Einleitung: Das Rad
Wer die Laterne trägt, stolpert leichter, als wer ihr folgt.
Jean Paul
Die wichtigsten Erfindungen haben keine Erfinder. Wir kennen den Menschen nicht, der als erster aufrecht ging oder der als erster ein Wort sagte, wir kennen die Gemeinschaft nicht, die als erste einem unsichtbaren Wesen huldigte oder die als erste tanzte. Wie hieß die erste Stadt? Wer nahm als Erster ein Geldstück an und machte es dadurch überhaupt erst zu Geld? Wo lebte das erste monogame Paar?
Dass alle diese Fragen unbeantwortet bleiben müssen, liegt nicht nur an unserer Unkenntnis. Es liegt also nicht nur an der Ferne der Zeiten, in die wir aus Mangel an Überbleibseln nicht mehr ausreichend genau blicken können, um zu sehen, wer mit diesen Dingen wann und wo genau angefangen hat. Vielmehr können wir uns nicht einmal vorstellen, dass sie überhaupt von einzelnen Menschen erfunden worden sind.
Lange allerdings hat es sich die Menschheit so vorstellen wollen. Prometheus soll das Feuer gebracht, Kain oder Marduk sollen die erste Stadt gegründet haben, Dädalus und Ariadne wird der erste Tanz zugeschrieben, dem ägyptischen Gott Thot, der bei den Griechen zu Hermes wurde, die Erfindung der Schrift, und der Anfang der Religion lag selbstverständlich bei Gott, als er sagte: «Lasset uns einen Menschen machen», ohne dass wir genau wüssten, zu welchem «uns» er da sprach.
Solche Erzählungen stammen aus einer Zeit, die annahm, dass in der Vergangenheit ohnehin mehr gewusst wurde als in der Gegenwart – im Grunde alles. Insofern waren die Anfänge für sie voller Erkenntnis und geheimnisvoll zugleich. Gesellschaften, die von Adelsfamilien beherrscht sind, haben naheliegenderweise eine Präferenz für alte Herkünfte: je älter, desto besser. Berühmt ist die witzige Umkehr dieser Logik durch den englischen Priester John Ball: «Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?» Doch auch diese Polemik hält den Primat des Anfangs fest: Wenn in ihm kein Edelmann war, dann herrschte eben ursprünglich Gleichheit, woraus sich Ansprüche auf Gleichheit auch später ergeben sollten.
Weil am Anfang die Erkenntnis noch klar und umfassend war, so der schöpfungstheologische Gedanke, war der Anfang überhaupt fähig, für alles Weitere prägend zu sein. Adam beispielsweise war für die Theologen anderthalbtausend Jahre lang nicht nur der erste, sondern auch der wissendste Mensch. Man stellte sich ihn nicht bloß als Erfinder der Schrift, sondern sogar als Verfasser gelehrter Werke vor, die nur leider mitsamt den Bibliotheken, die es damals gegeben habe, in der Sintflut untergegangen seien. Überboten wurde dieses Denken noch von Theologen, die sich Unzulänglichkeiten Adams allein damit zu erklären vermochten, dass es präadamitische Menschen gegeben haben müsse, die noch mehr wussten.
Eine spätere, eine philosophische Tradition sah von mythischen Namen ab, ja von Namen überhaupt, erzählte aber nach wie vor von den Ursprüngen. Auch ihre Erzählungen verlegten das vermutete Wesen der sozialen Erfindungen in deren Anfang. «Der Mensch begann als Mensch, und das war der Anfang und das Ende davon.» Allerdings fehlten für diese Anfänge bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein jegliche Zeugnisse, und die Aussagekraft der Bibel, die lange als ein solches Zeugnis betrachtet worden war, litt zunehmend unter der wissenschaftlichen Beschäftigung mit ihrem Text. Da die ersten Menschen so wenig wie die Indianer über Schrift verfügten, hieß es beispielsweise, könnten die Ursprungsberichte keinesfalls von ihnen selbst stammen. Außerdem berichte die Genesis ja fast nichts über die damaligen gesellschaftlichen Umstände.
Also konstruierte man seit Beginn der Neuzeit philosophische Modelle des Anfangs und nannte die Gesamtheit seiner Bedingungen den «Naturzustand». Dieser status naturalis sollte dem Menschen zeigen, wie er unter Abzug aller zivilisatorischen Leistungen dasteht. Er stand dann ziemlich bedürftig da, um es vorsichtig zu sagen. Die philosophische Aufgabe war, aus diesem wenig befriedigenden Zustand hervorgehen zu lassen, was ihn überwand: Herrschaft, Arbeitsteilung, Eigentum, Verträge, Moral und so weiter. Allerdings steckten die Geschichten, die davon erzählt wurden, voller Widersprüche und Zumutungen.
Nehmen wir nur – und in aller Kürze – die berühmteste von ihnen, den Naturzustand bei Thomas Hobbes, dem englischen Theoretiker des modernen Staates. Ihm zufolge entsteht der Staat, weil der Naturzustand, in dem es nur Einzelne und ihre Fähigkeit zur Gewalt gibt, ein «Krieg aller gegen alle» ist, aus dem für die Einzelnen nichts als Unsicherheit, Elend und Tod hervorgehen. Also schließen am Anfang alle einen Vertrag miteinander, in dem sie ihren Anspruch, die eigenen Interessen durchzusetzen, an einen Herrscher abtreten, der um des Friedens willen alle Gewalt monopolisiert. Doch setzt ein anfänglicher Vertragsschluss nicht schon dasjenige Vertrauen in die Vertragstreue der anderen voraus, von dem behauptet wird, im Naturzustande existiere es nicht? Später wurde das so formuliert: Vertragliche Grundlagen von Verträgen gibt es nicht, ein Vertrag kann also nicht am Anfang des gesellschaftlichen Lebens gestanden haben. Was andererseits soll man sich unter einem Krieg aller gegen alle vorstellen? Wäre der Urmensch nicht damit überfordert gewesen, buchstäblich jeden zum Feind zu haben?
Die Modelle vom Naturzustand waren nur eine Zwischenlösung, was die Überlegungen zu den zivilisatorischen Anfängen angeht. Ihre wichtigste Leistung war nicht, eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage gegeben zu haben, wie soziale Ordnung entstand. Folgenreich war vielmehr die Wertungsumkehr, die sie vornahmen: Adam war in diesen Gedankenspielen kein Weiser mehr, sondern ein Wilder. Das minderte nicht das Interesse an ihm und den Ursprüngen, aber es setzte einen anderen Akzent. Am Anfang sollte nicht die Fülle gewesen sein, sondern die Armut und ein Haufen Probleme für Wesen, die sich in der Natur auf sich selbst gestellt behaupten mussten. Im achtzehnten Jahrhundert kam die Vorstellung auf, dass die wilden Völker, deren Existenz die europäische Expansion nach und nach zur Kenntnis brachte, den Schlüssel zu den Anfängen der Menschheitsgeschichte bieten, die sich von diesen Ursprüngen durch technologischen und sozialen Fortschritt immer mehr entfernt habe. Das war ein Gedanke, der in wissenschaftlicher Form noch im zwanzigsten Jahrhundert ganz lebendig war, «primitive Völker» wurden als «unsere zeitgenössischen Vorfahren» tituliert.
Dazwischen aber lag das neunzehnte Jahrhundert, das in Bezug auf die Frage nach den Anfängen das Jahrhundert Darwins genannt werden muss. Die Evolutionstheorie, die durch Charles Darwin angestoßen wurde, hat uns eine Sprache für alle Zweifel an einfachen, erzählerisch ergiebigen Anfangsspekulationen bereitgestellt. Denn seit Darwin haben wir Begriffe dafür, dass die zivilisatorisch bedeutsamen Dinge nicht fertig aus der Hand eines Erfinders entspringen und sich auch nicht einer problematischen Situation als deren Lösung verdanken – sondern in geduldiger Vorleistung zufallsbehafteter Schritte davon abhängen, dass kleine Veränderungen hier und da und unter Nutzung unfassbar langer Zeiträume irgendwann zu einem sichtbaren Unterschied führen, der nachträglich als Ursprung gedeutet werden kann. Seit Darwin wissen wir, dass ein Anfang Millionen Jahre dauern kann und dass ihm schon deshalb meistens keine Absicht und kein Plan zugrunde lagen.
Seit Darwin und den Geologen des neunzehnten Jahrhunderts, die mittels stratigraphischer Forschungen über Gesteinsschichten das Alter der Erde abschätzten, wissen wir auch, wie groß die Zeiträume sind, in denen alles angefangen hat, wie wenig wir über Anfänge wissen, die keine Fossilien hinterlassen haben, und wie mühselig darum die Rekonstruktion unserer Vorgeschichte ist. Auf einigen Gebieten schossen damals die philosophischen Theorien darüber, was am Anfang war, so sehr ins Kraut, dass es manchen Wissenschaftlern zu viel wurde. Es gab schließlich noch anderes zu erforschen als Anfänge: Tatsachen, Strukturen, Funktionen, Fortschritte. Schon 1866 untersagte es sich die «Société de linguistique de Paris» per Beschluss, jemals wieder eine Preisfrage nach dem Ursprung der Sprache zu stellen. Im Zuge des späten achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts also bekam die Forschung ein Gefühl dafür, was man alles wissen müsste, um von den Anfängen der Geschichte und der Zivilisation sinnvoll zu reden. Erst allmählich entstanden Disziplinen wie die Paläontologie, die Archäologie, die Ur- und Frühgeschichte, die versuchten, das Reden über weit entlegene Zeiten empirisch zu fundieren.
Immer mehr Zeugnisse frühester Kulturen wurden in der Zeit zwischen 1800 und 1950 erschlossen. Die ersten Ausgrabungen in Pompeji beginnen 1748, im Bergwerk von Hallstatt finden seit 1824 Forschungen statt, der Neandertaler wird 1856 gefunden, drei Jahre zuvor die Pfahlbauten am Zürichsee, zwischen 1849 und 1859 erscheinen die «Denkmaeler aus Aegypten und Aethiopien» von Karl Richard Lepsius. Die Anschauungen von der Antike wie der «Urzeit» wurden also auf allen Gebieten kontrastreicher, die «wilden», unwahrscheinlichen Herkünfte des Europäers plausibler. 1836 prägt der dänische Archäologe Christian Jürgensen Thomsen die Begriffe «Stein-», «Eisen-» und «Bronzezeit». Über den Ursprung der Familie und die Frage, ob die Monogamie oder die Polygamie, das Mutterrecht oder das Vaterrecht, Kommunismus oder Privatbesitz am...