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Bis der letzte Ton verklingt

Die Geschichte des irakischen Jugendorchesters

AutorPaul MacAlindin
VerlagHeyne
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783641199739
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Bis der letzte Ton verklingt erzählt die Geschichte von Mut und Musik inmitten eines zerstörten Landes. Auf die Initiative junger irakischer Musiker entschließt sich der erfolg-reiche Dirigent Paul MacAlindin, das sichere Europa zu verlassen und zwischen militäri-scher Gewalt und politischer Repression das National Youth Orchestra of Iraq zu leiten. Er ist begeistert vom Engagement und Talent der Nachwuchskünstler, die trotz persönlicher Schicksalsschläge weder die Hoffnung in die Zukunft noch die Liebe zur Musik verloren haben. Auftritte in der ganzen Welt, Widerstand im eigenen Land - MacAlindin beschreibt die Höhen und Tiefen in der jungen und doch ereignisreichen Geschichte des Orchesters.

Paul MacAlindin, geboren im schottischen Aberdeen, ist seit 1993 als Dirigent aktiv. Er war zunächst Assistent von Sir Peter Maxwell Davies und wirkte beim Scottish Chamber Orchestra, beim BBC Philharmonic und beim Royal Philharmonic mit. Anschließend leitete er verschiedene Orchester, darunter die New Zealand Symphony, die Tonhalle Düsseldorf und das National Youth Orchestra of Scotland. In seinem Buch beschreibt er seine Zeit als Dirigent des National Youth Orchestra of Iraq.

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Leseprobe

1

Irakischer Teenager sucht Maestro

Im Oktober 2008 war mein Vater aus dem Dundee Royal Infirmary entlassen worden und erholte sich von einem kleineren Eingriff. Das war ein guter Anlass, um meinem alten Herrn einen Besuch abzustatten. Nachdem ich von meinem Wohnort Köln nach Edinburgh geflogen war, suchte ich wie üblich in der Innenstadt meinen Lieblings-Pub auf, das Barony in der Broughton Street, das mich bereits mit Fish and Chips und einem Bier erwartete.

Am Sonntag, dem 19. Oktober, herrschte für Edinburgher Verhältnisse einigermaßen gutes Wetter. Allerdings hatte kurz zuvor in New York die Investmentbank Lehman Brothers Insolvenz angemeldet; was wiederum Künstler auf der ganzen Welt mit einer schweren Rezession konfrontierte. Meine jüngsten Konzerte in Armenien, New York und Neuseeland waren zwar auf positive Resonanz gestoßen, trotzdem musste ich mich neu orientieren, wenn ich diese Phase unbeschadet überstehen und meine Energien in eine andere Richtung lenken wollte.

Während ich im Barony am Tisch saß, fiel durch eines der Erkerfenster ein silbergrauer Lichtstrahl auf ein gelesenes Exemplar des Glasgow Herald, das neben meinen Fish and Chips lag. Beim Durchblättern fiel mein Blick auf die Überschrift »Britischer Maestro für Orchestergründung im Irak gesucht«. Gott sei Dank stand dort »Maestro«! Bei dem Wort »Dirigent« hätte ich wahrscheinlich weitergeblättert. Während ich die Meldung las, wurde mir klar, dass das eine große Sache werden konnte. Zuhal Sultan, eine siebzehnjährige Pianistin aus Bagdad, suchte einen Dirigenten, der ihr half, im Irak ein nationales Jugendorchester aufzubauen.

Nur damit man eine richtige Vorstellung von der Sache bekommt: Worauf konnte man so kurz nach dem Ende des Krieges in einem Land ohne erkennbare Orchestertradition zurückgreifen? Wer machte dort überhaupt Musik? Und wie hörte sie sich an? Wer waren die Lehrer? Und in welchem Zustand waren die Instrumente? Wie konnte es sein, dass ich und all die anderen Menschen im Westen, die in den Medien mit Bildern vom Blutvergießen und Elend bombardiert wurden, nicht wussten, wer die Iraker wirklich waren? Wie sah ihre Kultur aus? Den Blick auf den Artikel gerichtet, die Gabel mit dem Fisch vor dem Mund, sagte ich mir: »Ich weiß, wie man das hinkriegt.«

In diesem Moment stellte ich mir vor, wie Zuhal und ihre Kollegen sich für den ersten Auslandskurs bewarben und ich das British Council irgendwie dazu überredete, Gelder und Logistik zur Verfügung zu stellen. Außerdem begriff ich, dass ich nie wieder die Möglichkeit bekommen würde, ein nationales Jugendorchester zu gründen, und welch große Ehre das wäre. Mit meinen vierzig Jahren hatte ich immer noch die nötige Energie. Während ich im Barony alleine vor meinem Essen saß, lief vor meinem geistigen Auge meine Zukunft ab.

Mit dem herausgerissenen Artikel in der Hand lief ich zur St. James Bus Station hinauf. Da ich vermeiden wollte, dass auf meinem deutschen Handy horrende Auslandsgebühren anfielen, suchte ich ein Münztelefon und rief einen alten Kumpel im British Council an. »Hast du schon davon gehört?«, fragte ich Paul Parkinson, einen ehemaligen Komponisten. Paul war ein entspannter Bursche und schickte für das British Council Hip-Hop-Acts und Vertreter anderer Musikrichtungen rund um den Globus. Wir teilten nicht nur die Liebe zur klassischen Musik, sondern waren uns auch schnell einig, dass dieses Projekt aufgrund der britischen Beteiligung am Irakkrieg von großer Bedeutung sei. Nachdem Paul mir ruhig zugehört hatte, meinte er, er würde »die Sache weiterverfolgen«.

Als ich später an jenem Tag in dem alten Fischerdorf Anstruther in East Neuk of Fife eintraf, sah ich, dass mein Vater sich langsam erholte und guter Dinge war. Er war auf seine eigene Art ein Kämpfer, war Journalist und Redakteur für verschiedene schottische Zeitungen gewesen und hatte stets eine Möglichkeit gefunden, in seiner Gemeinde eine Führungsrolle zu übernehmen. Er war aber auch ein glühender Thatcher-Anhänger gewesen – bis eines Tages sein Vertrauen in Maggies Politik des freien Marktes erschüttert wurde. Es passierte in einem TESCO-Supermarkt in St. Andrews, wo er, seit er im Ruhestand war, die Regale auffüllte. Als er an einem Samstag eine Stunde vor Ladenschluss mit dem Preisauszeichner die verderblichen Waren herabsetzte, bildete sich hinter ihm eine Schlange Rentner, die nach jedem Artikel grapschten, den er gerade umetikettierte. In diesem Moment begriff er, was Thatchers neoliberale Politik in der Gesellschaft angerichtet hatte; und dadurch kamen er und ich uns – obwohl wir uns trotz unserer unterschiedlichen Ansichten sehr liebten – ein Stück näher; außerdem fühlte ich mich in meiner Haltung aus der Studentenzeit nachträglich bestätigt.

Und nun wollte ich mich auf einmal auf die klassische neo-liberale Odyssee einlassen. Oder um Norman Tebbit, den ehemaligen Vorsitzenden der Konservativen, zu paraphrasieren: Ich wollte mich auf mein Fahrrad schwingen und Arbeit suchen.

Die Pressemitteilung über Zuhal war vom Londoner Büro der Firma Raw TV herausgegeben worden, mit der die Produzentin Jo Woolf für Channel 4 die Reality-Show Battlefront produzierte. Obwohl die Mitteilung landesweit herumgeschickt worden war, hatte der Glasgow Herald sie als einzige Zeitung abgedruckt. Es war kein Problem, mit Jo Kontakt aufzunehmen. Die Sendung Battlefront unterstützte Teenager, die sich gesellschaftlich engagierten, und verfolgte den Verlauf ihrer Bemühungen. Einer der Jugendlichen hatte dem Internet-Mobbing den Kampf angesagt. Einige organisierten Demonstrationen gegen Schwulenfeindlichkeit. Ein weiterer Teilnehmer, der mit seiner rotzfrechen, selbstbewussten Art und seiner entwaffnenden Natürlichkeit viele Fans gewonnen hatte, versuchte, ein Gesetz durchzusetzen, das das Rauchen in Autos untersagte. Als Kind hatte er im Wagen seiner Eltern den Zigarettenqualm einatmen müssen und war an Asthma erkrankt.

Nachdem Jo durch das British Council im Irak auf Zuhal aufmerksam geworden war, hatte sie sie als internationale Teilnehmerin für die Sendung verpflichtet. Allerdings war ihr nicht ganz klar, worauf sie sich einließ, denn Zuhal saß im Irak fest, und niemand wusste, mit was für Schwierigkeiten man zu tun hatte, wenn man in einer Krisenregion des Nahen Ostens ein Jugendorchester gründete. Jo übernahm die Verantwortung für Zuhals Vorhaben, aber die unsicheren Handy- und Internetverbindungen erschwerten ihre Arbeit. Seit dem Ende des Krieges konnte man im Irak fast nur noch mobil telefonieren und bekam nur mit Glück eine Verbindung; und die Internetverbindung über Satellit war sehr teuer. Jo musste versuchen, Ruhe zu bewahren und Zuhal zu vertrauen, und irgendwie weitermachen. Es brauchte seine Zeit, um Vertrauen aufzubauen.

Anfang November arrangierte Jo via Skype mein erstes Gespräch mit Zuhal. Ich saß zu Hause in Köln im Brownies, einem Café mit WLAN-Anschluss, vor meinem Laptop und wartete auf ihren Anruf aus Bagdad. Das Brownies war ein überteuerter Yuppie-Laden für Leute, die vor ihrem Laptop hockten und sich als Teil der Gesellschaft fühlen wollten, ohne auf das Internet zu verzichten. Da ich auch zu diesen Leuten gehöre, wurde es für die Internet-Phase des Projekts zu meinem Stammcafé.

Nach diesem ersten Gespräch hatte ich das Gefühl, eine Stunde lang wie ein Wasserfall geredet zu haben. Zuhal, ein intelligentes und selbstbewusstes Mädchen, hätte jeden davon überzeugt, dass er sich gerade mit der siebzehnjährigen Schülerin eines Eliteinternats unterhält. Allerdings kam es mir stellenweise so vor, als wäre sie vierzig – und ich das Mädchen.

Später an jenem Tag fasste ich unser Gespräch in einer E-Mail zusammen:

Hi Jo,

Zuhal und ich haben uns gerade eine Stunde lang über Skype unterhalten.

Dies sind meiner Meinung nach die wichtigsten Punkte unseres Gesprächs:

– Von Zuhals Ansprechpartnern überall auf der Welt, besonders Allegra Klein in den USA, gibt es bereits eine Menge Unterstützung.

– Für ihren Plan, ein nationales Jugendorchester zu gründen, bekommt Zuhal im Irak viel Zuspruch. Die beiden wichtigsten Maßnahmen wären: die Einrichtung eines Spendenkontos und die Anerkennung des Orchesters außerhalb des Irak als gemeinnützige Organisation; außerdem muss eine vertrauenswürdige Organisation das Konto verwalten.

– In Verwaltungsfragen bekommt Zuhal Unterstützung vom Bibliothekar des Irakischen Symphonieorchesters.

– Wir haben darüber gesprochen, dass sie sich von der Sendung Battlefront mehr Unterstützung erhofft hatte. Meiner Meinung nach ist die Sendung nicht geeignet, um mit den Interessenvertretern des britischen Klassikmarktes zu kommunizieren, da die meisten von ihnen nicht der Generation Y angehören. Diese Unternehmen haben ihren Sitz in Großbritannien und wissen nicht, wie sie jemanden im Irak unterstützen können, außerdem ist die Musikindustrie im Klassikbereich ein abgeschotteter, rückwärtsgewandter Zirkel, der keine Kontakte über das Internet oder zur Unterhaltungsindustrie...

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