Innerhalb des thematischen Rahmens dieser Arbeit halte ich es für dringend notwendig, einen kurzen Einblick in die Lebensweise und ureigenste Kultur der Zigeuner zu geben. In den letzten Jahren ist von vielen Seiten zur Problematik der Zigeuner in unserer Gesellschaft viel unrichtiges geschrieben und gesagt worden. Dies, zu mindest zu Teilen zu korrigieren, ist mein Anliegen.
Da jugendliche Zigeuner in besonderem Maße im Zusammenhang mit ihrem direkten sozialen Umfeld zu sehen und zu bewerten sind, ist es zudem notwendig, einen - wenn auch groben - Über blick über diese Kulturform zu geben.
Ich wurde und werde in Zusammenhang mit meiner Tätigkeit sehr oft auf den Terminus Zigeuner angesprochen. Man verbindet mit diesem Begriff nach wie vor eine diskriminierende Bezeichnung.
Ich möchte mich an dieser Stelle Frau Sobeck [1] anschließen. Sie sagt: "Wir diskriminieren keine Zigeuner, auch dann nicht, wenn wir diese ethnische Gesellschaftsgruppen insgesamt als Zigeuner bezeichnen, und es fühlt sich auch kein Zigeuner, der zu uns kommt und mit uns zu tun hat oder bisher mit uns zu tun hatte, von uns dadurch diskriminiert, daß wir wissen, daß er Zigeuner ist; im Gegenteil, er gibt seine Probleme zu erkennen, die er hat, w e i l er Zigeuner ist. Diese Probleme hat er auch, wenn er sich als "Sinti oder Roma" bezeichnet wissen will." (Sobeck; 1986, S.29) Der Begriff Zigeuner deckt sich im übrigen mit Bezeichnungen im Ausland. Tsigane heißt er in Frankreich, Acigan in Bulgarien, Cygan in Polen, Cigano in Portugal, Tschinghiane in der Türkei etc. (ebd.; S30-31) Nur wer das Wort Zigeuner in geringschätziger und abwertender Bedeutung mißbraucht, diskriminiert die Zigeuner. Der Zigeuner selbst empfindet den Begriff nicht als diskriminierend. Im Gegenteil, z.B. die Bezeichnung Sinte möchte diese Gruppe von den Nichtzigeunern nur dann hören, wenn sie ihnen vertrauen kann. Mehrfach auf dieses Thema angesprochen, versicherten die mir bekannten Zigeuner, daß sie stolz seien, Zigeuner zu sein. Dies würden sie auch nach außen tragen und dazu stehen. Es käme halt darauf an, wie jemand diesen Begriff Zigeuner interpretiert bzw. was er da mit verbindet.
In diesem Sinne möchte ich den in der vorliegenden Arbeit benutzten Begriff Zigeuner weder in Anführungszeichen setzen, noch als Terminus der Diskriminierung verstanden wissen. Der langjährige Kontakt mit Zigeunern hat mich gelehrt, in Hochachtung und Zuneigung über diese Menschen zu sprechen.
Sie sind vor ca. 4500 Jahren aus ihrer Heimat Indien ausgewandert, und haben sich daraufhin in verschiedenen Etappen über die ganze Welt verteilt. Der Name Zigeuner leitet sich ab von Atsingani/Atsinganos. Dies ist eine Bezeichnung einer Gruppe Reisender indischer Herkunft, die im 11. Jahrhundert in Griechenland auf tauchten. Diese Gruppe Reisender hat sich immer als Ethnie in ihrer Kultur und Autonomie unterschieden wissen wollen und sie wünschen, daß ihre Identität gewahrt wird (Sobeck; 1988, S.7-10). Frau Sobeck sagt hierzu: "Zigeuner sind dagegen ethnische Minderheiten mit einer eigenen Muttersprache, dem "Romanes", welches ein Dialekt aus dem Sanskrit ist und von daher auf ihr Ursprungsland Indien hindeutet. ...Ihre Kultur ist schriftlos; ihre Gesellschaftsordnung reguliert sich durch Tradition und mündliche Überlieferung." (ebd.; S.7)
Dies ist wichtig zu wissen, wenn man sich mit der Problematik der Heranwachsenden auseinandersetzt. Der größte Teil der Eltern- und Großelterngeneration ist des Lesens und Schreibens unkundig. Wenn Kenntnisse vorhanden sind, so sind diese rudimentär und zumeist autodidaktisch angeeignet. Den Kindern war und ist es also nicht vergönnt, Hilfe bzgl. dieser Kulturtechniken durch die ältere Generation zu erfahren.
Seit Zigeuner in Deutschland auftauchten, - 1407 erstmals in Hildesheim urkundlich erwähnt - haben sie in vielen unterschiedlichen Berufen und Erwerbstätigkeiten ihren Lebensunterhalt verdient. An dieser Stelle soll jedoch keine Auflistung im historischen Rückblick geschehen. Es ist hier lediglich wichtig zu wissen, daß auch die heute lebenden Generationen traditionsgemäß ein ambulantes Gewerbe anstreben.
An erster Stelle wäre hier der sogenannte Hausierhandel zu nennen. Weitere Tätigkeiten und Erwerbsquellen waren und sind:
Schrotthandel
Autohandel, -reparatur
Antiquitätenhandel
Möbelrestauration
Instrumentenbau und –handel
Teppichhandel
Musik
Schausteller
hier und da auch noch Messerschleifer, Korbmacher und noch vor dem letzten Weltkrieg
Schirm- und Kesselflicker sowie Pferdehändler
An dieser Auflistung wird deutlich, daß die sogenannte "Reiselust" oder der "Wandertrieb", der den Zigeunern als "naturgegeben" an gedichtet wird, aus sozio-ökonomischen Gründen entstanden ist (und deshalb eigentlich nicht mehr so benannt werden sollte). Die oben genannten Tätigkeiten sind aufgrund des Zwangs zur Weiterreise (Vertreibungen) entstanden und haben sich über Jahrhunderte glänzend bewährt. Alle Erwerbstätigkeiten konnten "unterwegs" ausgeübt werden. Überall gab es Kunden, die die beruflichen Fertigkeiten der Zigeuner auch gern in Anspruch nahmen. In den 30er Jahren dieses Jahrhunderts entstand dann ein Kontinuitätsbruch, da die Erlaubnis ein Gewerbe ausüben zu dürfen, von einem festen Wohnsitz abhängig war. Der Zuzug in Ballungsgebiete wurde also initiiert und somit auch die Entwicklung hin zur Seßhaftigkeit.
Es zeigt sich zudem, daß Berufe gewählt werden, die ein hohes Maß an Selbständigkeit gewährleisten. Lohnabhängige Arbeit ist ihnen in der Regel fremd und wird als erniedrigend und nicht mit der Familienkultur der Zigeuner vereinbar angesehen.
Zum Verständnis der Sozialisation des Zigeuners, ist es wichtig, zu wissen, wie das Kind bzw. der Heranwachsende erzogen, angeleitet und in die Gruppe integriert wurde und wird; undzwar deshalb wichtig, weil m.E. die noch zu behandelnde Problematik der Berufsfindung in unmittelbarem Zusammenhang mit den Enkulturationsprozessen steht.
Schoeck definiert Enkulturation als den "... Lernprozeß, durch den ein Individuum allmählich die Kultur seiner Gruppe erwirbt; dazu gehören Wertvorstellungen, Leitbilder, ebenso wie einfache und komplexe Verhaltensmuster. ... Von Enkulturation spricht man, wenn ein Mensch in die Kultur seiner Eltern eingeführt wird, ..." (Schoeck; 1974, S.90).
Gerade dieser erworbene und von Seiten der Eltern eingeführte Prozeß der Eingliederung in die Gruppe, ist ein Prozeß, der sich durch das gesamte Leben eines Zigeuners als permanent prägend zieht.
In der Gesellschaft des Nichtzigeuners finden in der Regel andere Prozesse statt. Die Heranwachsenden gewinnen hier mit zunehmendem Alter an Selbständigkeit und verlangen die Trennung von der Familie. Hier gehört es selbstverständlich zur Sozialisation, daß die Kinder sich von den Eltern lösen und früher oder später ein Leben führen, daß sich von dem der Elterngeneration mehr oder weniger unterscheidet. Die Sozialisation der Kinder ist also weniger durch die Eltern geprägt. Das Individuum und die soziale Umgebung nehmen ebenfalls Einfluß auf die Entwicklung.
Im Gegensatz dazu steht die Gesellschaftsform der Zigeuner. Sie zeichnet sich aus durch Exklusivität und Geschlossenheit. Sie lebt von der Tradition und den mündlich überlieferten Werten und Normen. Darüber hinaus war diese Ethnie geradezu dazu gezwungen, an ihren Kulturgütern festzuhalten, um in Zeiten der Verfolgung und Stigmatisierung überlebensfähig zu sein. "Die Zigeuner als ethnische Minderheit konnten innerhalb der Mehrheitsgesellschaft ihren Fortbestand nur dadurch sichern, daß sie an ihren Traditionen, insbesondere an ihrer Sprache und ihren Wertvorstellungen festhielten, sie pflegten und von Generation zu Generation weitergaben. Sie haben sich niemals staatlich organisiert, sondern grenzen sich von der Majoritätsgesellschaft dadurch ab, daß sie den Familienverband - Großfamilie, sowohl vertikal als auch horizontal - streng und solidarisch zusammenhalten." (Sobeck; 1988, S.43)
Der "besondere" Generationenvertrag umfaßt folgende Merkmale und Spezifika:
Volljährigkeit in unserem Sinne gibt es nicht. Solange der Vater lebt, sind die Söhne ihm gehorsam.
Der Kinderreichtum ist die Sozialversicherung der älteren Generation; alte und kranke Menschen werden weder ausgegrenzt, noch abgeschoben.
Tradition und Brauchtum bestimmen die Lebens- und Gemeinschaftsmaxime; Fremdbestimmung wird abgelehnt; Geschlossenheit ist erstrebenswert, weil...