nein, sein Abbild ist lebendig wie er selbst und muss es auch sein. Abbild, Spiegelbild – Gleichnis aus Fleisch und Vernunft. Gerade darum hat der Mensch Leben und darum hat er Geist, Seele, Empfindung und endlich auch die gleiche Freiheit, Souveränität und Schaffenskraft, wie sein Schöpfer.
Doch gerade diese Freiheit korrumpiert den Menschen. Er scheitert und fehlt. Er missbraucht seine Macht, um zu tun, was böse ist. Dieses Missbrauchen der Freiheit führt zum Verfall des Menschen. Er vergeht, verkommt, zersetzt sich – er stirbt, denn die Sünde führt notwendig zur Vernichtung.
Stellen wir uns Gott vor einem Spiegel vor: Er blickt hinein und sieht einen schönen Mann, eine schöne Frau. Er beobachtet sein Abbild, wie es denkt, wie es handelt, wie es fühlt, wie es wählt. Mann und Frau verbinden sich. Was getrennt war, wird vereint – ein Fleisch und eine Seele. Der Mann wirkt in der Welt, er ist Segen für andere. Die Frau wirkt in der Welt, sie ist ein Segen für andere. Die beiden nehmen zu, werden groß – inwendig an Weisheit und Liebe füreinander und für den Schöpfer, den sie in ihrem Leben gleichfalls...