I. DIE SCHULD DER PHILOSOPHIE AN DEM NIEDERGANG DER KULTUR
Wir stehen im Zeichen des Niedergangs der Kultur. Der Krieg hat diese Situation nicht geschaffen. Er selber ist nur eine Erscheinung davon. Was geistig gegeben war, hat sich in Tatsachen umgesetzt, die nun ihrerseits wieder in jeder Hinsicht verschlechternd auf das Geistige zurückwirken. Die Wechselwirkung zwischen dem Materiellen und dem Geistigen hat einen unheilvollen Charakter angenommen. Unterhalb gewaltiger Katarakte treiben wir in einer Strömung mit unheimlichen Strudeln dahin. Nur mit der ungeheuersten Anstrengung werden wir, wenn überhaupt noch Hoffnung vorhanden ist, das Fahrzeug unseres Geschickes aus dem gefährlichen Nebenarm, in den wir es abtreiben ließen, in den Hauptstrom zurückbringen.
Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war. An der Jahrhundertwende erschienen, unter den mannigfachsten Titeln, eine Reihe von Werken über unsere Kultur. Als gehorchten sie einer geheimen Parole, gingen sie nicht darauf ein, den Stand unseres Geisteslebens festzustellen, sondern interessierten sich ausschließlich dafür, wie es geschichtlich geworden sei. Auf einer Reliefkarte der Kultur zeichnete man uns beobachtete und erfundene Wege ein, die in Berg und Tal des geschichtlichen Geländes aus der Renaissance zum zwanzigsten Jahrhundert führten. Der historische Sinn der Verfasser feierte Triumphe. Die von ihnen belehrte Menge empfand Befriedigung, ihre Kultur als das organische Produkt so vieler, durch Jahrhunderte hindurch wirkender geistiger und sozialer Kräfte begriffen zu haben. Niemand aber nahm das Inventar unseres Geisteslebens auf. Niemand prüfte es auf Adel der Gesinnung und auf Energie zum wahren Fortschritt.
So überschritten wir die Schwelle des Jahrhunderts mit unerschütterten Einbildungen über uns selbst. Was in jener Zeit über unsere Kultur geschrieben wurde, bestärkte uns in dem unbefangenen Glauben an ihren Wert. Wer Bedenken äußerte, wurde erstaunt angesehen. Manche, die auf dem Wege zum Irrewerden waren, hielten inne und lenkten wieder auf die große Straße zurück, weil sie vor dem abseits führenden Pfade Angst hatten. Andere wandelten ihn, aber schweigend. Die Einsicht, die an ihnen arbeitete, weihte sie der Vereinsamung.
Nun ist für alle offenbar, daß die Selbstvernichtung der Kultur im Gange ist. Auch was von ihr noch steht, ist nicht mehr sicher. Es hält noch aufrecht, weil es nicht dem zerstörenden Drucke ausgesetzt war, dem das andere zum Opfer fiel. Aber es ist ebenfalls auf Geröll gebaut. Der nächste Bergrutsch kann es mitnehmen.
Welches aber war der Vorgang bei dem Kraftloswerden der Kulturenergien?
Die Aufklärungszeit und der Rationalismus hatten ethische Vernunftideale über die Entwicklung des Einzelnen zum wahren Menschentum, über seine Stellung in der Gesellschaft, über deren materielle und geistige Aufgaben, über das Verhalten der Völker zueinander und ihr Aufgehen in einer durch die höchsten, geistigen Ziele geeinten Menschheit aufgestellt. Diese ethischen Vernunftideale hatten angefangen, sich in der Philosophie und in der öffentlichen Meinung mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen und die Verhältnisse umzugestalten. Im Laufe von drei oder vier Generationen waren Fortschritte sowohl an Kulturgesinnung wie an Kulturzuständen in einem Maße verwirklicht worden, daß die Zeit der Kultur definitiv angebrochen und in unaufhaltbarem Weitergehen begriffen schien.
Aber um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fing diese Auseinandersetzung ethischer Vernunftideale mit der Wirklichkeit an abzunehmen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte kam sie mehr und mehr zum Stillstand. Kampflos und lautlos vollzog sich die Abdankung der Kultur. Ihre Gedanken blieben hinter der Zeit zurück, als wären sie zu erschöpft, mit ihr Schritt zu halten. Wie ging dies zu?
Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.
Im achtzehnten und im beginnenden neunzehnten Jahrhundert war die Philosophie die Anführerin der öffentlichen Meinung gewesen. Sie hatte sich mit den Fragen, die sich den Menschen und der Zeit stellten, beschäftigt und ein Nachdenken darüber im Sinne der Kultur lebendig erhalten. In der Philosophie gab es damals ein elementares Philosophieren über Mensch, Gesellschaft, Volk, Menschheit und Kultur, das in natürlicher Weise eine lebendige, die öffentliche Meinung beherrschende und Kulturenthusiasmus unterhaltende Popularphilosophie hervorbrachte.
Aber die optimistisch-ethische Totalweltanschauung, in der die Aufklärung und der Rationalismus diese starke Popularphilosophie begründeten, konnte auf die Dauer der Kritik des konsequenten Denkens nicht genügen. Ihr naiver Dogmatismus erregte mehr und mehr Anstoß.
Unter den wankenden Bau versuchte Kant ein neues Fundament zu legen, indem er es unternahm, die Weltanschauung des Rationalismus, ohne an ihrem geistigen Wesen etwas zu ändern, den Anforderungen einer tieferen Theorie des Erkennens gemäß umzugestalten. Schiller, Goethe und andere Geistesheroen der Zeit zeigten in guter und böser Kritik, daß der Rationalismus mehr Popularphilosophie als Philosophie sei. Aber sie waren nicht in der Lage, an Stelle dessen, was sie zerstörten, etwas Neues aufzurichten, das mit gleicher Kraft Kulturideen in der öffentlichen Meinung unterhielte.
Fichte, Hegel und andere Philosophen, die sich, wie Kant, bei aller Kritik des Rationalismus zu seinen ethischen Vernunftidealen bekannten, versuchten eine entsprechende optimistisch-ethische Totalweltanschauung auf spekulativem Wege, d.h. durch logische und erkenntnistheoretische Erwägungen über das Sein und seine Entfaltung zur Welt zu begründen. Drei oder vier Jahrzehnte lang gelang es ihnen, für sich und die anderen die kraftspendende Illusion aufrechtzuerhalten und die Wirklichkeit im Sinne ihrer Weltanschauung zu vergewaltigen. Zuletzt aber empörten sich die unterdes erstarkten Naturwissenschaften und schlugen mit plebejischer Begeisterung für die Wahrheit der Wirklichkeit die von der Phantasie geschaffenen Prachtbauten in Trümmer.
Obdachlos und arm irren seither die ethischen Vernunftideen, auf denen die Kultur beruht, in der Welt umher. Eine sie begründende Totalweltanschauung ist nicht mehr aufgestellt worden. Überhaupt entstand keine Totalweltanschauung mehr, die innere Geschlossenheit und Festigkeit aufwies. Das Zeitalter des philosophischen Dogmatismus war vorüber. Als Wahrheit galt nur die die Wirklichkeit beschreibende Wissenschaft. Totalweltanschauungen traten nicht mehr als feste Sonnen, sondern nur noch als Kometennebel von Hypothesen auf.
Mit dem Dogmatismus des Wissens über die Welt war zugleich der Dogmatismus der geistigen Ideen getroffen. Der unbefangene Rationalismus, der kritische Rationalismus Kants und der spekulative Rationalismus der großen Philosophen des beginnenden neunzehnten Jahrhunderts hatten die Wirklichkeit in doppeltem Sinne vergewaltigt. Sie hatten im Denken gewonnene Anschauungen höher als die Tatsachen der Naturwissenschaft gestellt und zugleich ethische Vernunftideale proklamiert, die die tatsächlichen Verhältnisse in den Gesinnungen und Zuständen der Menschheit durch andere ersetzen wollten. Als die erste Vergewaltigung sich als sinnlos erwies, wurde auch fraglich, ob der andern die bisher zugestandene Berechtigung zukäme. An Stelle des ethischen Doktrinarismus, für den die Gegenwart nur Material zur Gestaltung einer theoretisch entworfenen besseren Zukunft war, trat das liebevolle geschichtliche Verständnis der gegebenen Zustände, dem schon Hegels Philosophie vorgearbeitet hatte.
Bei dieser Mentalität war eine elementare Auseinandersetzung der ethischen Vernunftideale mit der Wirklichkeit wie vordem nicht mehr möglich. Es fehlte die dazu nötige Unbefangenheit. Dementsprechend ging die Energie der Kulturgesinnung zurück. So kam die berechtigte Vergewaltigung der menschlichen Gesinnungen und Zustände, ohne welche das Reformwerk der Kultur nicht vor sich gehen kann, zu Fall, weil sie mit der unberechtigten Vergewaltigung der Weltwirklichkeit verbunden war. Dies ist das Tragische des psychologischen Vorgangs, der sich von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an in unserm geistigen Leben abspielte.
Der Rationalismus war abgetan … mit ihm aber auch die von ihm hervorgebrachte optimistische und ethische Grundüberzeugung von der Bestimmung der Welt, der Menschheit, der Gesellschaft und des Menschen. Weil diese aber noch nachwirkte, gab man sich keine Rechenschaft von der Katastrophe, die eingeleitet war.
Der Philosophie ward nicht klar, daß die Energie der ihr anvertrauten Kulturideen anfing fraglich zu werden. Am Schlusse eines der hervorragendsten, am Ende des neunzehnten Jahrhunderts erschienenen Werkes über Geschichte der Philosophie wird diese als der Prozeß definiert, in dem sich «Schritt für Schritt, mit immer klarerem und sichererem Bewußtsein, die Besinnung auf die Kulturwerte vollzogen hat, deren Allgemeingültigkeit der Gegenstand der Philosophie selbst ist». Dabei vergaß der Verfasser das Wesentliche: daß nämlich früher die Philosophie sich nicht nur auf die Kulturwerte besann, sondern sie auch als wirkende Ideen in die öffentliche Meinung ausgehen ließ,...