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E-Book

Resonanzpädagogik

Wenn es im Klassenzimmer knistert

AutorHartmut Rosa, Wolfgang Endres
VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl144 Seiten
ISBN9783407290250
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis18,99 EUR
Unter dem Schlagwort der Resonanzpädagogik fasst der Soziologe Hartmut Rosa Grundzüge eines Lernens zusammen, das individualisiert und nachhaltig ist und eine Reflexion und Schulung der Beziehungsfähigkeit aller am Bildungsprozess Beteiligten beinhaltet. In diesem Buch überträgt er im Gespräch mit dem Pädagogen Wolfgang Endres seine Idee der »Resonanz« auf die Bereiche Schule und Bildung. Die beiden Gesprächspartner gehen der Frage nach, wie Schule zum Resonanzraum wird, und erklären, was mit Resonanzpädagogik in der Praxis gemeint ist. Die zweite Auflage wurde ergänzt um ein Nachwort des Erziehungswissenschaftlers und Journalisten Reinhard Kahl. Aus dem Inhalt: Schule als Resonanzraum Motivation durch Resonanzbeziehungen Feedback - Akzeptanz durch Resonanz Kompetenz und Resonanz in Dissonanz Beziehungsbildung im Smartphone-Zeitalter

Hartmut Rosa, Jg. 1965, Prof. Dr., ist Professor am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Theorien der Moderne, Zeitsoziologie, Kommunitarismus. Er war zudem schon mehrfache Akademieleiter der Deutschen SchülerAkademie. Wolfgang Endres, Pädagoge und Referent in der Lehrerfortbildung, ist Gründer des »Studienhauses am Dom« in St. Blasien. Er hat die »Endres-Lernmethodik« entwickelt und ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen bei Beltz. Reinhard Kahl gehört zu den bekanntesten Bildungsjournalisten in Deutschland und schreibt regelmäßig für die ZEIT, die taz und für die Zeitschrift PÄDAGOGIK. Insbesondere seine Filme zum Thema Bildung sind einem großen Publikum bekannt. Er ist Begründer des bildungspolitischen Netzwerks AdZ - Archiv der Zukunft.

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Leseprobe

Knistern im Klassenzimmer!? Meint das, dass da etwas spannend ist oder bezieht sich der Ausdruck auch auf eine angespannte Atmosphäre, auf »dicke Luft«?

In der Tat beides. Wenn es dem Lehrer gelingt, die Aufmerksamkeit seiner Schüler so zu fesseln, dass es im Klassenzimmer »knistert«, entstehen Momente des wechselseitigen geistigen Berührens und Berührtwerdens. Auch wenn es knistert, weil ein Konflikt im Klassenzimmer zu spüren ist oder weil es Meinungsverschiedenheiten gibt und sich eine spannende Diskussion entwickelt.

Knistern erzeugt Resonanz?

Ja, weil dann etwas da ist, für das ich Feuer und Flamme bin. Doch damit ich das bin, braucht es erst einmal einen Funken – den Funken, der überspringt. Wenn aber mein Bemühen ohne Resonanz, ohne Widerhall bleibt, wenn nichts zurückkommt, wenn ich das Gefühl habe, »ins Leere zu reden«, wenn es also keinen Resonanzraum gibt, bleiben Interaktionsbeziehungen stumm.

Dann heißt es, »der Rest ist Schweigen«?

Bis hin zum eisigen Schweigen. In einem Hohlraum von Desinteresse friert es mich. Lebendiges Lernen dagegen entfaltet sich in einem Klima, das mich dazu beflügelt, auf eine bestimmte Weise mit der Welt in Beziehung zu treten. Ich will Weltausschnitte zum Sprechen bringen. Ich erlebe Weltbeziehung durch Anverwandlung.

»Weltbeziehung durch Anverwandlung« – das klingt zauberhaft. Ist das, auf Schule bezogen, aber nicht ein bisschen weltfremd? Allein schon der Begriff »Anverwandlung«?

Anverwandlung klingt nicht nur zauberhaft, sondern ist es auch. Anverwandlung bedeutet, sich eine Sache so zu eigen zu machen, dass sie mir nicht nur gehört, sondern dass sie mich existenziell berührt oder tendenziell sogar verändert. Es genügt nicht, die Dinge zu erwerben, sie zu beherrschen, mit ihnen umzugehen. Erst wenn ich sie zum Sprechen bringe, kann ich sie mir anverwandeln.

Und wie kann ein Schüler im Unterricht »die Dinge zum Sprechen bringen«?

Indem er sich einen Weltausschnitt genau so zu eigen macht, dass es ihn transformiert. Er erlebt in diesem Prozess eine Form von Beziehung, die ihn verändert.

Wie kann Unterricht ein Weltausschnitt für ihn sein, der ihn verändert?

Der Schüler sieht zunächst nur das Unterrichtsfach. Doch wenn er anfängt, für sich mehr daraus zu machen, entdeckt er in Musik, Sport, Englisch oder Mathematik einen Ausschnitt der Welt so, dass dieser Ausschnitt für ihn zum Klingen gebracht wird. Er sagt sich, dass er jetzt mehr daraus machen will. Zum Beispiel aus dem Unterrichtsfach Politik heraus entwickelt er sich mehr und mehr zu einem politischen Menschen. Er begibt sich in einen neuen Resonanzraum. Das kann auch die Theater-AG sein, die Schulband, eine Punk-Gruppe oder die Öko-Radikalen oder eine religiöse Gruppierung.

Was mich in seinen Bann zieht, kann ich mir also anverwandeln. Doch was, wenn ich mir die Dinge nur aneigne? Wäre das in der Schule nicht genug? Immerhin wäre allein das schon sehr erfreulich.

Das ist eine Fehlübersetzung von Beziehungsbegehren in Objektbegehren. Unter Aneignung verstehe ich ein Begehren nach dem Haben eines Dings: So, das habe ich jetzt. So kann ich mir auch Kompetenzen aneignen. Ich kann das Gedicht interpretieren und habe das richtige Reimschema erkannt. Oder ich kann in Mathematik oder Physik eine Formel anwenden. Aneignung ist also eine Art von Bereicherung im Sinne von Kompetenz- und Ressourcenerweiterung. Ich verfüge dann über eine Ressource, vielleicht eine Wissensressource oder eine materielle Ressource, die ich instrumentell einsetzen kann. Anverwandeln bedeutet hingegen, ich mache mir eine Sache so zu eigen, dass sie mich verwandelt. Ich bin danach ein anderer.

Ein frommer Wunsch. Doch wirkt er in der Wirklichkeit?

Nehmen wir ein Gedicht: Wenn ich es interpretiere, verändert es sich für mich. Bei einer mathematischen Formel ist das etwas schwieriger zu sehen. Aber selbst hier kann man sagen: Wenn ich sie mir anverwandelt habe, dann setze ich sie für Dinge ein, für die sie ursprünglich vielleicht gar nicht gedacht war. Oder ich assoziiere von dieser Formel weg in Bereiche, für die sie nicht vorgesehen war. So gesehen ist Anverwandlung ein aktiver Prozess der Aneignung.

Und dazu braucht es das Knistern im Klassenzimmer?

Genau das ist die Interaktion zwischen den dort Beteiligten, zwischen den Peers, also den Schülern untereinander und miteinander, aber auch zwischen Schülern und Lehrern. Hier vollzieht sich transformative Weltbeziehung. Das bedeutet, sich auf eine Resonanzbeziehung einzulassen. Konkret heißt das, offen dafür zu sein, dass mir etwas Neues oder anderes begegnet, wovon ich berührt, ergriffen oder bewegt werde, also zuzulassen, dadurch verändert zu werden. Und das geht immer auch mit einer gewissen Verletzlichkeit einher. Schule kann und soll einen Schutzraum dafür bilden.

Sind damit die Resonanzbeziehungen im »Resonanzraum Schule« gemeint?

Ja und nein. Die Schule ist nicht per se ein Resonanzraum. Sie sollte und kann einer sein – ein Raum, in dem sich Beziehungen bilden. Bildung ist ein essenzieller Prozess, in dem sich Weltbeziehungen entwickeln und herausbilden können. Bildung gelingt dort, wo wir für einen jungen Menschen einen Ausschnitt unserer Welt, der geteilten sozialen Welt oder überhaupt der Lebenswelt, zum Sprechen bringen. Die Idee von Bildung ist, Welt für die Subjekte zum Sprechen zu bringen oder in Resonanz zu versetzen. Bildung bedeutet also weder Welt-Wissen zu erwerben, noch bedeutet es, sich selbst zu bilden, sondern Bildung ist Weltbeziehungs-Bildung.

Wie soll ich mir das vorstellen: »Welt für die Subjekte zum Sprechen bringen«?

Indem junge Menschen den Bildungsraum Schule durchlaufen, sollen sie in eine Disposition geraten, die sie neugierig macht auf Welt, auf ihr Leben in der Welt. Sie sollen einen Modus finden, sich in Anverwandlungsprozesse zu begeben. Ich nenne das dispositionale Resonanz.

Wie könnte ein Klassenzimmer zu einem solchen Resonanzraum werden?

Im Geschichtsunterricht, zum Beispiel, würde mir die Epoche der Griechen oder Römer nicht als eine Aneinanderreihung von Fakten und Zahlen begegnen, sondern als eine Zeit, die mir etwas sagt, die mich anspricht, weil ich etwas mit ihr zu tun habe. Sie ist ein Ausschnitt meiner Welt. Ohne diesen Weltausschnitt wäre ich nicht da, wo ich bin, wäre ich nicht der, der ich bin. In Deutsch könnten zum Beispiel Gedichte so etwas bei mir initiieren. Ich erwerbe nicht nur die Kompetenz, das Reimschema, den Rhythmus und das Versmaß zu erkennen, etwas über den Dichter und die Epoche zu wissen – das ist alles zwar schön und gut für die Note, genügt mir aber nicht. Ich suche mehr. Und plötzlich sagen mir Rilke oder Benn oder Eichendorff etwas, das ich so noch nie gehört, noch nie erlebt habe. Das Gedicht macht etwas mit mir.

Könnte auf diese Weise nicht nur das Klassenzimmer, sondern die Schule insgesamt zu einem Resonanzraum werden?

Ja, Schule wird zum Resonanzraum, wenn es gelingt, die Resonanzachse zwischen Schülern und Lehrern zu öffnen. Und das geht über Sozialbeziehungen. Zunächst durch einen Lehrer, von dem ich mich als Schüler gern an die Hand nehmen lasse, der mir einen Weltausschnitt aufschließt, der mir vorher nichts gesagt hat. Beide, Lehrer wie Schüler, müssen sich vom Stoff entzünden lassen.

Was aber, wenn eine von beiden Seiten sich verschließt?

Dann verschließt sich meist auch die andere. Wir sprechen dann von repulsiven Weltbeziehungen oder Indifferenzbeziehungen. Letzteres sind Beziehungen, bei denen Lehrer und Schüler das Gefühl haben, dass sie sich nichts zu sagen haben. Repulsion greift sogar noch weiter, dann heißt es sogar: Den mag ich nicht, oder der mag mich nicht. Das steht sehr oft in einer Wechselwirkung. Dann wird Schule zur Entfremdungszone. Dort ist mir alles zuwider: Lehrer, Mitschüler und das ganze »Unterrichtszeug«.

Damit Schule nicht eine Entfremdungszone wird oder bleibt, braucht es eine andere pädagogische Ausrichtung, eine »Resonanzpädagogik«?

Das genau ist meine Idee. Der neue Begriff meint Pädagogik als das Verstehen eines Bildungsgeschehens, das viele Dimensionen hat. Darin spielen auch die räumlichen Aspekte im Schulgebäude eine große Rolle und wie die Menschen sich darin bewegen. Resonanz ist immer auch ein leibliches Phänomen. Das ist schon an der Körperhaltung zu sehen, an den Begegnungen und Interaktionen sowohl im Klassenzimmer als auch im Lehrerzimmer. Wenn hier dicke Luft herrscht oder wenn es zwischen Direktion und Kollegium nicht nur knistert, sondern knirscht, dann...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Vorwort8
Von der Zeit- zur Resonanzforschung12
Pädagogische Resonanz auf den Punkt gebracht16
Momente des Mitschwingens im Unterricht28
Schule als Resonanzraum36
Motivation durch Resonanzbeziehungen56
Feedback – Akzeptanz durch Resonanz66
Kompetenz und Resonanz in Dissonanz78
Vertrauen schafft Resonanzzonen88
Ein »Resonanzkompass« als Orientierungshilfe94
Beziehungsbildung im Smartphone-Zeitalter100
Humor als Indikator für Resonanzverhältnisse108
Eigene Resonanzerfahrungen des Resonanzforschers114
Dank als Resonanz123
Bildnachweis124
Glossar125
»Einen Kopf größer« – oder: die Grammatik des Gelingens129
Literaturnachweise / Anmerkungen142

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