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E-Book

Mythen der Dichter

Modelle und Variationen. Vier Diskurse

AutorWalter Jens
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783688100644
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
In vier glanzvollen Diskursen erweckt der Meister des literarischen Essays Mythenfiguren von Odysseus bis Hamlet zu neuem Leben, indem er ihre Wandlungen, die sie durch die Feder zahlreicher Dichter erfuhren, sichtbar werden läßt. Die Beleuchtung der Figuren aus verschiedenen Blickwinkeln heraus macht den Reiz dieses literarischen Kaleidoskops aus, in dessen Verlauf nicht nur Modelle und Variationen deutlich werden, sondern auch die Motivationen und Überzeugungen ihrer Schöpfer und Interpreten zutage treten. Immer wieder beschwört Walter Jens das Bild der im Olymp der Poesie versammelten Schriftsteller, Essayisten und Dramatiker, die in lebhaftem Streitgespräch ihre Interpretationen dieser Figuren erläutern und zu verteidigen suchen. Und wie der Autor in überzeugender Weise in seinen Essays über Odysseus, Antigone, Elektra, Don Juan und Hamlet darlegt, werden neue Variationen nicht um der Figuren willen geschaffen, sondern um die Aufmerksamkeit auf »gegenwärtige Konstellationen« zu lenken. Ein »neues Mosaik« der Elemente läßt den Mythos lebendig werden und verleiht ihm die Fähigkeit, »etwas anderes, nicht mehr Sagbares im Gleichnis dramatischen Spiels zu erklären«. Was Jens interessiert, ist die »Differenz zwischen dem Urbild und dem Nachbild ... Das war einmal und das ist jetzt: das wurde früher gesagt, und das sage ich heute ... die Umkehr, die Zutat, der inszenierte Dissens zwischen Gestern und Heute.«

Walter Jens, geboren 1923 in Hamburg, Studium der Klassischen Philologie und Germanistik in Hamburg und Freiburg/Br. Promotion 1944 mit einer Arbeit zur Sophokleischen Tragödie; 1949 Habilitation, von 1962 bis 1989 Inhaber eines Lehrstuhls für Klassische Philologie und Allgemeine Rhetorik in Tübingen. Von 1989 bis 1997 Präsident der Akademie der Künste zu Berlin. Verfasser von zahlreichen belletristischen, wissenschaftlichen und essayistischen Büchern (darunter zuerst 'Nein. Die Welt der Angeklagten' 1950, 'Der Mann, der nicht alt werden wollte', 1955), Hör- und Fernsehspielen sowie Essays und Fernsehkritiken unter dem Pseudonym Momos; außerdem Übersetzer der Evangelien und des Römerbriefes. Walter Jens war seit 1951 verheiratet mit Inge Jens, geb. Puttfarcken. Als 'Grenzgängern zwischen Macht und Geist' wurde beiden 1988 der Theodor-Heuss-Preis mit der Begründung verliehen: 'Gemeinsam geben Inge und Walter Jens sowohl durch ihr schriftstellerisches Werk wie durch ihr persönliches Engagement immer wieder ermutigende Beispiele für Zivilcourage und persönliche Verantwortungsbereitschaft.'Walter Jens starb am 9. Juni 2013 in Tübingen.

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Leseprobe

Odysseus: Das Doppelgesicht des Intellektuellen


Erster Diskurs


Zürich, 1. August: Während die Militärs die letzten Reserven mobilisieren, Winston Churchill, zum Luftfahrt- und Munitionsminister ernannt, Großadmiral Tirpitz das Fürchten lehrt, Soldaten, zu Hekatomben, zwischen Riga, Flandern und dem Isonzo elendig verrecken, ein bolschewistischer Aufstand scheitert, Kerenski die Macht übernimmt und ein Friedensappell des Papstes wirkungslos bleibt (1. August 1917: Friedensnote Benedikt des Vierzehnten an die kriegführenden Mächte), meditiert, in der neutralen Schweiz, ein Schriftsteller von pazifistischer Gesinnung über einen Roman, dessen Hauptfigur jener ebenso berühmte wie verkannte griechische Held ist, dessen Konturen der Poet, an diesem 1. August 1917, einem jungen Mann verdeutlicht, der bei ihm Lektionen im Englischen nimmt.

Der Name des Schriftstellers: James Joyce. Der Name des Helden: Odysseus. Der Name des Sprachschülers: Georges Borach, ein liebenswerter und nicht unbemittelter Mann, lernbereit und großzügig (zum Wohl des Ulysses werden auch nicht gehaltene Unterrichtsstunden bezahlt) – ein Liebhaber der Literatur, der (nochmals: am 1. August 1917) in sein Tagebuch schreibt: »J.J. meint: Das schönste, alles umfassende Thema ist die Odyssee. Es ist größer, menschlicher als Hamlet, Don Quichote, Dante, Faust. Das Jungwerden des alten Faust berührt mich unangenehm. Dante ermüdet rasch, wie wenn man in die Sonne blicken würde. Die schönsten, menschlichsten Züge enthält die Odyssee. Ich war zwölf Jahre alt, als wir in der Schule den Trojanischen Krieg behandelten, nur die Odyssee blieb bei mir haften.«

Joyce, dies legt Borachs Tagebuch nahe, hat im Sommer 1917 offenbar die große Passion seines Lebens bekannt: seine Liebe zu einem ebenso intelligenten wie unheroischen Mann, dem er schon in den Dubliners (seiner »Telemachie«) einen Ehrenplatz geben wollte: aber der wäre allzu bescheiden gewesen – also mußte eine Fortsetzung her: die ganze Odyssee, der ganze Odysseus: »Warum kam ich immer wieder auf dieses Thema? Gegenwärtig, ›nel mezzo del camin‹, ist für mich der Stoff der Odyssee der menschlichste der Weltliteratur: Odysseus wollte nicht nach Troja ziehen, er wußte, daß der offizielle Kriegsgrund, ›Ausbreitung der Kultur Hellas’‹, nur Vorwand war für die griechischen Kaufleute, die neue Absatzgebiete suchten. Als die Aushebungsoffiziere kamen, war er gerade beim Pflügen. Er stellte sich irrsinnig. Sein zweijähriges Söhnchen legte man darauf in die Furche. Vor dem Kinde hält er mit dem Pfluge.«

»Beachten Sie [Anrede an Borach, aber zugleich an die Leser: an uns] die Schönheit der Motive; der einzige Mann aus Hellas, der gegen den Krieg ist und der Vater ist. Vor Troja verbluten die Helden umsonst. Man will abziehen. Odysseus ist dagegen. Die List des hölzernen Pferdes.«

Wie, fragt Joyce, ist das zu verstehen? Ein Pazifist als Mörder? Der friedliche Vater, mit der Vernichtungswaffe, im Innern eines Tanks, der wie ein Spielzeug, ein Geschenk für artige Kinder, drapiert ist? Und weiter (die Tagebucheintragung, ergänzt durch Borachs Briefe, umfaßt viele Seiten)! Ein Kriegsmann als Wanderfreund? Ein Haudegen als Sänger? Ein verschlagener Intellektueller als Schriftsteller, Artist und Künstler? »Ich fürchte mich fast, ein solches Thema zu behandeln, es ist zu gewaltig.«

Nun, Joyce wußte sehr wohl, worauf er sich einließ: Der Gedanke einer radikalen Umfigurierung war präzise und überzeugend. Statt die halbe Welt sollte der mit Ulysses’ Gedanken ausgestattete Odysseus nur eine einzige Stadt, Dublin, durchwandern, statt der zehn Jahre sollte nur ein einziger Tag, der 16. Juni 1904, vergehen, und statt des Speers hatte Ulysses-Joyce ein zivileres Instrument mit sich zu führen: die Zigarre!

Aber was war mit den Quellen? Trugen sie – als mitzudenkende Mitgift – die Variationen? War Kapitel für Kapitel tatsächlich das (Stuart Gilbert anvertraute) Urmodell zu erkennen: Skylla und Charybdis – Streitgespräche in einer Bibliothek? (Über Hamlet, den für Joyce zwar hinter Odysseus weit zurückbleibenden, aber gleichwohl für ein Streitgespräch zwischen Vater und Sohn, Ulysses-Bloom und Stephan Daedalus-Telemach, tauglichen Dänen.) Die Laistrygonen – Sänger in einer irischen Kneipe, rauhkehlig und immer mit dem Glas Bier an der Theke. Die Kirke-Episode, eine Szene, walpurgisnachtartig, im Bezirk der roten Laternen. Die griechische Zauberin – heimgekehrt in einen Dubliner Puff!

Nun, Joyce kannte die Quellen genau: Jedes Detail – eingeschmolzen in den Kontext einer irischen Geschichte um 1900 … mit einem jüdischen Helden, der dem griechischen outcast: dem Intellektuellen unter den wackeren Streitern, dem Nachdenklichen unter den Boxern von Ajas’, Agamemnons, aber auch Achilleus’ Rang (»Straßenköter« und »Bullbeißer« hat Shakespeare in Troilus und Cressida Ajas und Achilleus genannt) und dem Einsamen unter selbstgewissen Genossen sehr genau entsprach.

Aber ein Friedensmann und gutmütiger Vater: das, sollte man denken, ist der vielgewandte Sagenheld denn doch nicht gewesen: das ist eine Erfindung jenes James Joyce, der sich nicht genugtun konnte, die Krämer und Händler, diese Ideologen eines imperialistischen Raubkriegs unter dem Motto »Wir bringen euch die Kultur«, mit dem Pazifisten, einer männlichen Kassandra-Figur, zu konfrontieren. Nur gemach! Joyce hatte, bei seiner Variation des Modells: einem Meisterstück alexandrinischer List, nicht nur seinen Homer und nicht nur die Odyssee, die er als Junge liebte, weil sie so mystisch war: eine verwunschene Comic-Moritat, sondern auch die Sekundärquellen zur Hand, gelehrte Handbücher, mythologische Verweise und spätantike Exzerpte … Belege, die ihn instand setzten, auch scheinbar aberwitzige Thesen als gut begründet und durch die Tradition gesichert zu erweisen.

Odysseus, ein bescheidener Landesherr, der seine Penelope liebt und häufiger bei Gesprächen mit Telemach, seinem Sohn, als bei Ritterspielen anzutreffen ist? Voilà, der Mann wurde nicht von Joyce, sondern von spätantiken Kommentatoren als eine Gegenfigur zu den Bellizisten dargestellt – wobei es freilich für Joyce’ Spürsinn spricht, daß er, dieser geniale Ummodler des Heroen Odysseus, die ihm genehmen Quellen mit einer Sicherheit ausfindig macht, die in der Geschichte der Literatur nahezu beispiellos ist.

Odysseus – ein Drückeberger? Sehr wohl! – nachzulesen bei Hygin … und zwar so: Odysseus, ein milder und besonnener König, eher Provinzverwalter als stampfender Herrscher wie die beiden Atriden, fühlte sich zu Hause wohl und hatte um so weniger Lust, in den Krieg zu ziehen, als ihm vom Orakel geweissagt wurde, er werde erst nach zwanzig Jahren heimkehren: ohne Rüstung, ein Flüchtling, elend und nackt – und das hieß für Odysseus: untertauchen! Sich kleinmachen und ducken, wo immer es ging – auch dann noch, als die Kriegsgesandtschaft kam (wir erinnern uns an Borachs Tagebuchnotiz): Agamemnon, Menelaos und, dies vor allem, Palamedes (der einzige Grieche, der es mit Odysseus an Intelligenz, Einfallsreichtum und List aufnehmen konnte). Da kehrte der Ehemann und Vater, der um keinen Preis der Welt ein strahlender Kriegsheld sein wollte, den Irrwitz heraus, stellte sich blöd und spielte, Shakespeare präludierend, den Narren, indem er einen Hut aufsetzte (was auf Ithaka nicht üblich war, wohl aber später in Dublin) und einen Esel und einen Ochsen vor seinen Pflug spannte. (Wolfgang Hildesheimer hat in eindrucksvoller Weise über die Hüte im Ulysses meditiert.)

Der Narr hinter zwei Tieren aus der lukanischen Weihnachtsgeschichte – eine kuriose Dreieinigkeit, in der Tat. Das Meisterstück eines findigen Kopfes, der den Clown machte, um sich dem Waffendienst zu entziehen – ein Meisterstück freilich, das zwar geringere Geister, wie die beiden Atreus-Söhne, täuschen konnte (»Komm, Bruder, ziehen wir ab; der Mann ist unbrauchbar, wir verlieren nur Zeit«), nicht aber Odysseus’ alter ego, den ihm an Phantasie ebenbürtigen Palamedes.

Ein Schachspiel auf Leben und Tod: Odysseus zieht, der Kontrahent repliziert – mit einem Schäferzug, wenn’s beliebt. Telemach wird in die Furche gelegt, Palamedes schaut zu, wie Odysseus näher kommt, und lächelt: gewonnen. Odysseus, der seinem Kind nicht weh tun will, hebt den Pflug hoch über den Körper des Kindes – und geht mit nach Troja: ein anderer Odysseus seit dieser Stunde. Einer, der (Joyce hat viel Gelegenheit, die große Wende in Ulysses’ Leben zu bedenken) in einem Akt des schauerlichsten Sadomasochismus den Friedensfreund in einen Mörder verwandelt; einer, der – »gut gelernt, Bruder!« – in Palamedes’ Spuren geht, wenn er den zögerlichen Achill durch eine List nach Troja treibt. Auch das Thetis-Kind nämlich wollte sich drücken und hatte sich, überzeugt durch seine Mutter, die um den frühen Tod ihres Lieblingssohns wußte, ihn aber nicht akzeptierte, in Mädchenkleider gehüllt, hatte sein Pläsier beim Puppenspiel und Handarbeit, wurde, weitab von der Welt, auf Skyrus, zusammen mit der Königstochter Deidamia erzogen – vergebens, die Flucht; auch der zweite Schauspieler, Achill alias Pyrrha, wie er sich nannte, wurde entdeckt: Eine Schar junger Mädchen – eine schöner als die andere, wie ich vermute, jede eine Nausikaa – spielte am Meer (oder vorm Palast, in einem Hain, bei Aphrodites Tempel: einerlei), als Odysseus kam und sich überlegte: Wer, im Kreise der Schönen, ist nun...

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