ÜBERBLICK UND
GESCHICHTE
Was ist die Österreichische Schule der Nationalökonomie?
Die Österreichische (oder Wiener) Schule der Nationalökonomie (oder -ökonomik) ist eine wirtschaftswissenschaftliche Tradition, die auf Carl Menger und dessen Schüler zurückgeht. Die Bezeichnung wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts geprägt, als der Unterschied in der Herangehensweise der Wiener Ökonomen im Gegensatz zu Fachkollegen an anderen Orten, insbesondere Berlin, offensichtlich wurde. Diese Tradition wurde sogleich als Schule angesehen, weil Carl Menger ein besonders erfolgreicher Lehrer war: Er war insgesamt an 20 Habilitationen beteiligt (von seinen Schülern wurden also so viele wiederum zu Dozenten). Plötzlich häuften sich in Wien kompetente Ökonomen, die deutlich anders dachten und schrieben als Ökonomen an anderen Universitäten.
Was unterschied die Wiener Ökonomen von Berliner und anderen Ökonomen?
In Berlin war damals die Historische Schule dominant, die davon ausging, dass es ökonomische Gesetzmäßigkeiten, die für alle Menschen richtig sind, gar nicht geben könne. Vielmehr seien alle ökonomischen Phänomene kulturell und historisch bestimmt, ob als Verkettungen geschichtlicher Zufälle oder als Ausdruck eines spezifischen »Volksgeists«. Die führenden Berliner Ökonomen der Zeit waren marktfeindlich, da sie den »Krämergeist« für »undeutsch« hielten. »Deutsch« sei das Heldentum, und das habe nichts mit dem individuellen Streben nach Verbesserung der eigenen Lage zu tun. Sie plädierten für einen starken Staat, der die Wirtschaft nach außerwirtschaftlichen Erwägungen zu führen und kontrollieren habe. Daher nannte man diese Ökonomen auch »Kathedersozialisten« und das »geistige Leibregiment des Hauses Hohenzollern«. Die Wiener Ökonomen hingegen wollten die Realität beschreiben und sich zunächst der Werturteile enthalten. Sie waren davon überzeugt, dass es eine Logik des menschlichen Handelns gebe, die von Rasse, Klasse und utopischen Wunschvorstellungen unabhängig sei.
Warum gerade in Wien?
Das Wien des 19. Jahrhunderts erlebte eine wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Blüte. Es war Zentrum des Orienthandels und zugleich Zentrum der späten Modernisierung und Industrialisierung Zentraleuropas. Vor dem Ersten Weltkrieg lebten hier fast zwei Millionen Menschen, ungefähr so viele wie heute. Wien war damals die größte deutschsprachige Stadt und die fünftgrößte Stadt der Welt. Zwar war Wien Sitz der Verwaltung der Habsburgermonarchie, doch der größte Teil der prunkvollen Bausubstanz geht auf bürgerliche Unternehmer und Stifter zurück. In den Salons der Stadt trafen, wie ein Jahrhundert zuvor in Schottland, Unternehmer auf Wissenschaftler und Künstler. Zudem waren im Schmelztiegel Wien alle Extreme der Zeit direkt beobachtbar – man sprach davon, dass Wien »die kleine Welt, in der die große ihre Probe hält«, sei. Wien wurde zum Zentrum einer späten Aufklärung, die der schottischen Aufklärung viel näher war als der französischen. Diese österreichische Aufklärung zeigte sich wie die schottische insbesondere in realistischer Sozial- und Wirtschaftswissenschaft.
Österreichische oder Wiener Schule? Der Nationalökonomie oder der Ökonomik?
Die Bezeichnungen Wiener und Österreichische Schule wurden von Beginn an synonym verwendet. Im englischen Sprachraum ist allerdings fast nur von »Austrian School« die Rede, daher überwiegt heute auch im Deutschen das Etikett »Österreichisch«. Für Letzteres spricht, neben dem englischen Sprachgebrauch, auch der Umstand, dass es nicht nur Wiener waren, die in der Österreichischen Schule wirkten. Nach heutiger Benennung waren es aber auch nicht nur Österreicher. Das alte Österreich war eine zentraleuropäische Vielvölkermonarchie: Mengers Geburtsort liegt im heutigen Polen, Böhm von Bawerks Geburtsort (wie der von Hayeks Großvater) im heutigen Tschechien, Mises’ Geburtsort in der heutigen Ukraine. Das heutige Österreich hat mit dem alten Österreich sehr wenig gemein, noch weniger als das heutige Wien mit dem alten Wien. Wiener Schule ist auf Deutsch kürzer und die Bezeichnung nach dem historischen Zentrum weniger irreführend als die Bezeichnung nach den Habsburgischen Erblanden, die der heutigen Republik den Namen gaben.
Nationalökonomie ist die altertümliche Bezeichnung der Volkswirtschaftslehre – »national« verdeutlicht den Gegensatz zur Betriebswirtschaft. Die heutige Volkswirtschaftslehre hat jedoch wenig mit dem Zugang der Wiener Schule gemein. Auf Englisch ist von »Austrian School of Economics« die Rede, und das Englische unterscheidet sauberer als das Deutsche zwischen economy – Wirtschaftraum – und economics – Wirtschaftswissenschaft. Im Deutschen müsste man analog von Ökonomie und Ökonomik sprechen. Aufgrund des individualistischen (und nicht nationalistischen) Zugangs der österreichischen Ökonomen wäre die korrekteste Bezeichnung für ihre Denktradition »Wiener Schule der Ökonomik«. Im Weiteren werde ich nur noch von Wiener Schule sprechen; es gab allerdings zahlreiche »Wiener Schulen« – etwa der Musik oder der Kunstgeschichte –, darum ist der Zusatz »der Ökonomik« stets dazuzudenken.
Auf welchen Werten beruht die Wiener Schule?
»Werte« im herkömmlichen und ethischen Sinne, nämlich Werthaltungen, also Prinzipien, Überzeugungen und Maßstäbe, sind etwas anderes als ökonomische Werte. Die Wiener Schule beruht auf den Werthaltungen, dass Erkenntnis möglich und wünschenswert ist, dass die Freiheit des Menschen möglich und wünschenswert ist und dass sich in einem freien Wettstreit der Argumente die besseren durchsetzen mögen – unabhängig davon, ob die Schlüsse Beifall finden, lukrativ sind oder eigenen Interessen günstig. In ihrem persönlichen Leben haben die meisten Vertreter der Wiener Schule gezeigt, dass für sie Integrität und Wahrheitsstreben besonders wertvoll waren, auch im ökonomischen Sinne – dass sie also bereit waren, dafür Einkommen und Prestige aufzugeben.
Mal ehrlich, waren die Vertreter der Wiener Schule wirklich alle so heldenhaft?
Die Vertreter der Wiener Schule waren und sind keine Übermenschen. Dieses Buch soll in eine zu Unrecht vergessene Tradition einführen, keine biografische Detailanalyse sein noch eine Hagiografie. Auch Vertreter der Wiener Schule irrten und waren nicht frei von menschlichen Schwächen. Diese können aber nicht Gegenstand einer ersten, positiven Darstellung sein. Die positive Darstellung ist nicht parteiisch gemeint, sondern als einfacher Überblick. Mögliche Kritikansätze würden die Darstellung zu sehr verkomplizieren.
Ökonomik ist als Teil der praktischen Philosophie eine ständige Übung, die von ihren jeweiligen Ausübenden zu trennen ist. Die Wiener Schule wird hier herausgegriffen, weil das Etikett, bei aller Verkürzung, die Aufmerksamkeit auf eine historische Verdichtung realistischer Ökonomik führt. Ökonomik ist aber nur ein kleiner Teilbereich der Erkenntnis. Heute ist die Spanne riesengroß zwischen der akademisch-medialen Überschätzung der Bedeutung und Aussagekraft der Ökonomik und dem tatsächlichen ökonomischen Verständnis der Realität. Gefährlich ist es, in diesem eklatanten Missverhältnis, die Wiener Schule als statische Weltformel misszuverstehen. Auch Ökonomen, die sich zur Wiener Schule rechnen oder bekennen, ist zu misstrauen, wenn sie ausschließlich Ökonomen sind und Ideologie oder Eigeninteressen vor die Erkenntnis stellen.
Immer größere Teile der Bevölkerung suchen nach neuen Antworten, die meisten aber nur nach einfachen Rezepten, die aus dem gegenwärtigen Schlamassel führen sollen. So werden auch ökonomische Konzepte »vulgarisiert«, und Denker werden dafür mit Aufmerksamkeit belohnt, dass sie genehme Schlussfolgerungen bieten. Die Wiener Schule, sofern sie nicht als ergebnisoffene Denktradition verstanden wird, sondern als politisch-polemische Agenda, ist nicht viel besser als der sonstige Meinungs- und »Informations«-Müll, der unterhält, ablenkt und spaltet. Zugutehalten muss man dieser Vulgär-Ökonomik nur, dass sie sich nicht gut für Staatskarrieren eignet, nur für kleine Schwindlerkarrieren, und der Schaden der letzteren ist in Summe viel geringer als jener der ersteren. Deshalb ist die populäre Verbreitung der Ansätze der Wiener Schule unter dem Strich positiv – aber keine heroische Leistung. Nur Glaubenssätze brauchen Missionare.
Das Eintreten für...