Kapitel 1 Der diskrete Charme der Bürokratie
Die Bürokratie hat einen schlechten Namen dieser Tage, gerade die europäische. Wieso eigentlich? Sie ist relativ klein, verwaltet weniger Geld als nationale Bürokratien und wird von den nationalen Staatschefs in Schach gehalten. Trotzdem wird sie gefürchtet wie ein feuerspeiender Drache. Dabei haben wir ihr eine Menge zu verdanken. Früher haben wir Kriege geführt, wenn wir uns nicht einigen konnten, heute lassen wir Konflikte von Bürokraten auskämpfen. Das ist doch eine Errungenschaft, die wir uns ruhig ein paar Euro kosten lassen können.
Herr K. ist ein deutscher Eurokrat der ersten Stunde und hat fast sein ganzes Berufsleben in der Europäischen Kommission zugebracht. Am Anfang war es Enthusiasmus für ein Leben in und für Europa gewesen, später dann eher ein Job. Als ich ihn traf, war er ungefähr 45 Jahre alt, Typ: Oberstufenlehrer; groß, grau und ein bisschen schlapperisch. Anzug und Krawatte hingen immer im Büro, falls er mal zum Direktor musste, aber eigentlich trug er lieber braune Cordjacken. Er hatte eine Frau, Kinder, die in die europäische Schule gingen, und fuhr einen Renault Espace. Herr K. war ein sehr guter Beamter, ein guter Abarbeiter. Er sprach Deutsch, Französisch, Englisch und Holländisch fließend. Russisch lernte er gerade nebenbei.
Nach zwanzig Beamtenjahren war er aber auch zynisch geworden, haderte ein bisschen mit seinem Leben, mit Europa, mit Brüssel, und es umgab ihn ein Hauch von Depression. Doch im Vergleich zu anderen EU-Beamten, die schon fast damit kokettierten, machte ihn dieser Hang zur Melancholie sympathisch. Des Öfteren verglich er die EU mit der Sowjetunion, was mir damals, eben quasi der Sowjetunion entkommen, fast als Blasphemie vorkam. Er meinte damit den sowjetischen Wahn, alles planen und kontrollieren zu wollen, und sah diese Tendenz eben auch zunehmend in der EU. Viele Jahre später hat der bulgarische Politologe Ivan Karstev diesen Vergleich von EU und SU aufgegriffen, als er fragte, welche Lehren die Europäer aus dem Zerfall der Sowjetunion ziehen sollten. Aber jetzt greife ich vor, und so weit reichte Herrn K.’s Kritik damals noch lange nicht, denn es waren ja noch die goldenen Jahre von Kommissionschef Jacques Delors.
Herr K. war mein Mentor in Sachen »Wie wird man Eurokrat?«. Ich hab viel von ihm gelernt, einschließlich der Erkenntnis, dass es besser ist, auszusteigen, wenn man anfängt zynisch zu werden, denn der goldene Käfig der Bürokratie kann in der Tat sehr unglücklich machen, wenn man nur deshalb dort bleibt, weil die Anstellung die Schul- und sonstigen Gebühren bezahlt.
Einige Dinge haben wir auch zusammen gelernt, zum Beispiel, wie man einen Computer bedient. Das meiste haben wir aber noch in alter Buchhaltertradition gemacht. Listen mit Strukturgeldern für Ostdeutschland wurden mit Bleistift und Radiergummi bearbeitet und dabei Millionen von Brandenburg nach Sachsen-Anhalt oder doch besser nach Mecklenburg-Vorpommern verschoben und dann wieder zurück. Heute passiert das sicher alles per Algorithmus. Wer weiß schon, was da besser ist?
Einen Tag nachdem mich mein Vater mit dem Lada in Brüssel abgeladen hatte, traf ich bei der Wohnungssuche auf ein Mädchen in einer roten Cordjacke und mit dazu passendem leuchtenden Lippenstift. Auch sie war Praktikantin bei der EU und suchte ihr Glück in Brüssel. Sie kam aus London und fand mein Ostberliner Englisch lustig. Ich hatte mein Englisch vor allem mit Tom, Peggy und Ms. Loeser vom DDR-Sprachkurs »English for You« gelernt, und offenbar kam das gut an, zumindest bei den ersten zwischenmenschlichen Kontakten. Mit meiner neuen Londoner Freundin stürzte ich mich fortan und Hals über Kopf ins 24/7-Englischlernen und Brüssel-Verstehen. Eine gute Methode, ich kann sie wärmstens empfehlen. Wahrscheinlich hätte es auch ohne »English for You« funktioniert, aber sicher bin ich mir nicht. Heute ist das Mädchen mit der roten Cordjacke meine Frau.
Dann war ich ein Jahr lang Lehrling im Europa-Laden, erst bei der Europäischen Kommission, danach im Parlament. Es war ein praktischer Grundkurs darin, wie Europa funktioniert, zumindest aus Brüsseler Sicht. Jedes halbe Jahr machen 600 junge Menschen ein Praktikum bei der Europäischen Kommission, wenn man die anderen Brüsseler Institutionen noch dazunimmt, sicher 1000, also geschätzte 2000 Europalehrlinge pro Jahr. Das hört sich nicht schlecht an.
Es gab Partys, Dinners, Fußballspiele, Ausflüge ans Meer und in die Ardennen (die belgischen Alpen), Sex und X und Rock ’n’ Roll. Es gab sogar einen Wochenendausflug für alle Praktikanten nach Berlin. Es war eine Tradition, die mit der Teilung Europas zu tun und die überlebt hatte. So konnte ich meinen neuen europäischen Lehrlingsfreunden den Franz-Klub im Prenzlauer Berg und das SO36 in Kreuzberg zeigen und meine neue Freundin bei Kaffee und Kuchen meinen Eltern vorstellen.
Gearbeitet wurde auch, mehr oder weniger. Bei mir eher mehr, und das lag an Herrn K.
Er hatte die Aufgabe, die neuen ostdeutschen Länder in die europäische Regionalförderung einzugliedern, also in das System, das dafür Sorge trägt, dass bedürftige Regionen Geld aus Europa bekommen, im Prinzip vergleichbar mit dem bundesdeutschen Länderfinanzausgleich. Da war es hilfreich, einen Praktikanten zu haben, der wusste, wo zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern überhaupt liegt. Es gab viel zu tun, und das war gut für mich.
Zurück zum EU-Praktikumssystem, das weitaus bedeutsamer ist, als es auf den ersten Blick scheint. Es lockt kontinuierlich viele junge Akademiker nach Brüssel. Dort erhalten sie eine Einführung in das System Europa, das ihr Leben nachhaltig beeinflusst, ob sie nun in Brüssel bleiben oder etwas anderes tun. Es schafft einen Kontext, in dem soziale Netzwerke entstehen, die transnational europäisch sind, meist multidisziplinär und sehr oft geschlechtsübergreifend. Man muss nicht gleich heiraten, so wie ich, aber es ist eine Keimzelle des europäischen Zusammenhalts mit Multiplikationseffekt.
Gillian Tett hat in ihrem Buch The Silo Effect beschrieben, wie der Facebook-Konzern versucht, unter seiner rasant wachsenden Mitarbeiterschaft einen Silo Effect zu vermeiden, also jene Betriebsblindheit, die sich beinahe zwangsläufig einstellt, wenn Menschen gemeinsam an einer Sache arbeiten und darüber vergessen, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Die Lösung ist denkbar einfach. Facebook fördert aktiv übergreifende soziale Netzwerke, und zwar reale, nicht nur virtuelle. Was bei Gillian Tett zu lesen ist, hat mich sehr stark an meine Lehrlingszeit in der Europäischen Kommission erinnert, aber auch an die Berichte von Freunden, die mit mir über die Einführungsprogramme sprachen, die alle zukünftige EU-Bürokraten durchlaufen. Was Tett in ihrem Buch als neu und innovativ preist, ist bei der EU seit Jahrzehnten Praxis. Man bringt Menschen zusammen und achtet darauf, dass Netzwerke unter den Europa-Arbeitern entstehen, die themen- und nationalitätenübergreifend sind und oft ein Leben lang halten. Nur hat noch nie jemand so begeistert darüber geschrieben wie Gillian Tett.
In Brüssel arbeiten ungefähr 33000 der insgesamt 55000 europäischen Beamten, auch Eurokraten genannt. Das klingt nach viel, ist aber auf 500 Millionen Europäer verteilt eine überschaubare Größe, wie der Blick auf eine Stadt wie beispielsweise Berlin zeigt, wo mehr als 250000 Beamte oder Angestellte des öffentlichen Dienstes (darunter 35000 Bundesbeamte) arbeiten. Insgesamt sind in Deutschland 4,5 Millionen Menschen im öffentlichen Dienst beschäftigt, bei 80 Millionen Bundesbürgern ist das eine beeindruckend hohe Zahl, und sie illustriert, dass das oft zitierte und gefürchtete Brüsseler Bürokratiemonster im Vergleich zur deutschen Bürokratie ganz schön mickrig und ungefährlich aussieht. Klar, eine nationale Bürokratie hat auch eine viel größere Bandbreite von Aufgaben zu bewältigen: Dazu gehören z.B. Lehrer und Professoren, die Bundespolizei, die Armee, die Nachrichtendienste. Das alles leistet sich die EU-Bürokratie nicht. Aber dennoch gilt festzuhalten, monströs ist dieser Apparat keineswegs.
Aber wie kann man ihn beschreiben, ohne dass der Leser oder man selbst gleich einschläft? Ich versuch’s mal. Weil es wichtig ist, um zu verstehen, wer was macht und wer dann eigentlich die Entscheidungen trifft. Wer das alles schon kennt, kann die nächsten zwei Seiten überblättern.
Die zentralen Akteure der Europäischen Union sind die Europäische Kommission, das Europäische Parlament und der Europäische Rat. Vereinfacht gesagt, hat Europa ein Zweikammersystem. Das Parlament vertritt die Bürger (vergleichbar mit dem Bundestag), der Europäische Rat die Regierungen der Mitgliedsländer (vergleichbar mit dem Bundesrat) und die Kommission ist die europäische Regierung und Verwaltung (vergleichbar mit der Bundesregierung).
Dann gibt es noch den Ausschuss der Regionen und den Wirtschafts- und Sozialausschuss, beides relativ marginale Organisationen, die aber zumindest Brüssel-Jobs schaffen. Erwähnt man auf einer Brüsseler Party, dass man für eine dieser Organisationen arbeitet, kann man fast sicher sein, dass man im weiteren Verlauf des...