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E-Book

Die Schande von Missoula

Vergewaltigung im Land der Freiheit

AutorJon Krakauer
VerlagPiper Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl480 Seiten
ISBN9783492973359
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Die meisten Vergewaltiger kannten ihre Opfer vorher, wodurch die Strafverfolgung und die gerichtliche Suche nach der Wahrheit oft komplex und undurchsichtig ist und die vergewaltigten Frauen ein zweites Mal traumatisiert werden. In seinem neuen Buch beschäftigt sich Jon Krakauer mit Vergewaltigungsfällen in der amerikanischen Universitätsstadt Missoula. Minutiös und doch einfühlsam skizziert er die Ereignisse, die eine ganze Gesellschaft an der Frage nach Recht und Unrecht, Wahrheit und Lüge verzweifeln lassen, er spricht mit den Beschuldigten und den Opfern und schildert packend, wie schmerzhaft die Suche nach Gerechtigkeit und Sühne bei Gericht sein kann. 

Jon Krakauer, geboren 1954, arbeitet als Wissenschaftsjournalist für amerikanische Zeitschriften. Er wurde durch den Millionenbestseller »In eisige Höhen«, in dem er den Überlebenskampf der Bergsteiger am Mount Everest schildert, weltberühmt. Für seine Reportagen wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Auf Deutsch erschienen von ihm außerdem: »Auf den Gipfeln der Welt«, »Mord im Auftrag Gottes«, »In die Wildnis« (von Sean Penn verfilmt). Jon Krakauer lebt mit seiner Frau in Boulder, Colorado.

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Leseprobe

Kapitel 1


Die Firma Office Solutions & Services in Missoula, ein Hersteller von Büromaterial, veranstaltete an 6. Januar 2012 ihre nachträgliche Weihnachtsfeier für das Jahr 2011. Gewissermaßen als kleinen Kontrast zu dem kalten, frostigen Wetter in Montana schmückte die Belegschaft die Räumlichkeiten mit bunten Hawaii-Elementen. Gegen 21 Uhr hatten sich 30 bis 40 Personen eingefunden – überwiegend Firmenmitarbeiter und deren Angehörige –, die sich unterhielten, Gesellschaftsspiele spielten und aus roten Plastikbechern Getränke zu sich nahmen, als eine glänzende Chrysler-Limousine auf den Parkplatz fuhr, der vom Partyraum aus zu überblicken war, und vor den großen, raumhohen Fenstern zum Stehen kam und die Aufmerksamkeit der Gäste auf sich zog. Zwei gut gekleidete Männer mit ernsten Gesichtern stiegen aus und blieben eine Weile neben dem Wagen stehen. »Es war ein sehr schönes schwarzes Auto«, erinnert sich Kevin Huguet, der Inhaber von Office Solutions.

Während er den Wagen bewunderte, fragte einer von Huguets Verkäufern ihn: »Wer sind diese Männer?«

Huguet hatte keine Ahnung. Also ging er nach draußen und fragte: »Kann ich Ihnen helfen?«

»Wir sind von der Polizei von Missoula«, antwortete der Mann, der den Wagen gefahren hatte. »Ich muss mit Allison sprechen.«

»Allison ist meine Tochter«, erwiderte Huguet, den ein ungutes Gefühl beschlich. »Sie müssen mir schon ein bisschen mehr sagen.«

»Ist schon in Ordnung, Dad«, mischte sich die 20-jährige Allison Huguet ein, die ihrem Vater auf den Parkplatz gefolgt war.

Detective Guy Baker, ein 1,95 Meter großer und 113 Kilogramm schwerer Mann, blickte hinunter auf Allison, eine zierliche junge Frau mit hellen Augen und einem Pferdeschwanz. »Ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Wir müssen das nicht hier vor Ihrem Vater erledigen. Wo können wir reden?« Er und Allison gingen ein paar Meter vom Auto weg, um sich ungestört unterhalten zu können, während Detective Mark Blood bei Kevin Huguet blieb.

»Hallo«, sagte Baker zu Allison in einem wärmeren Ton, nachdem sie sich ein Stück weit von den anderen entfernt hatten. Die beiden hatten bereits vor vier Jahren während ihres letzten Jahrs auf der Highschool häufig miteinander zu tun gehabt, als Allison ihn gebeten hatte, bei einem schulischen Projekt als ihr Mentor zu fungieren. Es war für beide eine schöne Erfahrung gewesen. Detective Baker erklärte Allison, warum er sie während der Weihnachtsfeier der Firma aufsuche. »Ich hielt es für wichtig, es Ihnen so schnell wie möglich persönlich mitzuteilen. Vor ungefähr einer Stunde habe ich Beau Donaldson verhaftet. Er hat ein volles Geständnis abgelegt und befindet sich jetzt im Gefängnis.«

Allison traten Tränen der Erleichterung in die Augen.

Drüben beim Auto wurde Kevin Huguet allmählich ungeduldig, als er beobachtete, wie sich Allison und Baker unterhielten. »Also ich will jetzt wissen, was da vor sich geht«, sagte er nach einigen Minuten zu Detective Blood. »Das ist meine Tochter, und ich will wissen, was hier los ist.« Kevin setzte sich in Bewegung und ging hinüber zu Baker.

»Ihre Tochter hat nichts verbrochen«, sagte Baker. »Es handelt sich um nichts dergleichen.« Dann wandte sich der Polizist wieder zu Allison und sagte: »Ich glaube, Sie sollten jetzt wirklich mit Ihrem Vater reden und es ihm sagen.«

Allison schaute ihren Vater an und erklärte mit zitternder Stimme: »Beau hat mich vergewaltigt.«

Kevin stand wie benommen auf dem kalten Gehweg. Er versuchte, zu begreifen, was seine Tochter gerade gesagt hatte, und legte die Arme um sie. Als er sie in den Armen hielt und allmählich zu verarbeiten begann, was Beau Donaldson ihr angetan hatte, verwandelte sich Kevins Schock in blinde Wut.

»Ich dachte, er würde zu Beau laufen und ihn umbringen oder ihm sonst etwas antun«, erzählte mir Allison, als sie sich an die Ereignisse dieses Abends erinnerte.

Beau Donaldson, der zum Zeitpunkt des Vorfalls in seinem dritten Jahr an der University of Montana war, spielte im Footballteam der Hochschule. Allison Huguet hatte ein Stipendium für die Eastern Oregon University. Sie waren beide in Missoula aufgewachsen und seit der ersten Klasse unzertrennlich gewesen, doch aus ihrer Freundschaft war nie mehr geworden.

Donaldson nannte Allison Huguet oft seine »kleine Schwester«, und dieses Gefühl wurde von ihr auch erwidert. In ihrer Kindheit und Jugend war Beau Donaldson für Allison gewissermaßen der Bruder gewesen, den sie nie gehabt hatte. In den vergangenen 16 Jahren hatten Allisons Eltern Beau Donaldson wie ein Familienmitglied behandelt. »Das ganze Leben lang ist man damit beschäftigt, seine Kinder zu beschützen, wenn man welche hat«, erklärte mir Kevin Huguet. »Aber wer rechnet damit, dass der Freund der eigenen Tochter in Wirklichkeit ein Monster ist, das in der Nacht über sie herfällt?«

Allison war ebenso wütend wie ihr Vater, doch ihre Wut war mittlerweile überlagert worden von einer Mischung aus verschiedenen anderen Gefühlen. Donaldson hatte sie am 25. September 2010 vergewaltigt. Sie hatte 15 Monate gewartet und still gelitten, bis sie zur Polizei gegangen war. Während dieser Zeit hatte sie außer ihrer Mutter und zwei oder drei engen Freundinnen niemandem erzählt, dass sie vergewaltigt worden war – nicht einmal ihr Vater und ihre Schwestern wussten davon. Eine solche Zurückhaltung zeigt sich häufig bei Opfern sexueller Gewalt. Nur rund 20 Prozent der Vergewaltigungen werden bei der Polizei angezeigt, was schwer verständlich erscheint, solange man sich nicht näher damit befasst, wie in den USA in rechtlicher Hinsicht mit Fällen sexueller Gewalt umgegangen wird.

Montana ist ein großer, aber relativ dünn besiedelter Bundesstaat. Obwohl Missoula die zweitgrößte Stadt dieses Bundesstaats ist, hat sie nur rund 70 000 Einwohner. Das sympathische und beschauliche Städtchen nimmt auswärtige Besucher sofort für sich ein und bringt nicht wenige dazu, sich schon kurz nach ihrer Ankunft für den Kauf einer Immobilie zu entscheiden. Ungefähr 42 Prozent der Einwohner haben einen Bachelor oder einen höheren Studienabschluss im Vergleich zu 28 Prozent im Rest der USA. Es gibt viele gute Restaurants und lebendige Kneipen. Ein berühmter Forellenfluss, der Clark Fork, rauscht schnell und klar durch die Innenstadt, gesäumt von einer aufgegebenen Bahnlinie, die in einen idyllischen Spazier- und Radweg umgewandelt wurde, der gern von Fußgängern, Radfahrern und Joggern genutzt wird. Südlich des Flusses erstrecken sich die unprätentiösen Wohnviertel der Stadt über ein ausgedehntes Tal, das von fünf Bergketten eingerahmt wird.

Von ihrer Gründung Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts lebte die Stadt hauptsächlich von der Holzwirtschaft im umgebenden Hochland. Vor ungefähr 35 Jahren jedoch geriet die Forstwirtschaft in eine schwere Krise. Die meisten Sägewerke wurden geschlossen, und Holzfäller in schweren Stiefeln und Schutzhosen sah man in der Stadt immer seltener. Eine riesige Papierfabrik pumpte jährlich 45 Millionen Dollar in die lokale Wirtschaft (und erzeugte bisweilen einen giftigen Smog, der sich so dicht über die Stadt legte, dass die Autofahrer tagsüber das Licht einschalten mussten), bis auch sie schließlich 2009 stillgelegt und abgebaut wurde.

Heute ist die University of Montana mit Abstand der größte Arbeitgeber der Stadt. Mit ihren 15 000 Studenten und mehr als 800 Lehrkräften hat die UM, wie sie auch genannt wird, der Stadt mittlerweile ihren Stempel aufgedrückt. In Missoula gibt es auch wesentlich mehr Anhänger der Demokraten als im Bundesstaat insgesamt. Einheimische bemerken gern scherzhaft, in Missoula lasse es sich vor allem deswegen so gut leben, weil es nur 20 Minuten von Montana entfernt liege.

Doch trotz seiner liberalen Grundeinstellung ähnelt Missoula in vielerlei anderer Hinsicht vergleichbaren Städten in den Rocky Mountains. Die Einwohnerschaft besteht zu 92 Prozent aus Weißen, zwei Prozent sind amerikanische Ureinwohner, zwei Prozent Hispanoamerikaner und weniger als ein Prozent Afroamerikaner. Das durchschnittliche Familieneinkommen beträgt 42 000 Dollar. 20 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Die meisten Einwohner Missoulas unterstützen das Recht, Waffen zu tragen, sowie die Forderung, die Bundesregierung solle sich weitgehend aus lokalen Angelegenheiten heraushalten.

Aufgrund der Verbindung des draufgängerischen »Frontier«-Geistes mit den vielfältigen Auswirkungen des Universitätsbetriebs hat sich jedoch in Missoula eine ganz eigene Kultur entwickelt. Die UM, die sich durch ihre Lehrangebote auf den Gebieten der Biologie und der Ökologie bundesweit hervorgetan hat, ist wahrscheinlich aber noch bekannter wegen ihrer Literaturkurse. Für das Creative Writing Program der Universität, das bereits 1920 eingerichtet wurde, waren auch spätere einflussreiche Schriftsteller wie Richard Hugo, James Crumley und William Kittredge eingeschrieben. In einem seiner unvergleichlichen Essays erinnerte sich Kittredge daran, was ihn ursprünglich nach Missoula gezogen hatte:

Ich suchte nach einer echten Welt, in der ich Fuß fassen konnte. Ich wollte jemand sein, den ich verstehen und aushalten konnte – eine romantische Idee, die heute im Westen anscheinend weitverbreitet ist … Die nördlichen Rockies erschienen mir wie ein unentdecktes Land, ein Land voller Geheimnisse, die niemand für sich behalten konnte.

Während eines feuchtfröhlichen Aufenthalts in...

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