Kapitel 2 – Warum wir Menschen leiden
Ich war der Überzeugung, mein Gehirn sei das wunderbarste Organ meines Körpers. Bis mir klar wurde, wer mir dies sagte.
Emo Phillips
Jeder Mensch hat in seinem Leben schmerzliche Erfahrungen gemacht. Jeder Mensch hat gelitten, und es ist eher die Regel als die Ausnahme, dass Menschen irgendwann einmal an einen Punkt kommen, an dem sie vor Schmerz und Leid krank werden oder gar ihren Lebensmut verlieren. Und dies trifft auch auf Menschen zu, die von außen betrachtet alles haben, um glücklich zu sein, ja, die oft sogar von anderen beneidet werden, weil sie erfolgreich, wohlhabend und beliebt sind.
Stellen Sie sich vor, wir hätten die Möglichkeit, einem Menschen aus dem Mittelalter von unserem Leben zu erzählen. Er würde sich nach unserem Alltag erkundigen: Wie sehen eure Wohnungen aus? Was tut ihr gegen Schmutz und Gestank? Was gegen die Kälte und die Hitze? Wie bewegt ihr euch fort, und welche Möglichkeiten habt ihr, euch die Langeweile zu vertreiben? Wie oft werdet ihr von Wegelagerern oder wilden Tieren überfallen? Wie schafft ihr es, euch zu ernähren, und was tut ihr, wenn ihr krank werdet? Wie alt werdet ihr überhaupt, und wie viele eurer Kinder sterben in den ersten Lebensjahren? Und so weiter.
Würden ihn unsere Antworten auf diese Fragen nicht zwangsläufig zu dem Schluss führen, dass wir – die Durchschnittsmenschen in der westlichen Welt des 21. Jahrhunderts – in einem regelrechten Paradies leben und ausgesprochen glücklich sein müssten? Wir alle wissen, dass dies nicht so ist. Natürlich ist die Frage schwer zu beantworten, ob wir glücklicher oder unglücklicher sind als Menschen, die zu anderen Zeiten auf der Erde gelebt haben; aber dass wir nicht so glücklich sind, wie es unsere äußeren Lebensumstände vermuten lassen könnten, ist unstrittig. Während es vor allem in den zurückliegenden hundert Jahren sagenhafte Fortschritte in Wissenschaft und Technik gegeben hat, sind wir auf dem Gebiet des menschlichen Verhaltens und Erlebens so gut wie gar nicht weitergekommen. Die Probleme auf diesem Gebiet sind immer noch bedrückend groß – und zwar nicht nur die, die in die Rubrik psychische Störungen fallen, wie Depressionen, Zwänge, Ängste oder Suchtprobleme. Auch viele andere Schwierigkeiten, die den Umgang des Menschen mit sich selbst und anderen betreffen, sind nach wie vor ungelöst. Gier, Egoismus, Rachsucht, Hass, Gewalt, Diskriminierung – die Liste ließe sich lange fortsetzen. Es scheinen eher noch Probleme hinzuzukommen oder zumindest an Häufigkeit zuzunehmen (beispielsweise Mobbing oder Ess-Störungen), und die Probleme, die es schon immer gab ( z.B. aggressives Verhalten oder Besitzsucht) haben heute, gerade aufgrund des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, oft noch viel dramatischere Auswirkungen als zu früheren Zeiten der Menschheit; denken wir beispielsweise an die Gefahren durch Terrorismus oder Umweltverschmutzung.
Menschen leiden, Tiere leiden. Ein Tier kann frieren, Hunger und Durst empfinden, Schmerz spüren, kann in Panik geraten, kann vielleicht sogar trauern. Aber während ein Tier, das alles hat, was es zum Leben braucht, natürlich und spontan die Möglichkeiten nutzt, die es in seiner Umgebung vorfindet, scheinen wir Menschen uns häufig selbst im Wege zu stehen. Anstatt uns unserer Fähigkeiten zu bedienen und unseren Spielraum zu nutzen, verzagen wir oft angesichts einer Herausforderung und geben auf, obwohl wir, nüchtern betrachtet, alle Chancen gehabt hätten, die Aufgabe zu meistern. Wir verstricken uns in sinnlose Grübeleien, quälen uns mit zermürbenden Schuldgefühlen, gefährden oder zerstören gar unsere Gesundheit, indem wir schädliche Substanzen zu uns nehmen oder zu viel oder zu wenig essen. Wir ziehen uns immer weiter zurück, bauen eine Mauer um uns auf, lassen niemanden an uns heran – und klagen gleichzeitig darüber, dass wir so einsam sind. Wir entwickeln starke Ängste vor Situationen, mit denen wir persönlich noch nie eine schlechte Erfahrung gemacht haben. Wir steigern uns in die Furcht hinein, eine schlimme Krankheit zu haben, auch wenn uns ein Arzt nach dem anderen versichert, dass wir kerngesund sind. Wir zetteln schlimme Auseinandersetzungen mit Menschen an, die wir lieben und die eigentlich auf unserer Seite stehen – oder zumindest einmal dort standen. Diese Liste mit auf den ersten Blick schwer verständlichen Verhaltensweisen ließe sich endlos fortsetzen, Verhaltensweisen, die bei Tieren – und bei kleinen Kindern – übrigens sämtlich fehlen.
Leiden wir, weil wir krank sind?
Was ist es, das es uns so schwer macht, die Möglichkeiten, die uns diese Welt bietet, zu nutzen und das Beste aus unserem Leben zu machen? Warum ist es für uns Menschen so schwer, das Glück zu finden?
Man kann versuchen, diese Frage medizinisch zu beantworten: Menschen, denen es nicht gelingt, ein zufriedenstellendes Leben zu führen, leiden an einer Krankheit, einer «psychischen Krankheit». Im Bereich der Medizin hat es sich als ausgesprochen effektiv erwiesen, Krankheitsbilder zu benennen und sie anhand von typischen Beschwerden zu beschreiben, ihre Ursachen zu erforschen und herauszufinden, mit welchen Behandlungsmethoden eine Besserung am wahrscheinlichsten zu erreichen ist. Das Grundprinzip der medizinischen Herangehensweise lautet in etwa: Wenn jemand nicht fit ist und leidet, dann liegt dies daran, dass er eine Krankheit hat. Diese Krankheit wiederum hat eine bestimmte Ursache ( z.B. eine Infektion, eine Verletzung oder eine Störung im Stoffwechsel) und muss auf eine spezifische Art und Weise behandelt werden, damit der Betroffene wieder auf die Beine kommt und es ihm wieder gut geht. Dieses Denkmodell, das, wie gesagt, ausgesprochen erfolgreich war und ist, wenngleich es auch seine Grenzen hat, übertrug man auf den Bereich der Psyche. Sprich: Einem Menschen geht es schlecht, weil er eine psychische Krankheit hat. Diese hat ihre Ursachen und ist mit geeigneten Methoden zu behandeln.
Dieses medizinische Modell ist mit einer Reihe von Vorteilen verbunden. Die Gesundheit gilt bei uns als hohes Gut, und die Bekämpfung von Krankheiten betrachten wir als Aufgabe von höchstem Rang. Diejenigen, die sich dieser Aufgabe widmen, verfügen über hohes Ansehen und werden großzügig mit Mitteln ausgestattet. Davon profitieren auch Wissenschaftler und Praktiker, die sich mit der Erforschung und Behandlung der sogenannten psychischen Krankheiten befassen – unter anderem Psychotherapeuten, Psychiater und Psychotherapieforscher und -forscherinnen. Auch die Leidenden selbst profitieren. Sie werden nicht mehr als von bösen Mächten besessen betrachtet und einer entsprechenden Behandlung zugeführt – etwa auf dem Scheiterhaufen verbrannt –, wie dies in früheren Jahrhunderten geschah, sondern gelangen in den Genuss der Rechte, die kranken Menschen in unserer Gesellschaft zustehen.
Andererseits hat das Modell klare Grenzen. So hat es sich letztendlich als sehr schwierig erwiesen, einzelne psychische Krankheiten oder Störungen zu definieren und sinnvoll voneinander abzugrenzen. Zwar gibt es solche «Kataloge», die psychische Erkrankungen anhand ihrer Symptome beschreiben, die Praxis zeigt aber zweierlei: Erstens fällt die Zuordnung zu einer bestimmten Störung sehr schwer, und viele, wenn nicht gar die meisten Menschen, die sich wegen psychischer Probleme an einen Arzt oder Psychologen wenden, leiden nicht nur an einer, sondern an mehreren Störungen gleichzeitig (man spricht von Komorbidität). Und zweitens weiß man, dass die Methoden, die in der Psychotherapie entwickelt und getestet wurden, in der Regel nicht nur für solche Menschen hilfreich sind, die unter einer bestimmten Störung leiden, sondern für einen Großteil der Patienten – unabhängig davon, welche Störung man diagnostiziert. Es ist sinnvoll, dass der Arzt, wenn ein bauchschmerzgeplagter Patient zu ihm kommt, zunächst untersucht, ob die Bauchschmerzen stressbedingt sind oder die Folge einer Lebensmittelvergiftung darstellen oder auf eine Blinddarmentzündung zurückgehen, vor allem deshalb, weil er diese Krankheiten unterschiedlich behandeln muss. Wenn aber von den Patienten mit Bauchschmerzen die meisten unter Stress stünden, zugleich auch etwas Verdorbenes gegessen sowie einen entzündeten Blinddarm hätten und hülfe das, was dem gestressten Patienten hilft, auch dem Blinddarmpatienten und dem Patienten mit dem verdorbenen Magen, dann wäre diese Art der Diagnostik weniger sinnvoll.
Ein weiteres Argument gegen die Aussage «Menschen leiden, weil sie eine psychische Krankheit haben» ist die weite Verbreitung psychischer Probleme. Aus den im ersten Kapitel genannten Zahlen geht deutlich hervor: Seelisches Leid stellt eher die Regel als die Ausnahme dar. Wenn aber ein Phänomen wie das Erleiden einer psychischen Störung so weit verbreitet ist, dass jeder dritte Mensch davon betroffen ist, dann ist die Annahme, dass all diese Menschen eben eine Krankheit haben und dass – im Umkehrschluss – der «normale» Zustand die Gesundheit wäre, nicht besonders plausibel.
Vielmehr müssen wir uns fragen, ob es nicht etwas in uns Menschen gibt, das es uns grundsätzlich schwer macht, zufrieden zu leben und mit uns selbst und unseren Artgenossen gut auszukommen – auch wenn die äußeren Bedingungen günstig sind. Die Antwort, die die Akzeptanz- und Commitment-Therapie auf diese Frage gibt, stellt die Rolle unseres Verstandes in den Vordergrund. Steven Hayes und andere Forscher und Forscherinnen haben sich über zwanzig Jahre lang intensiv mit unserem Denken und unserer Sprache befasst: Das Ergebnis ist die bereits im ersten Kapitel erwähnte...