EINFÜHRUNG
VON ROBERT SCHLEIP
Ende 2012 begann in Deutschland die große Faszienwelle. Unser Fascia Research Team an der Universität Ulm wurde überrollt vom Interesse der Journalisten aus verschiedenen Medien. Dazu kamen Anfragen von Sportlern, Trainern, Ausbildern, Physiotherapeuten, Forschern, Ärzten, Kliniken und Verbänden. Inzwischen hat sich das Interesse für die Faszien zu einem regelrechten Hype ausgewachsen: Praktisch jede Volkshochschule in der ganzen Republik hat einen Kurs zu Faszientraining im Programm, es gibt kaum eine Gesundheits- oder Sportredaktion, die das Thema nicht aufgegriffen hätte, und immer mehr Trainingssysteme, von Fitness bis Yoga, beziehen die Faszien mit ein.
Ein Gutes hat die Begeisterung auf jeden Fall: Das Wissen um die Bedeutung der Faszien für unseren Körper und unsere Bewegungen ist ins breite Bewusstsein gedrungen. Natürlich kommt auch Kritik auf: Ist dieses Gewese um die Faszien wissenschaftlich ausreichend begründet? Ist es überhaupt etwas Neues? Oder sind das nicht alles alte Hüte aus der Sportwissenschaft und der bisherigen Bindegewebsforschung? Trainiert man die Faszien nicht automatisch immer mit? Sind die Trainingsprogramme und Übungen wirklich fundiert? Sind positive Effekte belegt? Springen nicht zu viele unqualifizierte Trittbrettfahrer auf, die mehr Schaden anrichten als nutzen?
Faszientraining und Faszienrollen gibt es jetzt überall.
WELTWEITE FASZIENFORSCHUNG SORGT FÜR FORTSCHRITTE
Was die wissenschaftlichen Begründungen angeht, so gibt es weltweit eine Fülle von seriösen Publikationen in hochwertigen Journalen, auf die wir uns beziehen. Die naturwissenschaftliche Seite der neuen Faszienforschung gibt ein überzeugendes Votum für die praktische Umsetzung der Erkenntnisse ab. Belegen können wir das mit neurologischer und physiologischer Grundlagenforschung und Arbeiten aus der Anatomie, der Medizin, der Orthopädie sowie der Bewegungs- und Physiotherapie.
Das große weltweite Interesse und die Aufbruchstimmung in vielen Disziplinen haben sich auch auf unserem jetzt vierten weltweiten Faszienkongress von 2015 in Washington, USA, gezeigt.
Internationaler Faszienkongress in Washington 2015.
Auch unsere eigene Fascia Summer School und Kongressreihe »Bindegewebe in der Sportmedizin« in Ulm sowie viele Vorträge und Kongresse ziehen nach wie vor Fachleute, Praktiker, Forscher und Sportler an. Diese begeben sich auf die Spur der Faszien, weil sie erkennen, dass dieser Baustein in ihrem Gebäude noch fehlt.
Selbstverständlich ist nicht alles Wissen um die Faszien neu. Neu ist aber die wissenschaftliche Phase, in der wir jetzt sind. Neu sind auch viele Methoden, zum Beispiel aus der Molekularbiologie. Es gibt neue Geräte und andere bildgebende Verfahren, etwa die Ultraschall-Elastrografie, die wir als Pilotprojekt in Ulm einsetzen. Neu sind aber vor allem die fachübergreifende Betrachtung und die weltweite Zusammenarbeit. Auf Faszien-Kongressen tauschen sich akademische Forscher, Mediziner und Naturwissenschaftler mit Physiotherapeuten, Masseuren und Trainern aus.
Das hat es so noch nicht gegeben. Bislang herrschte strenge Schulentrennung, heute profitieren die Wissenschaftler von den Praktikern und umgekehrt.
Andererseits stimmt es: Gerade in der Umsetzung für Alltag und Training steht noch nicht alles bombensicher fest. Speziell Athleten, Trainer und Sportwissenschaftler verlangen aber erprobte Verfahren.
Die Untersuchung von Bewegungsabläufen, zum Beispiel mit optischen 3D-Analysesystemen, soll Sportwissenschaftlern helfen, neue Trainingsmethoden zu prüfen.
Für sie muss Neues in erster Linie sicher, in zweiter Linie effizient sein und die Leistung steigern. Sonst wäre die neue Methode eine Verschwendung von Zeit und Geld und außerdem ein Verletzungsrisiko für den Sportler.
Es ist verständlich, dass Profis daher skeptisch sind, was das neue Faszientraining angeht.
MEISTER, ERFAHRUNG, INTUITION: WIE TRAININGSMETHODEN ENTSTEHEN
Doch was wir gerade durchlaufen, ist ein ganz normaler Prozess in der Entwicklung neuer Systeme: Ergebnisse aus der Forschung werden in die Praxis übertragen, Prinzipien werden in Methoden übersetzt und ausprobiert – und zwar bevor sie wissenschaftlich ausreichend untersucht sind. Dabei geht man nach sinnvollen Annahmen und Plausibilitäten vor, und zwar so gut wie möglich, indem man sich auf Forschungsergebnisse stützt, die schon da sind.
Löwen und andere Raubkatzen schlafen oder dösen bis zu 22 Stunden am Tag, beobachtete Arthur Jones. Woher kommt ihre Kraft?
Viele Trainingsmethoden sind so entstanden: Sportler und Trainer erhielten Anregungen und Inspirationen aus der Wissenschaft oder auch aus einem ganz anderen Bereich und probierten einfach etwas Neues aus.
Die weitaus meisten Methoden wurden sogar intuitiv oder aus langer, traditioneller Erfahrung heraus entwickelt und erweitert – ganz ohne moderne Wissenschaft. Das gilt für alte Künste wie die asiatischen Kampfsportarten, aber auch für neue Trends wie etwa das enorm erfolgreiche Konzept der Functional Fitness.
Viele solcher Trends werden nur in Form von sogenannten Meisterlehren weitergegeben, ganz ohne Theorie, teilweise sogar ohne Bücher, Lehrpläne und Texte. Das ist übrigens eine ganz traditionelle Form der Vermittlung von Wissen, ohne theoretische Fundierung durch das, was man Wissenschaft nennt.
Interessanterweise gilt diese Entwicklung gerade auch für das Krafttraining: Arthur Jones, Fitness-Revolutionär und Begründer des modernen High-Intensity- und Gerätetrainings, hat seine Überlegungen zu einem kurzen, intensiven Krafteinsatz aus eigenen Beobachtungen in der Natur hergeleitet. Er war Tierfilmer und Tierhändler ohne Berufsausbildung, oft auf Safaris in Afrika unterwegs und weder Arzt noch Sportwissenschaftler.
Modernes Studio: Die Anfänge liegen in den 1960er-Jahren.
Das stundenlange eintönige Wuchten von Hanteln, bis in die 1970er-Jahre in Kraftsport und Bodybulding üblich, erschien ihm unplausibel angesichts der kurzen, effizienten Kraftanstrengungen von Tieren. In Afrika hatte er beobachtet, dass Löwen fast den ganzen Tag scheinbar faul herumliegen, aber offensichtlich leistungsfähige Muskeln haben: Bei der Jagd entwickeln sie plötzlich Spitzenkräfte. Anscheinend genügt den Tieren eine kurze Zeit hochintensiver Anstrengung, um ihre Muskeln fit zu halten.
Jones entwickelte sein Nautilus-Gerät, die erste moderne Kraftmaschine überhaupt, in den 1960er-Jahren dann völlig ohne das, was man eine wissenschaftliche Überprüfung nennen würde. Doch seine Erfindung ebnete den Weg für das moderne Fitness-Training, bei dem sich Kraft- und Muskeltraining aus der leicht anrüchigen Nachbarschaft der Gewichtheber und Bodybuilder komplett befreite. Bis diese Art von Gerätetraining auch wissenschaftlich untersucht werden sollte, vergingen noch viele Jahre.
ENTWICKLUNG IM DIALOG MIT PRAKTIKERN UND FORSCHERN
Wir sehen uns mitten in einer solchen Entwicklung. Die soliden Grundlagen der modernen naturwissenschaftlichen Faszienforschung, Ergebnisse aus Tierstudien sowie – natürlich – die Erkenntnisse aus Sport- und Trainingslehre, außerdem viele Jahre Erfahrung von Trainern und Therapeuten kann man jetzt mit dem Faszienaspekt verbinden und sinnvoll ergänzen. Es gibt also viele Ansatzpunkte, um bestehende oder alte Verfahren zu verbessern und Neues zu entwickeln. Es macht also mehr als Sinn, die neuen Impulse aus der Grundlagenforschung des Bindegewebes auf das Krafttraining zu übertragen und unser Wissen um die Faszien mit praktischen Methoden zu verknüpfen.
Deshalb experimentieren wir – im Dialog mit Sportwissenschaftlern, Trainern, Athleten und vielen Experten. Unsere Erkenntnisse wenden wir auf viele Bereiche an, darunter Kraftsport, Trainingswissenschaften, Regeneration, Rehabilitation, Schmerztherapie, Bewegungstherapie, Aufbautraining nach Verletzungen, Nachsorge nach Operationen und andere mehr. In allen diesen Bereichen kann der gezielte Blick auf die Faszien eine hilfreiche Ergänzung sein. Manchmal ist er sogar der Schlüssel zu lange bestehenden Fragen und Problemen.
Gleichzeitig setzen wir uns mit unserem Übungsprogramm aus der Fascial Fitness Association der öffentlichen Diskussion mit Kollegen, Fachwelt und Klienten aus. Jeder kann die Übungen sehen, selbst durchführen und sagen, was er daran für gut oder nicht so gut hält. Das wird sowohl in der Fachwelt als auch von Sportlern und Praktikern in Verbänden wahrgenommen.
Die österreichische Fußballnationalmannschaft regeneriert sich nach dem Training mit einer BLACKROLL.
Vielleicht haben wir deshalb so viele Anfragen aus dem Bereich Leistungssport bekommen. Diese Anfragen, viele Seminare und Vorträge, Diskussionen und eigene Experimente haben mich jetzt dazu bewegt, mich dem Faszien-Krafttraining zuzuwenden.
Dass dieses Thema irgendwann auf dem Radar der Faszienforscher erscheinen würde,...