Paul Smith, die Moderne, die Angst vorm Fliegen und worum es geht
Worum es geht, ist denkbar einfach. So einfach, dass ein Kind, dem man die Sache in Ruhe erklärt, sie leicht in ein oder zwei Minuten verstehen kann. Ob es sie gut finden wird, ist eine andere Sache. Im Wesentlichen läuft es darauf hinaus zu zeigen, dass die Welt keinen Boden hat. Und das bedeutet, dass auch unser Leben – gerade weil es ganz und gar von dieser Welt ist, zu ihr gehört und ihren Gesetzen folgt – keinen Boden hat. Jedenfalls hat es keinen echten Boden. Was wie ein Boden aussieht, ist in Wahrheit eher wie ein fliegender Teppich.
Das ist, etwas vereinfacht gesagt, die Lage, in der wir uns gegenwärtig befinden: Wir leben auf einem fliegenden Teppich. Zur Beschreibung des Wortes gegenwärtig werden je nach Denkweise, politischem Lager und Tradition, in der man erzogen wurde, verschiedene Begriffe herangezogen. Manche bezeichnen das »In-heutiger-Zeit-Sein« als modern – was zur Frage führt, ob in diesem Sinn nicht auch vergangene Zeiten modern waren. Natürlich gibt es auch genauere historische und soziologische Beschreibungen. Verwendet werden neben Moderne auch Begriffe wie Post-Moderne, Post-Post-Moderne, postfaktisches Zeitalter, virtuelles Zeitalter, Internetzeitalter, Zeiten des entfesselten Turbokapitalismus, Big Data oder Anthropozän. Man könnte stattdessen auch einfach von unserem Jetzt sprechen, was verständlicher, aber nicht unbedingt präziser ist.
Wie auch immer man die Gegenwart bezeichnen will: Das Leben in ihr wird von den meisten Menschen unabhängig von dem Kontinent, auf dem sie leben, in ähnlicher Weise als schwierig und mühsam beschrieben. Doch die Beschreibungen der Gegenwart erweisen sich in der Regel als widersprüchlich. Man muss nur lange genug warten, dann ist auch das Gegenteil einer Behauptung ebenso wahr wie sie selbst. Das Leben ist schnell, für viele zu schnell, turbulent, oft gewalttätig und mit Regelmäßigkeit chaotisch. Verlässlich ist dieses Chaos nur insofern, dass es in Erscheinung tritt. Wann ein System wie ein Finanzsystem kippt, d.h. in eine chaotische Dynamik übergeht und aufgrund seiner Nichtlinearität unregierbar wird, lässt sich hingegen wie beim Klima nicht genau bestimmen. Allerdings gibt es ein Modewort, das all diese Eigenschaften und Gegensätze einschließlich des Chaos bequem in einem einzigen Begriff zusammenfasst: komplex. Seltsamerweise hatte dieses heute viel verwendete Wort jahrzehntelange Anlaufschwierigkeiten. Außer in gewissen Fachkreisen der Mathematik, Physik, Biologie und Informatik wurde es vermieden und galt selbst in den Wissenschaften lange Zeit als unpräzise und zu esoterisch. Komplex war alles andere als ein cooles Wort, zumindest wenn man von den wenigen Wissenschaftlern absieht, die in den 1980er und 1990er Jahren des letzten Jahrhunderts am Santa Fe-Institut zur Erforschung der Komplexität Pionierarbeit leisteten.
Inzwischen haben komplex und Komplexität Karriere gemacht und begegnen einem im Internet (rund 20 Millionen Einträge) ebenso oft wie in den Nachrichten, auf WhatsApp, in Modezeitschriften oder Kolumnen. Die Gegenwart ist die komplex gewordene Moderne. Und doch befinden wir uns, wo auch immer wir sind, aller Komplexität zum Trotz in einer ebenso einfachen wie seltsamen, zuweilen verstörenden Lage: Wir leben auf einem fliegenden Teppich – obwohl wir glauben, dass es sich völlig anders verhalte. Warum glauben wir, dass es sich anders verhalten muss? Die Antwort kennt heutzutage jedes Kind: Weil es natürlich keine fliegenden Teppiche gibt! Aber auch das ist nur ein weiterer Irrtum.
Den Eindruck, dass das Leben an einem vorbeifliegt, teilen heutzutage viele Menschen. Man rasiert sich, man ißt, man liebt, man liest Bücher, man übt seinen Beruf aus, schrieb Robert Musil vor rund 100 Jahren, so als ob die vier Wände stillstünden, und das Unheimliche ist bloß, daß die Wände fahren, ohne daß man es merkt. Insofern ist das Bild vom fliegenden Teppich nicht so unpassend, wie es im ersten Moment vielleicht erscheinen mag. Viele Menschen – und nicht nur die mit Burn-out, Depressionen, Suizidgedanken oder anderen klinischen Symptomen – haben zunehmend das Gefühl, besser heute als morgen die Kurve kriegen und rechtzeitig abspringen zu müssen. Was sie daran hindert, ist nicht selten das unheimliche Gefühl, dass sich das Tempo ihres Lebens von Tag zu Tag weiter steigert, so als sei man in Wahrheit bereits über das Ziel hinausgeschossen, habe es einfach verfehlt und sei jetzt auf eine völlig falsche Spur geraten. Vom Zug der Zeit abspringen zu wollen, klingt seltsam antiquiert nach 19. Jahrhundert – nicht nur, weil die Züge noch schneller geworden sind (wie die Magnetschwebebahn Transrapid Shanghai), sondern vor allem, weil das Leben längst nicht mehr mit Metaphern aus dem alten Industriezeitalter beschrieben werden kann. Heute ist das Leben ein digitaler Scherbenhaufen, eine undurchschaubare, sich in ständiger Auflösung befindliche und neu formierende Flut von Daten, ein Flackern von Informationen in einem völlig unüberschaubaren Netzwerk. Aber ein fliegender Teppich?
Einer der innovativsten und »coolsten« Designer der Gegenwart ist für mich nach wie vor der Brite Paul Smith. Ich halte ihn für einen extrem entspannten, klugen und humorvollen Menschen mit einem großen Sinn für Qualität und Stil. Paul Smith, vielen bekannt als Herr der Streifen (so der Titel eines Interviews, das Claudia Merkle in Elle Decoration, 2/2016, führte), wurde 1946 in Nottingham geboren. Sein Vater Harry war Textilkaufmann und zudem ein guter Amateurfotograf. Paul verließ die Schule mit 15, arbeitete in einem Warenhaus, das Stoffe, Kleider und Anzüge anbot, und entwickelte schnell die Ambition, Rennradprofi zu werden. Er trainierte täglich auf dem Weg zur Arbeit, bis er mit 17 einen schweren Unfall hatte, der ihn für sechs Monate ins Krankenhaus brachte. In dieser Zeit machte er Bekanntschaft mit Studenten des Art College und begann, sich für Kunst zu interessieren. Zurück bei der Arbeit, setzte er sein neues Interesse in die Wirklichkeit um und dekorierte zunächst Ausstellungsräume. Schließlich nahm er in Nottinghamshire Abendkurse, um das Schneiderhandwerk von Grund auf zu erlernen, zog später nach London und arbeitete bei Lincroft Kilgour in der berühmten Savile Row im Stadtteil Mayfair. Savile Row ist bis heute berühmt für ihre Geschäfte und Schneidereien, die seit dem 18. Jahrhundert Herrenmode, Schuhe und Maßanzüge herstellen. Auch die ehrwürdige Royal Geographical Society war in der Savile Row Hausnummer 1 ansässig – von dort wurden wichtige Expeditionen u.a. zum Nordpol geplant. In Hausnummer 3 Savile Row befand sich das Büro der Beatles. Auf dem Dach dieses Hauses gab die Band ihr berühmtes Let it Be-Konzert – ihr letztes gemeinsames Konzert überhaupt. Paul Smith blieb London, der Mode und dem Design treu – und ist bis heute ein leidenschaftlicher Rennradfahrer geblieben.
Paul Smith als Kind auf dem fliegenden Teppich.
In dem Interview in Elle Decoration antwortete Paul Smith auf die Frage nach einem seltsamen (in der Zeitung selbst nicht abgebildeten) Foto, das ihn auf einem fliegenden Teppich zeigt: Das ist eine Fotomontage meines verrückten Vaters! Er hatte unseren Wohnzimmerteppich im Garten auf Kisten drapiert. Ich musste mich darauf setzen und so tun, als würde ich fliegen … Aber vielleicht ist das auch mein Geheimnis. Ich habe den Kopf in den Wolken, aber die Füße meist fest auf dem Boden. Mir schien diese Auskunft eine perfekte Beschreibung dessen, worum es in Der fliegende Teppich gehen sollte. Ich rief daher sein Büro in London an, bekam die freundliche Auskunft, mich an seine persönliche Assistentin Isabel Vince zu wenden, der ich mein Anliegen und Buchkonzept kurz erläutern sollte, und erhielt bereits wenige Tage später eine überaus freundliche Antwort. Im Namen von Paul Smith schickte sie mir das Bild aus dem Familienalbum sowie die Erlaubnis, es für dieses Buch zu verwenden.
Das Foto bringt die Situation, in der wir uns befinden, perfekt auf den Punkt. Es zeigt etwas, das auf den ersten Blick real und nicht erfunden erscheint – so wie jede Nachricht aus dem Internet und jede heutige Fotografie zunächst real erscheint. Und doch ist beinahe alles, was zu sehen ist, in dieser Zusammenstellung erfunden (obwohl es Photoshop noch nicht gab). Die Dinge existieren: Aber sie existieren nicht so. Und doch ist heute vieles, was unseren Vorfahren wie ein solches Foto erschienen sein muss, real. Was diese neuen Konstellationen (nennen wir sie die Konstellationen der Moderne) möglich macht, sind Wissen, handwerkliche Fähigkeiten und Techniken, die wie auf dem Bild selber unsichtbar bleiben. Wir können sie nicht direkt sehen, obwohl sie die Bedingungen für das sind, was wir sehen. In dem Bild vermischt sich eine damals moderne Technik der Fotobearbeitung mit den Elementen der wirklichen Welt und mit den alten Mythen von 1001 Nacht, mit Geschichten von Prinzen und Prinzessinnen, Zauberern und wirklichen Städten, über die man heute mit Google Maps im Satelliten-Modus hinwegfliegen kann: ein Bild, in dem sich,...