Einleitung
Für den Gang der Geschichte menschlicher Gesellschaften ist ein Jahrhundert nur selten identisch mit einem Jahrhundert der laufenden Zeitrechnung. Zeiteinheiten umfassen nicht notwendigerweise geschichtliche Ereignis- und Sinnzusammenhänge. Dies gilt auch für die arabische Welt »im 20. Jahrhundert«. In der hier vorgelegten Darstellung beginnt das 20. Jahrhundert mit dem Ende des Ersten Weltkrieges; d. h. mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches. Es endet 2010/11 mit dem Ausbruch der »dritten arabischen Revolte«.
Über Jahrhunderte gehörten weite Teile des arabischen Raumes – hier: zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – zu einem Großreich, innerhalb dessen eine spezifisch »arabische« Dimension kulturell nur bedingt und politisch nur marginal in Erscheinung trat. Im 16. Jahrhundert hatte die Expansion des Osmanischen Reiches den arabischen Raum erreicht. 1516/17 wurden Syrien und Palästina sowie Ägypten, im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts das Zweistromland und die Arabische Halbinsel samt dem Jemen dem Reich eingegliedert. 1574 hatte die osmanische Seemacht Tunis erobert. Nur der äußerste Westen Nordafrikas, in etwa das heutige Marokko, blieb außerhalb der Herrschaft der Sultane in Konstantinopel. Auch wenn eine sprachliche und kulturelle Vielfalt fortbestand, so lagen die Herrschaft, die Verwaltung sowie das Militär- und Rechtswesen im Prinzip in der Hand der Osmanen.
Erst im 19. Jahrhundert wurden Kräfte wirksam, »die Araber« zunächst als kulturellen später auch als politischen Raum wieder sichtbar zu machen. Die europäische Expansion setzte Bewegungen frei, die eine arabische geistig-kulturelle Eigentümlichkeit gegenüber dem politischen Zentrum in Konstantinopel betonten. Teile Nordafrikas und des Vorderen Orients wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts direkter oder indirekter Kontrolle vor allem Frankreichs und Englands unterworfen. Mit dem Untergang des Osmanischen Reiches am Ende des Ersten Weltkriegs standen die Araber vor der doppelten Herausforderung: In einer radikal veränderten internationalen Ordnung ihren politischen Platz zu suchen; zugleich galt es – hier teilten sie die Herausforderung mit der Gemeinschaft der islamischen Völker insgesamt –, eine Antwort auf eine kulturelle und zivilisatorische Moderne zu finden, deren wesentliche Elemente von Europa (später auch den USA) vorgegeben waren.
Dieses 20. Jahrhundert lässt sich in zwei übergreifende Zeitabschnitte aufteilen: Der erste umfasst die Auseinandersetzung mit den europäischen Mächten, insbesondere Großbritannien und Frankreich (aber auch Italien und Spanien); eine Auseinandersetzung, die sich wesentlich als Streben nach Unabhängigkeit darstellt. Nahezu flächendeckend war der arabische Raum zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean unter die Herrschaft dieser Mächte geraten.
Diese geschichtliche Epoche ist seit den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts nahezu abgeschlossen. Neue Eliten, die sich unter der Herrschaft der europäischen Mächte entwickelt hatten, strebten nunmehr nach politischen und gesellschaftlichen Ordnungen, die in der sich ausprägenden neuen internationalen Ordnung einen eigenständigen Platz finden würden. Auch diese Suche freilich vollzog sich nicht allein gemäß innerstaatlichen und innergesellschaftlichen Dynamiken. Sie war zugleich geprägt durch das Vordringen des Einflusses der USA und dem sich ausbildenden Konflikt mit der Sowjetunion. Das Streben beider »Supermächte« nach globaler Vorherrschaft hat die innere und äußere Entwicklung der jungen arabischen Staaten nachhaltig geprägt.
Diese Epoche endet zwar mit der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991. Noch immer aber lastet das Erbe sowohl des europäischen Imperialismus als auch des Ost-West-Konflikts auf den arabischen gesellschaftlichen und politischen Strukturen. Der Prozess politischer und geistiger Selbstfindung und Selbstbestimmung ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Namentlich die Kräfte, die aus dem Islam heraus eine politische und gesellschaftliche Erneuerung anbieten, müssen – sofern sie sich nicht von vornherein durch gewalthafte Strategien ins Abseits manövrieren – erst noch beweisen, ob sie in der Lage sind, einen Platz innerhalb der komplexen Gemengelage politischer, wirtschaftlicher und kultureller Kräfte, die global wirksam sind, zu definieren.
Unter der »arabischen Welt« wird im vorliegenden Band der Raum verstanden, der durch die Mitglieder der Arabischen Liga abgebildet wird. So werden auch jene Länder einbezogen, die am Rande des arabisch geprägten Raumes liegen und deren ethnische, gesellschaftliche und kulturelle Strukturen zum Teil im Kontext des subsaharischen Afrika zu verorten sind. Ihre Arabisierung ist z. T. oberflächlich; die arabische Sprache ist eher Fremdsprache. Ihr Beitritt zur Arabischen Liga war im Wesentlichen politischen bzw. wirtschaftlichen Interessen geschuldet.
Neben dem formalen Kriterium der Mitgliedschaft in der Arabischen Liga definiert sich die »arabische Welt«, wie sie in der vorliegenden Arbeit verstanden wird, wesentlich durch die arabische Sprache. Sie ist die Muttersprache der weitaus größten Zahl der Bewohner des hier dargestellten Raumes. Jenseits der zum Teil tief greifenden Unterschiede der in den jeweiligen Gesellschaften gesprochenen Dialekte existiert eine arabische Hochsprache. Sie steht zur Sprache des Korans in einem engen Verhältnis. Mit der Vertiefung der Alphabetisierung, der Ausbreitung der allgemeinen Schulbildung sowie insbesondere der Medien, vor allem des Radios und des Fernsehens, bis in die letzten Winkel der arabischen Welt während der letzten Jahrzehnte ist das Hocharabische – jenseits der Dialekte – eine lingua franca panarabischer Kommunikation quer durch alle gesellschaftlichen Schichten geworden.
Die Zugehörigkeit zur arabischen Welt wird auch durch die Wahrnehmung gestärkt, Teil einer arabischen Kultur zu sein. Zwar ist der Koran eine Botschaft Allahs an alle Menschen; allein die Tatsache, dass Gott diese in der arabischen Sprache kommuniziert hat, verleiht das Bewusstsein, einem ausgezeichneten Volk anzugehören. Auf vielen Gebieten der Kunst und der Wissenschaft haben Araber (und Nicht-Araber in arabischer Sprache) zu einer Kultur der islamischen Welt insgesamt beigetragen. Auf zahlreichen Gebieten aber, namentlich der Dichtkunst und der Literatur, haben die Araber kulturelle Leistungen geschaffen, die tatsächlich in einer spezifischen Weise arabisch sind.
Die »arabische Welt« stellt sich – wie in der Geschichte so in der Gegenwart – alles andere als einheitlich dar. Nicht von ungefähr hat der bedeutende britische Historiker Albert Hourani von einer Geschichte der arabischen Völker gesprochen. Die Unterschiede liegen in den Strukturen und Verfasstheiten der politischen Systeme, in den Traditionen und Strukturen der Gesellschaften sowie in der Ausstattung mit ökonomischen Ressourcen. Tief greifend unterschiedlich ist die Rolle der Religion in Politik und Gesellschaft.
Im 20. Jahrhundert lassen sich drei Großräume der arabischen Welt erkennen: Nordafrika, der Raum zwischen dem östlichen Mittelmeer (Libanon/Palästina) bis zum Persischen Golf (den arabische Nationalisten als Arabischen Golf bezeichnen) und der Arabischen Halbinsel. Ägypten bildet gleichsam die Schnittstelle aller drei Räume. Von der Entwicklung dieses Landes sind deshalb zeitweilig besonders starke politische und kulturelle Impulse auf die Entwicklung des arabischen Raumes insgesamt ausgegangen. Zugleich aber haben vor dem Hintergrund dieser geopolitischen Dreiteilung panarabische Impulse eine zumeist nur begrenzte Tragweite gehabt. Dem gegenüber lassen sich immer wieder intraregionale Zusammenhänge und Interaktionen konstatieren.
Wie eingangs bemerkt, beginnt das 20. Jahrhundert der »arabischen Welt« mit dem Ende des Ersten Weltkriegs. Es endet mit dem Ausbruch der Revolten, Umbrüche und Revolutionen, die im Dezember 2010 in Tunesien ihren Ausgang genommen haben. Kein Platz in der arabischen Welt, an dem die Erschütterungen, die sich im Jahr 2011 in Ägypten, Jemen, Libyen, Syrien, Bahrain (und weniger dramatisch und weitreichend in anderen arabischen Ländern) fortsetzten, nicht gespürt worden wären. Sie werden als dritte arabische Revolte verstanden. Die erste Revolte arabischer Völker – beginnend mit dem Aufstand gegen die Osmanen im Ersten Weltkrieg – wurde nach dessen Ende u. a. in Libyen, Ägypten, Syrien, Palästina und dem Irak von den europäischen Kolonialmächten niedergeschlagen (s. die jeweiligen Länderdarstellungen). Die zweite Revolte beginnt mit der Revolution in Ägypten im Juli 1952; sie erfasst in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Ergebnissen weiteste Teile der...