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Spezifisches Curriculum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung

für die Handlungsfelder Schule, Übergang von der Schule in den Beruf und Berufliche Rehabilitation

VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl324 Seiten
ISBN9783741230295
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert die Teilhabe von Menschen mit Behinderung an einem qualitativ hochwertigen, inklusiven Bildungssystem auf allen Ebenen. Aber was heißt das konkret für blinde und sehbehinderte Menschen? Wie müssen die angemessenen Vorkehrungen gestaltet sein, die - so ein weiteres Ziel - auf allen Bildungsebenen einklagbar sein sollen? Ab wann sind bereitgestellte Finanzmittel die notwendigen und in welcher Quantität und Qualität wird das Kriterium des erforderlichen Personals erfüllt? Für die Beantwortung dieser Fragen gibt es viele Wege; das Buch stellt einen dieser Wege vor. In Zusammenführung der Traditionslinien zur Qualität blinden- und sehbehindertenpädagogischer Prozesse und der Erfahrungen zum Instrument des Expanded Core Curriculum (ECC), insbesondere in den USA, entstanden unter Federführung des Fachverbandes, Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik e.V. (VBS), in den letzten Jahren drei Spezifische Curricula. Es ist das Ziel der vorliegenden Publikation, die drei Spezifischen Curricula aus den Handlungsfeldern Schule, Berufliche Rehabilitation und Übergang Schule-Beruf erstmals gemeinsam vorzulegen. Ergänzt werden die Texte zu den Spezifischen Curricula durch Aufsätze, die illustrieren, kommentieren, unterstützen, anfragen, hinterfragen und ergänzen möchten.

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Leseprobe

Kapitel 1: Zugänge und Verortungen


1.1 Expanded Core Curriculum (ECC) − Erweitertes Kern-Curriculum (Ute Hölscher)


„Aber woran sollte man sonst lernen, wenn nicht an der Vergangenheit?” (Walthes 2003, 171). Um den Ursprung des Spezifischen Curriculums zu verstehen und zu verorten, ist es aufschlussreich, in die Geschichte einzutauchen. Diese beginnt mit der Blindenbildung in Europa, zeichnet sich aber durch eine richtungweisende Entwicklung in den USA aus.

Frühe Geschichte der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik in den USA

Viele wichtige Begebenheiten haben die Blinden- und Sehbehindertenpädagogik in den USA schon vor 1900 beeinflusst. Ihre Programme basieren auf dem Modell von Haüy, der in Frankreich 1784 die erste Internatsschule gründete (vgl. Hatlen 2000). Nachdem Howe in Europa verschiedene Einrichtungen besuchte, gründete er 1829 die erste Blindenschule in den USA, das New England Asylum for the Blind in Boston (später Perkins School for the Blind). Gemeinsam mit der New York Institution for the Education of the Blind, 1931 (später New York Institute for Special Education), und dem Pennsylvania Institution for the Instruction of the Blind in Philadelphia, 1932 (später Overbrook School for the Blind), präsentierten sich diese drei ersten (privaten) Einrichtungen als Pioniere für die nachfolgenden Erziehungs- und Bildungsprogramme für junge Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung. Die Existenz europäischer Internatsschulen und der Trend, Kinder sozial höher gestellter Familien im frühen 19. Jahrhundert in diesen aufwachsen zu lassen, ließ es in den USA logisch und wünschenswert erscheinen, auch dort Blindenschulen als Internatsschulen zu gründen.

Howe kam mit Erkenntnissen aus Europa zurück, die das damalige Schulsystem für Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung in den USA beeinflussten, nachdem diese bis dahin kaum Bildung erwarben und keine Schulprogramme für sie vorgehalten wurden. Zusammengefasst hielten folgende Neuerungen Einzug in die Beschulung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler in den USA:

  • Jedes Kind, welches die Schule besuchte, solle als Individuum betrachtet werden und die Erziehung erhalten, die seinen Fähigkeiten entsprach.
  • Das Curriculum der Internatsschule soll so weit wie möglich dem Curriculum der öffentlichen Regelschule entsprechen, mit zusätzlichen Schwerpunkten auf Musik und Handwerk.
  • Schülerinnen und Schüler sollen darauf vorbereitet werden, ihre Rolle im sozialen und ökonomischen Umfeld ihrer Gemeinschaft einzunehmen.

Howe trat damals auch schon als starker Befürworter für die Beschulung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler in öffentlichen Schulen auf und setzte sich dafür ein, diese gemeinsam mit Sehenden zu unterrichten. Aus geographischen Gründen erkannte er jedoch das Erfordernis der Internatsschulen, da es auf regionaler Ebene nicht ausreichend ausgebildete Lehrkräfte der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik gab.

Bishop (1997) führte in einer geschichtlichen Übersicht auf der 10th ICEVI World Conference aus, dass Inklusion ein neuer Name für eine alte Praxis sei. 1806 sprach sich schon Klein dafür aus, blinde Kinder neben Sehenden in Regelschulen zu beschulen (vgl. u. a. Koestler 1976; Farrell 1956). Mitte des 19. Jahrhunderts gab es in Schottland blinde Schülerinnen und Schüler in Klassen mit sehenden Schülerinnen und Schülern und bis 1878 hatte sich diese Idee in anderen Ländern verbreitet (vgl. Farrell 1956). 1879 unterstützten zwölf blinde Lehrkräfte 200 blinde Schülerinnen und Schüler in öffentlichen Schulen Londons (vgl. Bledsoe 1993). Es sei keine neue Idee, im Bildungsbereich, an Arbeitsplätzen und bei Freizeitaktivitäten blinde und sehbehinderte junge Menschen neben nicht behinderten jungen Menschen zu platzieren.

Bishop warf bei ihrer geschichtlichen Betrachtung eine interessante Fragestellung auf: Wenn Inklusion schon zu der Zeit stattgefunden hat, warum ist dann diese Philosophie in Europa nachfolgend mehr und mehr verschwunden? Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wurden in vielen europäischen Ländern Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung überwiegend an Internatsschulen beschult. Offizielle Gründe waren, es gäbe nicht genügend Schülerinnen und Schüler, die ein spezielles Programm an den regionalen Schulen rechtfertigten, es gäbe zu wenig Lehrkräfte, die diese Kinder unterrichten könnten und es bestehe ein Mangel an spezifischen Materialien. Die nicht offiziellen Gründe vermutete Bishop darin, dass die Gesellschaft zu der Zeit noch nicht bereit war, Behinderung in ihrer Mitte zu akzeptieren. Mehr noch: Entscheidungsträger hatten kein Wissen und Verständnis über die spezifischen Bedarfe von blinden und sehbehinderten Kindern, so dass diese dann keine adäquate Erziehung erhielten, um nach ihrer formalen Schulerziehung am sozialen und ökonomischen Leben teilhaben zu können (vgl. Bishop 1997). Dies erinnert an die heutige Situation in Deutschland, in der bildungspolitische Entscheidungsträger oft über unzureichendes Wissen in Bezug auf die spezifische Pädagogik bei Blindheit und Sehbehinderung verfügen und die Notwendigkeit der spezifischen Unterrichtung bei Blindheit und Sehbehinderung nicht unbedingt erkennen.

Um 1900 verlangten Eltern in Chicago erstmals, die Erziehung und Bildung ihrer blinden Kinder in den Schulen am Heimatort stattfinden zu lassen. Daraufhin wurden Klassen für blinde Schülerinnen und Schüler in regionalen Schulen eröffnet. Um 1915 gab es davon 15 in unterschiedlichen Städten. Auch die Blindenschulen stellten fest, dass sie einigen ihrer Schülerinnen und Schüler nicht immer ausreichend anfordernde Angebote machen konnten, so dass diese für ihren Abschluss in den Schulen vor Ort mit sehenden Schülerinnen und Schülern lernen konnten. Inklusion war eine akzeptierte Philosophie, lange bevor es gesetzliche Vorlagen dafür gab (vgl. Bishop 1997).

Die Phase zwischen 1950 und 1970 hat in den USA die Bildung blinder und sehbehinderter Schülerinnen und Schüler massiv beeinflusst. Plötzlich gab es eine hohe Zahl von blinden und sehbehinderten Kindern aufgrund von Frühgeborenen-Retinopathie (ROP) und eine hohe Zahl mit Mehrfachbeeinträchtigung als Folge einer Rötelnepidemie. Für diese dann erblindeten Kinder wurden die Schulen vor Ort die Schule ihrer Wahl, weil die Blindenschulen dem Ansturm nicht mehr gewachsen waren. Die Zahlen leistungsstarker Schülerinnen und Schüler mit Blindheit reduzierten sich an den fest etablierten und angesehenen Einrichtungen und sie mussten ihre Zugangskriterien ändern, indem sie auch mehrfachbeeinträchtigte Kinder aufnahmen, um weiter existieren zu können. Hätten sich die Blindenschulen damals schon mehr geöffnet, um ihre Kompetenzen in den Schulen vor Ort einzubringen, hätte das öffentliche Schulsystem davon stark profitieren können. Doch so war es mit Problemen konfrontiert, welche so rasch wie möglich neu gelöst werden mussten (vgl. Bishop 1997). Vielerorts wurden Ausbildungsprogramme für Lehrkräfte initiiert, Material und Hilfsmittel hergestellt und die Inklusionsprogramme weiteten sich auf die ländlichen Gebiete aus. Itinerant Teachers (reisende Lehrkräfte) begannen, die öffentlichen Schulen zu unterstützen.

Der Pine Brook Report (AFB 1954), ein Bericht über eine der ersten offiziellen professionellen Zusammenkünfte, die das Problem der Beschulung der vielen, durch ROP betroffenen, blinden und sehbehinderten Kinder ansprach, beschrieb ein State-of-the-Art Servicemodell und ist noch immer Teil der nationalen Gesetzgebung in der Fortsetzung der Schulortwahl (vgl. Hatlen 2000).

1975 wurde das Gesetz Education for All Handicapped Children Act (Public Law 94 - 142) erlassen, welches klar formulierte, dass alle Kinder mit Behinderungen zu einer freien und angemessenen Bildung berechtigt waren. Bishop (1997) stellte als bemerkenswert heraus, dass die Inklusion von jungen Menschen mit Blindheit oder Sehbehinderung schon 20 Jahre vor dieser Gesetzgebung stattgefunden hatte. Ohne die Eltern als Triebkraft wären die Bemühungen um die Umsetzung der Beschulung ihrer Kinder am Heimatort nicht als so wichtig erachtet worden. Diese war demnach wegweisend für die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit anderen Formen von Beeinträchtigung (vgl. Bishop 1997).

Curry und Hatlen resümierten 1988, dass man bis in die 50er und 60er Jahre glaubte, Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung seien in den Schulklassen vor Ort gut aufgehoben, wenn sie die Basiskompetenzen in Braille und Tastschreiben beherrschten. Inklusion fand nach damaliger Ansicht statt, wenn das Kern-Curriculum der entsprechenden Schulart adaptiert werden konnte.

In den frühen 70er Jahren stellte man jedoch fest, dass diesen Schülerinnen und Schülern die Basisqualifikationen in Orientierung und Mobilität (O&M), Lebenspraktischen Fähigkeiten (LPF), sozialer Kompetenz und Berufsorientierung fehlten. Viele waren nicht in der Lage, sich adäquat anzuziehen oder eine Konversation zu führen, ein Scheckbuch auszufüllen, sich für einen Job zu bewerben, adäquat um Hilfe zu bitten etc. Sie waren nicht bereit, in der Welt der Erwachsenen zu leben, weil viele, durch die Sehbeeinträchtigung bedingte Bildungsbedürfnisse ignoriert worden waren. Die ausschließliche Teilhabe am Unterricht sehender Schülerinnen und Schüler erwies sich nicht als Garantie dafür, dass Schülerinnen und Schüler mit Blindheit oder Sehbehinderung Fähigkeiten erwarben, die sie nicht automatisch, so wie sehende Schülerinnen und Schüler, durch visuelle Nachahmung oder Zufall erwerben konnten (vgl. Curry und Hatlen...

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