Prolog:
Zahlen in unserer Zeit
Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung,
aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten.
Daniel Patrick Moynihan1
»Postfaktisch« war das Wort des Jahres 2016. Gemeint sind damit politische Argumentationsmuster, in denen Fakten keine Rolle mehr spielen und der Redner bei seinen Zuhörern lieber Ängste weckt und an egoistische Ressentiments appelliert. Man verbindet sie hauptsächlich mit Nationalisten wie Donald Trump, den Brexitisten, der AfD in Deutschland, der FPÖ in Österreich oder der SVP in der Schweiz. Doch das Phänomen ist älter und viel weiter verbreitet, als die Kritiker 2016 dachten. Hier ein Beispiel – eine Trickserei mit Zahlen und Fakten: Seit vielen Jahren geistert der »demografisch bedingte Ärztemangel« durch die gesundheitspolitischen Debatten in Deutschland.2 Angeblich gehen uns die Ärztinnen und Ärzte aus, und angeblich liegt das daran, dass es zu wenig junge Leute gibt, die Mediziner werden wollen. Das wäre in einer Gesellschaft mit wachsendem Anteil älterer Menschen problematisch. Doch wir wagen die Gegenrede. Denn es besteht seit Jahrzehnten ein scharfer Numerus clausus im Studienfach Medizin, und der hindert viele junge Leute, die gerne Arzt oder Ärztin werden wollen, daran, ihren Berufswunsch zu realisieren. Wenn es wirklich zu wenig junge Mediziner gibt, wäre es leicht, das zu ändern: einfach mehr Geld in die Hochschulen stecken, mehr Studienplätze für Medizin schaffen und den Numerus clausus aufheben. Ob es tatsächlich zu wenig junge Ärzte gibt, steht auf einem anderen Blatt; möglicherweise verteilen sie sich nur ungünstig im Land.
Wir sehen hier den »klinischen Fall« einer postfaktischen Argumentation: Es wird eine Behauptung aufgestellt, die wie ein Faktum aussieht und sogar in Zahlenform dargestellt wird, so als hätte man diesen Mangel gemessen. Zugleich wird ein wesentliches, weithin bekanntes Faktum, der Numerus clausus für das Medizinstudium, komplett ignoriert, obwohl es direkt mit dem ersten »Faktum« zusammenhängt. Eins und eins liegen auf dem Tisch, werden aber nicht zusammengezählt. Stattdessen wird ein Popanz aufgestellt: Der demografische Wandel der Gesellschaft soll am Mangel schuld sein. Auch spielt hier die Angst mit, dass wir im Alter keine Ärzte mehr finden könnten, die uns behandeln. In diesem Buch wollen wir Zahlentricksern auf die Schliche kommen und Ihnen, werte Leserin, werter Leser, an vielen konkreten und hoffentlich spannenden Beispielen zeigen, wie man das macht. Und zwar mitten in den Stammrevieren der Trickser, dort, wo sie sich täglich tummeln – auf Feldern wie Nationalismus, Reichtum und Armut, Wirtschaft, Meinungsforschung, Demografie, Militär oder Umweltpolitik. Wir hoffen sogar, dass wir Sie dazu ermutigen können, künftig selber auf die Pirsch zu gehen und Zahlentrickser in Ihrem Interessengebiet oder Umfeld »zu erlegen«. Doch warum ist das eigentlich wichtig?
Es ist wichtig, weil vor allem in Politik und Wirtschaft zahlengestützte Argumente eine riesige Rolle spielen. Wir begegnen dort ständig Meinungsführern und Entscheidern, die so tun, als würden sie gar keine persönliche Meinung vertreten, sondern stattdessen einen angeblichen Sachzwang referieren, der allen vernünftig denkenden Zeitgenossen »keine Alternative« lässt. Da die meisten Menschen einen Heidenrespekt vor Zahlen haben und vor denjenigen, die sie ermitteln und so souverän damit umgehen, funktioniert der Trick so gut: Wer »die Zahlen« auf seiner Seite hat, setzt sich häufig durch. Es sei denn, eine kritische Stimme kann auf die Schnelle plausibel machen, dass der Zahlentrickser uns gerade einige wichtige Zahlen verschweigt, die ihm nicht in den Kram passen. Oder dass er seine Zahlen sogar weitgehend frei erfunden hat. Dann wird auf einmal klar, dass der Trickser eben doch eine persönliche Meinung hatte und sein »Sachzwang« vorgeschoben war. Somit wird eine Art Waffengleichheit hergestellt, ein freier Meinungsstreit wird eröffnet, ein demokratischer Diskurs unter gleichberechtigten, souveränen Akteuren kann beginnen.
Es ist auch deshalb wichtig für Sie, liebe Leserin und lieber Leser, weil Zahlen oft benutzt werden, um Sie über den Tisch zu ziehen. Lobbyisten setzen sich auf Ihre Kosten durch, weil deren Interessen angeblich wichtiger sind als Ihre. Unternehmen drücken Ihre Preise oder Ihren Lohn, weil sie angeblich sonst geradewegs in den Ruin treiben. Das muss nicht sein, denn wenn Sie fit darin sind, Zahlentricks zu erkennen und zu kritisieren, haben Sie gute Chancen, Ihre berechtigten Interessen zu wahren.
Dabei haben wir gerade so getan, als seien Zahlen und Statistiken in politischen Debatten oder wirtschaftlichen Streitfragen meistens getrickst oder gefälscht. Das ist sicher nicht so. Passend ausgewählt sind sie fast immer, aber in der Regel haben sie Hand und Fuß und bilden tatsächlich wesentliche Elemente der Wirklichkeit ab, so gut Zahlen das eben können. Oft können sie es aber gar nicht so gut, wie viele glauben. Auch das ist uns ein wichtiges Anliegen in diesem Buch: Ihnen zu zeigen, wo Zahlen und Statistiken an ihre Grenzen stoßen, und wie wir mit solchen Situationen umgehen können.
Ein wichtiges Werkzeug, um Zahlentricks auf die Spur zu kommen, ist die Frage, wem eine bestimmte Aussage nützt. Wem nützt zum Beispiel das Gerede vom »demografisch bedingten Ärztemangel«? Politiker nutzen die Demografie als Feigenblatt, um zu verbergen, dass ihr eigener Sparkurs im Bildungs- und Hochschulwesen an den Problemen schuld ist. Reiche und Unternehmer, deren Steuern sie gesenkt haben (siehe Kapitel 2), danken ihnen im Hintergrund für dieses wohlfeile Ablenkungsmanöver.
Wem nützt es, wenn die Deutschen als »Zahlmeister Europas« auftreten, obwohl sie es gar nicht sind, wenn man die Zahlungen pro Kopf betrachtet (siehe Kapitel 1)? Dass Deutschland mehr einzahlt als Luxemburg oder Österreich, ist eine Binsenweisheit. Es nützt der Bundesregierung, wenn sie die Interessen deutscher Konzerne auf EU-Ebene gegen die anderen Regierungen oder gegen übergreifende Interessen, zum Beispiel den Umweltschutz, durchsetzen will (siehe Kapitel 10 über die Autoindustrie). Es nützt deutschen Nationalisten, wenn sie sich in dem Gefühl baden möchten, dass die Deutschen das beste und ehrlichste Volk der Welt seien, die anderen aber alle Betrüger und Ganoven.
Wenn etablierte Politiker oder Unternehmer mit Zahlen tricksen, kann das zwei Gründe haben: Sie wollen sich selbst besser darstellen, oder sie wollen den Interessen bestimmter Gruppen zum Durchbruch verhelfen, ohne sie zu nennen. Ersteres ist eigentlich normal, ein »Così fan tutte – So machen’s alle«. Wenn Sie sich irgendwo bewerben oder eine Frau, einen Mann beeindrucken wollen, werden auch Sie nur ausgewählte Fakten über sich selbst mitteilen und andere verschweigen. Das ist verständlich, aber wir müssen Ihnen ja nicht unbedingt auf den Leim gehen.
Die Sache mit den Gruppeninteressen ist das üblere Phänomen, weil es viel schwerer zu durchschauen ist. Denn oft ist zunächst gar nicht klar, welche Gruppen das sind, und oft sind gerade solche Tricksereien besonders sorgfältig eingefädelt. Da das Publikum aber dennoch etwas von der Verlogenheit spürt, entwickelt sich bei vielen ein generelles Misstrauen – die berüchtigte Politikverdrossenheit. Sobald Zahlen und Statistiken im Spiel sind, kleidet sie sich gerne in den Satz: »Traue keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.«
Dieses generelle Misstrauen ist gefährlich. Es hilft denen, die sich davon leiten lassen, in der Regel nicht weiter. (Wir können Ihnen versichern: Wenn Sie gar keiner Statistik mehr trauen, werden Sie erst recht verarscht.) Das Misstrauen wird von Nationalisten und Verschwörungstheoretikern hemmungslos ausgenutzt, um extrem egoistische, rücksichtslose, brutale und kurzsichtige Maßnahmen zu propagieren, die unsere Gesellschaft nur ins Elend stürzen können, oder um kruden Unfug teuer zu verkaufen. Insofern kann man sagen: Wer Zahlentricks sät, wird Trumps, Petrys, Le Pens, Straches und Blochers ernten.
Wir hoffen, mit unserem Buch einen Beitrag zur Aufklärung im weitesten Sinne leisten zu können. Wir wollen Zahlen und Statistiken rehabilitieren als wichtige Hilfsmittel, mit denen wir uns Zusammenhänge klarmachen und einigermaßen treffsicher in Entscheidungen eingreifen können. Wenn Zahlentricks auffliegen und öffentlich kritisiert werden, steigt die Qualität des Zahlenmaterials und zugleich das demokratische Niveau politischer und wirtschaftlicher Debatten. Politik wird dann vielleicht wieder mehr als etwas Positives verstanden: als Ensemble öffentlicher Angelegenheiten, um die sich jeder kümmern kann und sollte, als offener Austausch möglichst guter Argumente. Etwas Besseres können wir nicht tun, um Leuten das Wasser abzugraben, die von Ängsten und Ressentiments profitieren wollen.
Das klingt vielleicht arg hoch gegriffen, deshalb ist es Zeit, unsere eigene Rolle wieder etwas tiefer zu hängen. Wir sind keine Engel und keine Weisen, sondern beide selber politisch engagiert (Gerd B. vor allem sozialpolitisch, Jens K. vor allem umweltpolitisch) und jeder in eine Berufspraxis eingebunden. Das heißt für Sie: Die Auswahl unserer Themenfelder und unserer Beispiele spiegeln unsere Interessen und Erfahrungen wider und nicht automatisch Ihre Interessen. Wir hoffen natürlich, dass da möglichst viel zusammenpasst....