1. Als meine Söhne verschwanden
Die Sonne hat ihren Zenit kaum überschritten, als sich die schwere Hotelzimmertür für mich öffnet. Mit einem leisen Klack gleitet sie aus dem Schloss, schrappt über den beigegrün gemusterten Teppich.
»Herr Gerhard«, sagt eine scheinbar körperlose Stimme mit arabischem Akzent, »treten Sie ein.« Für den Bruchteil einer Sekunde frage ich mich, ob es klug ist, einen fremden jordanischen Geheimdienstmitarbeiter in einem Hotelzimmer in Frankfurt zu treffen. Ich überlege, wer so etwas tun würde, und außer James Bond und Jason Stratham will mir einfach niemand einfallen. Ich bin aber weder Bond noch Stratham. Ich bin Joachim Gerhard, bis dato ein völlig unauffälliger und unbescholtener deutscher Staatsbürger.
Meine Söhne zogen vor einem Dreivierteljahr los, um in Syrien ihre Glaubensbrüder im Kampf für den »Islamischen Staat« zu unterstützen. Seitdem hat sich mein Leben auf eine Art gewandelt, die ich nie für möglich gehalten hätte. Mit dem Geheimdienst in Hotelzimmern zu sitzen, mit Schleusern Kaffee zu trinken, mit türkischen Polizisten an der syrischen Grenze zu verhandeln – all diese Unternehmungen standen nicht nur sprichwörtlich weit unten auf der Liste meiner Vorhaben, sie standen gar nicht drauf. Mit so etwas rechnet man nicht. Ich habe mein Leben lang gearbeitet, mir ein kleines, erfolgreiches Unternehmen aufgebaut, geheiratet, Kinder großgezogen. Die Kinder, die mir nun auf so furchtbare Art abhandengekommen sind. Doch ich kann und will mich damit nicht abfinden. Ich werde mich weder von meinen Söhnen lossagen, noch in eine Ecke verkriechen und still vor mich hin leiden. Das ist so überhaupt nicht mein Ding. Meine Jungs sind gute Jungs. Ich will nichts entschuldigen oder verharmlosen, und sie werden für alles geradestehen, aber erst müssen sie wieder hier sein, bei mir, zu Hause, und ich soll verflucht sein, wenn ich nicht alles tue, um meine Söhne zurückzuholen.
Bislang war ich nicht erfolgreich. Dieses Treffen hier in dem Hotel ist wieder einmal mit der Hoffnung verbunden, meinen Kindern einen Schritt näher zu kommen.
Entschlossen reiche ich dem Jordanier, der freundlich lächelnd auf mich zukommt, meine etwas schwitzige Hand. Kräftige Finger umschließen sie und drücken fest zu.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagt er strahlend und entblößt dabei zwei Reihen makellos weißer Zähne. Er spricht jetzt Arabisch, und natürlich verstehe ich kein Wort, ich spreche ja noch nicht einmal richtig Englisch. Mehmet, der mich wie bei allen meinen Reisen und Begegnungen begleitet und inzwischen ein unverzichtbarer Freund geworden ist, übersetzt schnell.
»Ich hoffe, dass Sie mir helfen können«, sage ich etwas unbeholfen, aber bestimmt. Der Jordanier ist ein Bekannter des Chefs von Mehmet, den ich seit Jahren kenne. Schon kurz nach der Abreise meiner Kinder vertraute ich ihm an, was passiert war. Der Kontakt zum Jordanier ist ein Gefallen, um den ich nie bitten würde, für den ich aber umso dankbarer bin. Ein Geheimdienst wird meine Kinder ja wohl ausfindig machen können, Krieg hin oder her.
»Das hoffe ich auch, Herr Gerhard«, übersetzt Mehmet. Gemeinsam sehen wir zu Said, so stellt sich der Geheimdienstmitarbeiter vor, auf. Er ist wirklich unglaublich groß, so wie sie in Hollywoodfilmen auch immer sind, lächelt mild und deutet auf einen gepolsterten Sessel.
»Nehmen Sie Platz. Möchten Sie einen Tee?« Ich nicke und setze mich, stütze die Ellenbogen auf die Knie und verschränke meine Finger ineinander. Dampfender Tee in einer Tasse aus weißem Porzellan verströmt einen vertrauten Geruch. So riecht es auch immer, wenn ich im Teehaus sitze, in der Türkei, in Gaziantep. Und warte, sehnsüchtig warte, dass meine Söhne über die Grenze zu Syrien spazieren und direkt in meine offenen Arme laufen, so als hätten wir uns gestern und nicht vor einem halben Jahr das letzte Mal gesehen.
Wütend schlucke ich die Trauer und Verzweiflung hinunter, zumindest versuche ich es. In letzter Zeit gelingt mir das nicht immer.
Said beginnt sofort, recht aufgebracht zu sprechen. Ich werfe Mehmet fragende Blicke zu, doch der nickt nur und sieht besorgt zur Tür.
»Was?«, frage ich nervös. Mittlerweile schaue auch ich immer wieder in Richtung Tür, obwohl ich überhaupt nicht begreife, warum. Mehmet bedeutet mir mit der flachen Hand, noch kurz zu warten. Als Saids Redefluss endet, übersetzt Mehmet nahezu hektisch, was ihm berichtet wurde.
»Der Verfassungsschutz war hier.« Sofort falle ich ihm ins Wort.
»Im Hotel?«
»Warte, ich erzähl es dir ja. Der Verfassungsschutz war hier, im Hotel. Mit zehn oder fünfzehn Leuten. Sie haben gefragt, wie oft ihr euch trefft.«
»Der Verfassungsschutz hat …«
Mehmet unterbricht meine Unterbrechung.
»Achim, Mensch, nun hör doch zu. Said weiß nicht, woher die die Informationen haben, dass du dich hier mit ihm treffen willst. Die sind zur Rezeption und haben ihre Ausweise vorgezeigt und verlangt, dass man ihnen erzählt, wie oft ihr euch trefft. Natürlich haben die Angestellten gesagt, dass sie darüber keine Auskunft geben können.«
»Das will ich auch meinen«, murmele ich und hebe sofort entschuldigend die Hände. »Erzähl weiter.«
»Also. Die an der Lobby haben nur gesagt, dass Said schon hier ist, und dass du noch nicht angereist bist, und dass es nicht Sache des Hotels ist, zu wissen oder darüber zu sprechen, ob ihr euch überhaupt kennt und wie oft ihr hier seid. Die haben gesagt, ihr seid beide sehr gute Kunden und waren wohl auch ein wenig echauffiert, dass man so etwas überhaupt zu fragen wagt. Auf jeden Fall hat dann eine an der Rezeption Said angerufen und ihm erzählt, was gerade passiert.«
»Und er ist dann runter?«, frage ich feixend.
»Natürlich ist er runter«, sprudelt es aus Mehmet heraus, »und dann hat er ihnen den Marsch geblasen. Was ihnen einfiele. Und was sie für ein Verfassungsschutz seien, der so schlampig arbeitet.« Man sollte meinen, dass ein Verfassungsschutz in der Lage ist herauszufinden, ob sich zwei Menschen kennen und wie oft sie sich schon getroffen haben. Telefonisch stehen der Jordanier und ich schon seit Wochen in Kontakt. In Telefonkonferenzen mit Mehmet umrissen wir grob, worum es geht, wer ich bin und wer meine Kinder sind. Der jordanische Geheimdienst weiß vermutlich mittlerweile mehr über mich als mein eigener. Ich lache herzhaft.
»Und dann?«, frage ich, als ich wieder Luft bekomme.
»Dann sind sie wieder gegangen.« Mehmet schnalzt mit der Zunge. »Aber Said wollte, dass du weißt, dass die dich auf dem Kieker haben.«
»Das ist keine große Überraschung«, ich schmunzle. Früher hat sich kaum jemand dafür interessiert, mit wem ich meine Nachmittage verbringe, heute setzen sie eine ganze Polizeistaffel auf mich an. Vielleicht bin ich ja schon ein bisschen wie James Bond, denke ich und atme tief ein.
Doch mit einer Frage kippt meine Stimmung so schnell, dass man es mit einem einfachen Augenblinzeln verpasst hätte. »Said möchte, dass du ihm genau erzählst, was mit deinen Söhnen passiert ist«, sagt Mehmet. Ich nicke. Danach starre ich noch ein wenig auf den Boden, den Teppich und das Muster, ohne es zu sehen. Meine Augen sind dieser Tage wie eine Milchglasscheibe, durch die kaum etwas dringt. Nur das blinkende Display meines Smartphones zerbricht den nebligen Schleier immer wieder, weil trotz allem die Hoffnung, dass es Lukas oder Jonas sind, die dort leuchten, nicht sterben will.
Ich ziehe Fotos aus meiner Jackentasche.
»Das ist Jonas«, sage ich und zeige auf sein fröhliches Gesicht, »und das ist mein Jüngster, Lukas.« Ich schlucke, und das Papier tanzt zwischen meinen Fingern. Sie müssen sich beide wirklich nicht verstecken. Jonas mit seinem markanten Gesicht, den frechen blonden Haaren, die so oft über die himmelblauen Augen fallen. Die hat er von mir. Die breiten, verschmitzten Lippen hingegen von seiner Mutter. Lukas hat dunklere Haare, dunklere Augen, vollere Wangen. Die Lippen sind schmaler, wie meine. Und der Kinnbart lässt ihn immer ein kleines bisschen älter aussehen als seinen großen Bruder.
»Er sagt, sie sehen aus wie gute Jungs«, wenn Mehmet übersetzt, fühlt es sich immer so an, als würde ich einen Film mit Untertiteln gucken. Die fragenden Gesichter, die Sorgen, das Mitleid sind schwer zu deuten, wenn man die begleitenden Worte erst etwas zeitversetzt versteht. Said schaut mich kurz an und redet dann weiter. Der Singsang, den er über den Couchtisch in meine Richtung spricht, fühlt sich weit weg an, so weit wie meine Kinder. Seit sie knapp viertausend Kilometer von mir entfernt sind, ist nichts mehr nah.
»Er möchte wissen, wie und wann sie verschwunden sind«, höre ich Mehmets sanfte Stimme.
»Natürlich«, erwidere ich noch, bevor das Hotelzimmer vor meinen Augen verschwimmt und mein Büro an seiner statt derart real und präsent wird, dass ich meine, den Kalender an der Wand berühren zu können. Das kleine, rote Plastikschiebeding sagt, dass Sonntag ist. Sonntag, der 2. November 2014.
»Ich arbeite oft am Wochenende«, sage ich erklärend. »Dann klingelte das Telefon, Ursula war dran. Ursula ist meine Frau, aber wir leben schon lange voneinander getrennt. Sie ist die Mutter der beiden. Wir haben ein recht gutes Verhältnis, auch nachdem die Beziehung in die Brüche ging. Das war uns immer wichtig. Dass wir eine Familie bleiben.« Said nickt konzentriert.
»Was hat Ursula am Telefon gesagt, Achim?«, fragt Mehmet.
»Sie hat gesagt, dass Luke und Jo weg sind. Dass sie nach Syrien gegangen sind und nicht wiederkommen. Ich habe das natürlich für ausgemachten Unsinn gehalten. Sie hatten...