Wolfgang Sützl
Teilen. An der Grenze des Tausches
Inmitten des Lärms um sharing economy und social media ist selten die Frage zu vernehmen, welche Bewandtnis es mit dem Teilen selbst eigentlich hat. Was sagen wir, wenn wir sagen, wir »teilen«? Dass das Teilen selbst vertrauter und alltäglicher Vorgang ist und nicht als etwas Besonderes wahrgenommen wird, schafft leicht das Gefühl, hier gebe es nichts zu wissen.
Verbraucherforscher Russell Belk hat mehrere Gründe genannt, weshalb das Teilen auch als Forschungsgegenstand lange vernachlässigt worden ist: Da ist die verbreitete Annahme, Menschen handelten vorwiegend aus rationalem Eigeninteresse. Da ist die Zuordnung des Teilens zum privaten und intimen Bereich des Lebens, die Welt der Familie und der Kinder, dessen Trennung von den »großen« Themen der Gesellschaft einer altbekannten Gender-Logik folgt.[1]
Lange galt auch, das Teilen sei eine frühe, »primitive« Stufe auf einem Entwicklungsweg hin zum ökonomischen Tausch. Von der Aneignung geteilten Landes durch europäische Eroberer bis zum kolonialen Rechtfertigungsdiskurs des 19. Jahrhunderts, vom englischen Enclosure Act[2] bis zum Entwicklungsdenken des 20. Jahrhunderts lassen sich die Spuren einer Haltung verfolgen, die das Teilen als Indikator von Rückständigkeit begreift und den ökonomischen Tausch als Voraussetzung für Fortschritt und Aufschwung sieht.
Seit einigen Jahren wird indessen das Teilen in Form der sharing economy und Social-Media-Sharing als Durchbruch zu einer effizienteren und sogar gerechteren Wirtschaft gefeiert.[3] Der Widerspruch zwischen dieser und der früheren Haltung ist nur ein scheinbarer. Das gleichzeitige Feiern und Ablehnen des Teilens ist ein Hinweis darauf, dass das ökonomische Denken des Tausches in Bereiche vorgedrungen ist, die dem Wirtschaften fremd sind. Das Lob des Teilens wird mitunter dort am lautesten, wo gar nicht geteilt wird.
Im Folgenden wird das Teilen daher als jenes Andere des Tausches behandelt, das sich nicht in Begriffen des Gebens und Nehmens fassen lässt und daher mehr mit dem menschlichen Dasein selbst zu tun hat als mit ökonomischen Mehrwert produzierenden Abläufen. Im Teilen liegt die eigentliche Möglichkeit des Seins-mit-Anderen, des Miteinanders. Es bildet jene Grenze des Tausches, an der die Frage nach Gemeinschaft mit anderen gestellt werden kann.
Verfemter Teil und unmöglicher Tausch
Dass Gesellschaft, Wirtschaft und Moral auf der Grundlage von Tauschverhältnissen begriffen werden – Reziprozität, Vergeltung, Geldverkehr –, ist nicht neu. Doch der Verdacht, dass es mit dem Tauschen irgendwo ein Ende hat, dass es ein Jenseits des Tausches geben muss, hat sich nie ganz abschütteln lassen.
Schon Nietzsches Unmut galt dem »Geist der Zurückzahlung«, der in der europäischen Moral herrschte. Zahlen und das Heimzahlen bilden die Mechanik der westlichen Moral, aber auch der kapitalistischen Wirtschaft. Eine andere, »transkapitalistische« Ökonomie, so Peter Sloterdijk nach Nietzsche, gründe jedoch auf der These, dass das »Zurückzahlen von Wert eine Fiktion ist, die aus dem zwanghaften Gebrauch des Schemas der Gleichwertigkeit entspringt«.[4] Dementsprechend gelte es, durch »stiftende, gebende, überschießende Gesten« dem Schuldigwerden und Schuldigmachen zuvorzukommen, zu denen auch die moralisch unverzichtbare Geste des Verzeihens gehört.[5]
Eine frühere Form dieses Denkens findet sich bei Bataille, der zu den Ersten gehörte, die in Nietzsches Ablehnung des Prinzips der Rückzahlung eine Kritik der kapitalistischen Tauschökonomie erkannten. Bataille sah, dass die Vorherrschaft des ökonomischen Tauschprinzips jene Bereiche der Kultur verdunkelte, in denen dieses Prinzip nicht anwendbar ist. Daher sein Interesse am Obskuren, am Verbotenen und Ungeheuerlichen. In Batailles Versuch einer »allgemeinen Ökonomie«, in der Notwendigkeit lediglich in der Verausgabung selbst existierte: im Verbrauch von Energie ohne Wachstumswirkung und Äquivalenz. Es ging ihm nicht um eine »andere« Ökonomie, sondern darum, die Grenze des Ökonomischen selbst sichtbar zu machen.[6]
Baudrillard unternimmt es mit seiner These des »unmöglichen Tausches« ebenfalls, die Grenze des ökonomischen Tausches zu bezeichnen.[7] Für ihn ist der Tausch universal: Alle unsere Begriffe führen früher oder später auf ihn zurück. Der Wert und damit die Möglichkeit, von einem zum anderen überzugehen, bestimmt letztlich, was als »existierend« wahrgenommen wird. Dabei ist der Tausch nicht endlos: Er stößt dort an eine Grenze, wo etwas »derart einzigartig ist, dass es gegen keine wie auch immer geartete Rationalität ausgetauscht werden kann«.[8] Der unmögliche Tausch ist daher für Baudrillard die radikalste Form des Schicksals, wie es sich etwa im Tod manifestiert, aber im Prinzip in jeder irreparablen Unterbrechung des Tausch-Kreislaufs. In der Expansion des Kapitals, dem Wirtschaftswachstum, stößt man daher zwangsläufig an diese Grenze des Unmöglichen. Jenseits davon gibt es nur noch die »virtuelle Realität«, jenes phantastische allgemeine Äquivalent, das es ermöglicht, alles am reduzierten Maßstab des Binären zu messen.[9]
Es ist kein Zufall, dass digitale Computernetzwerke von Anfang an auf dem Teilen aufgebaut haben. Vom Timesharing in der frühen Computertechnologie und Shared File Access zum Disksharing in der PC-Ära bis zum Filesharing auf Web 2.0, die Computergeschichte dreht sich um das Gemeinsame an den digitalen Daten.[10] Diese lassen sich schwer als Ware begreifen, die der Tauschökonomie angehören, denn sie sind von Anfang an »über-flüssig«, immer schon eine Kopie und mit dem Knappheitsdenken uneins. Yochai Benkler, der Theoretiker der Commons-based Peer Production, hält in The Wealth of Networks fest, dass »digitale Dateien überall dort repliziert werden, wo sie genutzt werden, wodurch sie zunehmend ubiquitär werden, nicht knapp«.[11] Digitale Daten sind »anti-rival«,[12] denn sie werden durch ihren Gebrauch vermehrt. Daher ist auch ein System der Äquivalenzen unmöglich, und Knappheit tritt nur dort auf, wo sie hergestellt wird (technisch, wie durch Digital-Rights-Management-Technologien, rechtlich durch geistiges Eigentum oder sozial durch den Digital Divide).
Das »Wenn-es-sie-gibt« der Gabe
Das »Andere« des Tausches wurde jedoch auch noch am Anfang des Internetzeitalters nicht im Teilen, sondern in der Gabe gesehen.[13] 1925, wenige Jahre bevor Bataille seine erste Schrift zur Verausgabung veröffentlichte, erschien Marcel Mauss’ einflussreiches Werk Die Gabe.[14] Mauss war auf der Suche nach einem Wirtschaftsmodell, das sich mit sozialistischen Vorstellungen besser vertragen würde als die kapitalistische Geldwirtschaft, und dieses Modell war für ihn nicht in der jungen Sowjetunion zu finden,[15] sondern jenseits der europäischen Moderne in der Geschenkkultur »archaischer Gesellschaften«. Doch Mauss kam zu dem Schluss, dass das Geben stets mit dem Zwang verknüpft war, das Gegebene zu erwidern. Die Gabe als soziale Form war letztlich eine Form des symbolischen Tausches und keine »reine« Gabe. Seit Mauss’ Schrift sind die Zweifel an der Gabe nicht mehr aus der Welt zu schaffen gewesen.
Für Jacques Derrida, Leser von Marcel Mauss, ist die Gabe daher niemals nur eine Gabe ohne Wenn und Aber: Sie ist einmal die »Gabe, wenn es sie gibt«, ein andermal die »Gabe als Gabe«.[16] Letztlich muss die Gabe (als Gabe) »anökonomisch« bleiben, dasjenige, was den Kreislauf der Ökonomie unterbricht.[17] Doch die unvermeidbare Tauscherwartung, die durch die Gabe hergestellt wird, bedeutet für Derrida, dass die Gabe als etwas anderes erscheinen muss denn als Gabe. Sie darf nicht als Gabe wahrgenommen werden, sie muss sie radikal »vergessen« werden, bevor eine Wahrnehmung möglich ist und von der Gabe die Rede sein kann. Dieses radikale Vergessen ist in einer Weise die Bedingung der Gabe, welche sie zum Zustand des Vergessens macht, während umgekehrt das Vergessen im Zustand der Gabe ist.[18] Wenn Derrida dieses Vergessen als »nicht psychoanalytisch« und im Individuum beheimatet bezeichnet, dann ist das ein Hinweis darauf, dass das Vergessen der Gabe etwas Geteiltes ist, etwas, das gemeinsam geschehen muss und Gemeinsamkeit stiftet.
Diese geteilte Vergessenheit ist auch in Pierre Bourdieus Untersuchung des Schenkens von Bedeutung. Um die Kultur des Schenkens haben sich gesellschaftliche Praktiken etabliert, die den Tauschcharakter des Schenkens vergessen machen sollen und die Zugehörigkeit der Gabe zu einer Ökonomie des Tausches zu verbergen. Auch der Zeitabstand zwischen dem Schenken und dem Erwidern des Geschenks dient diesem Zweck: Er gibt uns Zeit, das empfangene Geschenk zu vergessen und so den Tauschcharakter der Erwiderung zu kaschieren. Schenkende und Beschenkte arbeiten gemeinsam daran, das Tauschhafte in ihrem Tun zu verbergen.[19] Dafür müssen sie schon etwas geteilt haben: nämlich den Willen zu dieser Vernebelung und die Symbole, die...