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E-Book

Weltentwerfen

Eine politische Designtheorie

AutorFriedrich von Borries
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl120 Seiten
ISBN9783518748961
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR

Früher entwarfen Designer Gegenstände. Heute wird praktisch alles designt: das Klima, Prozesse, Flüchtlingslager. Wenn jedoch alles designt wird, ist es höchste Zeit, Design nicht länger allein nach ästhetischen Gesichtspunkten zu bewerten. Wir brauchen, so Friedrich von Borries, eine politische Designtheorie. Der Mensch ist gezwungen, die Bedingungen, unter denen er lebt, zu gestalten. Geschieht dies so, dass Handlungsoptionen reduziert werden, haben wir es mit Unterwerfung zu tun.

In seinem Manifest plädiert von Borries für ein entwerfendes Design (des Überlebens, der Gesellschaft, des Selbst), das sich der totalitären Logik der Versicherheitlichung entzieht und gegen die Ideologie der Alternativlosigkeit neue Formen des Zusammenlebens imaginiert.



<p>Friedrich von Borries, geboren 1974 in Berlin, ist Architekt. 2008war er Generalkommissar des Deutschen Beitrags auf der Architekturbiennale in Venedig. Er lehrt als Professor für Designtheorie und kuratorische Praxis an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg.</p>

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Leseprobe

ÜBERLEBENSDESIGN


2  Überlebensdesign ist das Design von Überleben.


Der Mensch gestaltet, um zu überleben. Er gestaltet gegen die Lebensbedrohung, gegen die ständige Gefahr des Todes an. Dieser Gefahr ist er ausgesetzt, solange er lebt – als entwerfendes Wesen an sich, beim Entwerfen selbst und bei dem Versuch, andere zu unterwerfen. Die Formen des Überlebens, auf die sich Überlebensdesign bezieht, sind sowohl individuell als auch kollektiv, permanent und situativ bedingt. Auf den ersten Blick ist Überlebensdesign per se entwerfend – schließlich sichert es das Überleben. Aber wie alles Design kann Überlebensdesign sowohl entwerfend als auch unterwerfend sein, je nachdem, in welchem Zusammenhang es eingesetzt und für welche Zwecke es instrumentalisiert wird.

2.1  Gegenstand von Überlebensdesign sind die Lebensgrundlagen.


Überleben ist nicht bedingungslos. Es ist bedingt durch die Verfügbarkeit von Lebensgrundlagen: von Luft, Wasser und Nahrung. Die Gestaltung des Zugriffs auf diese Lebensgrundlagen ist grundlegender Gegenstand von Überlebensdesign. Die Gestaltung dieses Zugriffs ist ein Spiegelbild jeder Gesellschaft, weil jene zeigt, welche Überlebenschancen diese welchen Teilen ihrer Bevölkerung zubilligt.

Luft

Nichts scheint selbstverständlicher gegeben und zugleich ungegenständlicher als Luft. Luft ist um uns, Luft ist immer da, Luft existiert grenzenlos, und daher ist sie ein Symbol für Freiheit. Allerdings wird saubere Luft heute nicht mehr mit Freiheit für alle assoziiert. Sie ist zu einem Privileg geworden.21 Sowohl saubere als auch verschmutzte Luft werden als Waren gehandelt; saubere Luft kann man kaufen, genau wie das Recht, sie zu verschmutzen. Die Verschmutzung von Luft ist keine unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene Folgeerscheinung von Industrieproduktion und Massenkonsum, die mit Maßnahmen zur Luftreinigung behoben werden könnte, sondern ein bewusstes Instrument der Unterwerfung: Folgt man dem Philosophen Peter Sloterdijk (*1947), so gehörte zur Gestaltung der Luft von Anfang an auch deren gezielte Verschmutzung.22 Der – das Überleben ermöglichenden – Verbesserung von Luft steht die bewusste – lebenserschwerende oder gar tödliche – Verschlechterung von Luft gegenüber. Das Design von Luft er- und verunmöglicht Überleben.

Wasser

Wasser ist die Grundlage allen Lebens. Die Versorgung des Menschen mit sauberem Wasser war in allen Hochkulturen eine zentrale Gestaltungsaufgabe – man denke nur an die römischen Aquädukte oder die arabischen Bewässerungsanlagen. Auch in der Gegenwart ist Wassermangel ein Problem, dem mit großem technischem und logistischem (sowie militärischem) Aufwand begegnet wird. Nicht nur die Versorgung mit Trinkwasser ist überlebenswichtig: Wasser bedeutet immer auch die Möglichkeit von Hygiene, oder umgekehrt: Die Abwesenheit von bzw. der Mangel an Wasser führt häufig zu hygienischen und damit zu gesundheitlichen, oft lebensbedrohenden Problemen. Dem Design kommt bei der Gestaltung der notwendigen Ver- und Entsorgungsinfrastrukturen eine zentrale Rolle zu.

Nahrung

Laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen leidet heute jeder achte Mensch auf der Welt Hunger, während in den reichen Ländern ein Nahrungsmittelüberschuss produziert wird. Vor dem Hintergrund einer stetig wachsenden Weltbevölkerung stellen sich Fragen nach dem Design von Ernährung radikal neu – Gen- und Biotechnologie bieten Gestaltungsmöglichkeiten, mit denen sich bislang nur wenige Designer beschäftigen und für deren Bewertung noch kaum Kriterien zur Verfügung stehen. Die Zubereitung und Aufnahme von Mahlzeiten sind Kulturpraktiken, die nicht nur der Versorgung des Körpers mit Energie, sondern auch der Herstellung von (kollektiver) Identität dienen. Deren Gestaltung ist eine Form von Design, die zum Gesellschaftsdesign führt.

2.2  Überlebensdesign antwortet auf Gefährdungen der Lebensgrundlagen.


Überlebensdesign antwortet auf unterschiedliche Formen der Lebensbedrohung und reicht deshalb über eine Auseinandersetzung mit den Lebensgrundlagen hinaus. Es ist strukturell reaktiv: Ist eine lebensgefährdende Situation eingetreten, stellt das Überlebensdesign Instrumente zur Verfügung, um darauf zu reagieren.

Existenzielle Lebensbedrohung

Der Mensch versucht, in einer von ihm als feindlich erlebten Umgebung zu überleben. Er entwickelt Werkzeuge und Techniken, um sich in dieser feindlichen Umwelt neue Lebensräume zu erschließen, im Extremfall sogar in Wüsten, Hochgebirgen und Eislandschaften. Er versucht, durch Design das Unbewohnbare bewohnbar zu machen. Die Kleidung oder das Haus schützen ihn vor einer Umgebung, in der er von sich aus nicht überleben könnte. Indem er sich entwirft, versucht er, existenziellen Gefahren zu entgehen, setzt sich aber als expansives Wesen gleichzeitig neuen Gefahren aus. Leben ist lebensgefährlich. Auf dieser grundlegend-existenziellen Ebene betreibt der Mensch immer Überlebensdesign. Alles Design ist Überlebensdesign.

Situativ-individuelle Lebensbedrohung

Unabhängig von der grundlegend-existenziellen Dimension des Überlebens stellt der Mensch bewusst oder fahrlässig Situationen her, in denen das Überleben von Einzelnen oder Gruppen gefährdet ist. Kriege oder Umweltkatastrophen sind dafür Extrembeispiele. Sie erfordern Instrumente des Überlebens wie Bunker, Schutzanzüge, Gasmasken, aber auch im Alltag gibt es lebensgefährliche Situationen, vor denen uns dann zum Beispiel Airbags oder Schwimmwesten schützen sollen. Diese Designprodukte sind Überlebenswerkzeuge für durch menschliches Handeln erzeugte Not- und Extremsituationen.

Permanent-kollektive Lebensbedrohung

Weitet sich die situativ-individuelle Notsituation in Raum und Zeit aus, wandelt sie sich zu einer permanenten, kollektiven Bedrohung. Neben der grundlegend-existenziellen und der situativ-individuellen Ebene von Überlebensdesign provoziert der expansive Charakter des menschlichen Gestaltungswillens permanent Situationen, die lebensbedrohend sind. Überlebensdesign bezieht sich dann nicht mehr auf die Ausnahmesituation, sondern auf einen langandauernden Prozess oder einen permanenten Zustand.

Auch um diese zu bewältigen, entwickelt der Mensch Werkzeuge und Techniken, die ihm das Überleben in den selbstgestalteten Situationen ermöglichen. Die von ihnen ausgehenden Gefahren und Gefährdungen betreffen nicht nur das Individuum, sondern das Kollektiv. Alle im Kontext ökologischer Nachhaltigkeit und einer Vermeidung von Klimawandel etc. verorteten Designprojekte, alle Architektur, alle Stadtplanung, die sich mit Ressourceneffizienz, Energieeinsparung usw. auseinandersetzt, sind Formen eines solchen kollektiven Überlebensdesigns, weil sie ein direkter Beitrag zum Überleben der Menschheit sein wollen. Ein solches Überlebensdesign entzieht sich dem Situativen, weil es sich über das eigene Überleben im Hier und Jetzt hinaus auf das zukünftige Überleben der Menschheit bezieht.

2.3  Überlebensdesign richtet sich am Defizitären aus.


Wesenszug von Überlebensdesign ist, dass es sich immer am Defizitären orientiert. Seine Perspektive ist nicht das Leben, sondern das Ende des Lebens: der Tod. Das gegen das Defizitäre gerichtete Überlebensdesign ist von Angst geprägt. Es entspringt der Erfahrung des Scheiterns, weil es eine menschliche Eigenschaft ist, die Möglichkeiten des Machbaren bis an die Grenzen des Zusammenbruchs – oder eben über sie hinaus – auszureizen. Ständig müssen Mängel behoben werden. Dieses Arbeiten am Mangel entspricht der Vorstellung des Menschen als Mängelwesen, wie sie der Philosoph, Soziologe und Anthropologe Arnold Gehlen (1904-1976) vertreten hat. Gehlen sah im Menschen ein »instinktentbundenes« Mängelwesen, das Institutionen benötigt, um sich in der Welt zurechtzufinden. Aus dieser Perspektive wird Gesellschaftsdesign zu einer logischen Folge des Überlebensdesigns, weil Gesellschaft Ordnungen vorgibt, innerhalb derer das »Mängelwesen Mensch« agieren kann.

Eine andere Perspektive auf die Begrenztheit des Menschen findet sich bei dem Philosophen und Schriftsteller Günther Anders (1902-1992), der jedoch eine Verschiebung vornahm. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs beschreibt er den Menschen als »antiquiert«. Der Mensch ist der von ihm erschaffenen Welt, den neuen Maschinen, der schnellen Produktion, den rasenden technischen Entwicklungen, den Massenvernichtungswaffen und deren Handhabung nicht gewachsen. Die Entwürfe des Menschen überfordern seine eigenen Fähigkeiten, er kann in der von ihm selbst geschaffenen Welt nicht mehr kompetent agieren. Er beginnt, sich seines Menschseins zu schämen, und fühlt sich »überholt«.

Die Frage nach der Handlungskompetenz des Menschen in der von ihm geschaffenen Welt griff Sloterdijk 2010 auf. Er beschreibt dabei Design als »das Zeug zur Macht« (Sloterdijk 2010), das der hilflose, überforderte, defizitäre Mensch nutzt, um sich die eigene Ohnmacht nicht eingestehen zu müssen und überleben zu können. Macht bedeutet in diesem Kontext vor allem die Fähigkeit, kollektiv und individuell in der Welt, die kein »bequemer Ort« ist (ebd. S.10), überleben zu können. Design ist laut Sloterdijk der Versuch einer Gesellschaft, sich das eigene Scheitern nicht einzugestehen. Deshalb könne man »Design als Souveränitäts-Simulation definieren: Design ist, wenn man trotzdem kann.« (Ebd., S.12)

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