Einleitung
Das vorliegende Buch möchte zeigen, wieviel im Werk J. R. R. Tolkiens der skandinavischen, englischen und sogar deutschen Literatur des Mittelalters und der vorchristlichen germanischen Mythologie entnommen und literarisch verwertet worden ist. Anlaß war die Tatsache, daß ich als Altnordist, der auch begeisterter Leser von The Hobbit und The Lord of the Rings ist, meine Kinder immer wieder auf die Zusammenhänge zwischen Tolkiens Romanen und meiner eigenen Arbeit zur vorchristlichen germanischen Religion und zur mittelalterlichen skandinavischen Literatur aufmerksam gemacht habe. Vielleicht auch, um sich diese dauernden Hinweise zu ersparen, haben sie vorgeschlagen, daß ich daraus doch ein Buch machen solle – dieses Buch wendet sich daher auch ganz bewußt an jüngere Leser.
Es ist keinesfalls meine Absicht, einen Wegweiser durch Tolkiens gesamtes Werk zu geben oder die angesprochenen Figuren und Motive innerhalb der Tolkienschen Mythologie zu erklären; dafür sei auf einschlägige Nachschlagewerke und Companions verwiesen.[1]
Tolkien hat für seine Werke, von denen ich also in erster Linie The Hobbit und The Lord of the Rings, aber auch The Silmarillion herangezogen habe, natürlich die unterschiedlichsten Quellen benutzt. Dennoch darf nicht vergessen werden, daß er als Altanglist, Altskandinavist und ganz allgemein als Philologe einen breiten Wissenshintergrund hatte, der besonders die germanischen und keltischen Sprachen, Literaturen und Mythologien umfaßte. Zwar sind sein Corpus an Namen und einige von den Urbewohnern von Mittelerde benutzte Sprachen vorwiegend durch das Keltische geprägt, aber gerade im Hinblick auf den Sagenschatz und die Mythologie sind die germanischen Quellen wichtiger als die keltischen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussehen mag. Von den Hobbits, Zwergen und Elben, die er – wenn auch stark verändert – den frühmittelalterlichen germanischen Vorstellungen entlehnt hat, bis hin zum Hauptthema des Rings im The Lord of the Rings sind die wesentlichen Elemente im Werk Tolkiens den germanischen Literaturen und dabei besonders dem altskandinavischen, weniger dem altenglischen Fundus an Stoffen und Motiven entnommen.
Man könnte also den Hobbit, The Lord of the Rings und das Silmarillion Stück für Stück nach den Vorlagen und Vorbildern durchforsten, was aber wohl ein wenig eintönig wäre und auch die Ideen- und Vorstellungsnetze innerhalb von Tolkiens Werk zu stark zerreißen würde. Es sollen daher bestimmte Themenbereiche – wie etwa das Personen- und Ortsnamenmaterial, die verschiedenen Wesen der niederen Mythologie oder die Rolle Odins – systematisch untersucht werden. Dies geschieht natürlich exemplarisch, eine Analyse aller von Tolkien verwendeten Motive und Stoffe würde den Umfang seines Werks sicher noch übersteigen.
Ein Register zu den hier behandelten Namen und Begriffen soll die Spurensuche erleichtern. Die Zitate aus Tolkiens Romanen sind durchwegs auf Englisch und Deutsch gehalten, da die deutschen Übersetzungen nicht immer ganz geglückt sind – vor allem was Namen anbelangt – und damit mitunter viel von Tolkiens Sprache verlorengeht. Kurze Zitate aus Tolkiens Briefen oder Essays werden meist nur auf Deutsch wiedergegeben (in diesem Fall stammen die Übersetzungen von mir), nur ganz kurze Phrasen oder Zitate, wo es mir um den ursprünglichen Wortlaut ging, sind auf Englisch belassen. Zitate aus mittelalterlichen altnordischen und altenglischen Texten dagegen sind durchwegs ins Deutsche übersetzt.
Wenn vieles aus Tolkiens Werk in diesem Büchlein keine Erwähnung findet, dann einerseits wegen der Beschränkung des Umfangs, andererseits, weil eben nur deutliche Anklänge germanischer Stoffe, Motive oder Namen aufgenommen wurden – natürlich gibt es noch eine Menge zu entdecken.
Was ist nun Germanische Mythologie? Im allerweitesten Sinn ist es die Gesamtheit des geistigen Überbaus in Form von Sagen, Legenden und Heldendichtungen, die für die germanischen Stämme des ersten Jahrtausends nach Christus bekannt ist. Noch Mitte des 20. Jahrhunderts war man überwiegend der Ansicht, daß sich die Germanen «bis zur Einführung des Christentums das ursprüngliche, einheitliche Gepräge ihrer Kultur ungestört bewahrt haben»[2], aber heute gilt dies nicht mehr. Es läßt sich nicht nachweisen, daß diese germanischen Stämme zwischen Schwarzem Meer und Island, zwischen Schweden und Nordafrika überhaupt so etwas wie einen gemeinsamen Vorrat an Erzählungen und Vorstellungen besaßen, obwohl einzelne religiöse und heroische Sagenkreise recht weite Verbreitung hatten.
Tolkien hatte jedoch zu seiner Studienzeit vor etwa 90 Jahren eine ganz andere Grundlage in Bezug auf das Germanentum als wir heute. Das gilt nicht nur für den wissenschaftlichen Forschungsstand im Bereich religionswissenschaftlicher, philologischer, archäologischer Untersuchungen zur germanischen Mythologie, sondern auch für den mentalen Bereich: Für uns heute ist der Mißbrauch, den das Germanentum in Deutschland (und anderswo!) während des sog. Dritten Reichs erlebt hat, nicht mehr wegzudenken. Wir müssen daher wissenschaftshistorisch, ja geradezu wissenschaftsarchäologisch vorgehen, um uns Tolkiens Gedankenwelt und seinem Zugang zu denselben oder ähnlichen Quellen, wie wir sie teilweise ja heute noch benutzen, anzunähern.
Sowohl die Archäologie als neuerdings auch die Literaturwissenschaft haben zeigen können, daß uns die Quellen deswegen ein so uneinheitliches, nur schwer zu homogenisierendes Bild geben, weil die germanische Religion regional, sozial und chronologisch außerordentlich stark differenziert war, so daß wir eigentlich eher von «germanischen Religionen» sprechen müßten. Die Quellen müssen daher heute ganz anders und viel kritischer verwendet werden, als man das damals, bald nach der erstmaligen Herausgabe vieler literarischer mittelalterlicher Texte tun konnte. Nicht zuletzt aus diesem Grund versuche ich immer, mich in der Darstellung der heidnischgermanischen Religion nicht in erster Linie auf die literarischen Zeugnisse des isländischen Hochmittelalters mit ihrer gefälligen, aber durchwegs freien dichterischen Gestaltung angeblich heidnischer Mythologie zu stützen, sondern so weit wie auf dem letzten Forschungsstand möglich auf die primären Quellen für die heidnische Religiosität der Germanen zurückzugreifen.
Es zeigt sich aber, daß Tolkien der Mythologie im engeren Sinn, also der Götterdichtung oder den Vorstellungen über Religion, gar nicht so viel verdankt. Einerseits hat er in erster Linie bei der sogenannten niederen Mythologie Anleihen genommen, also bei Gestalten des Volksglaubens wie Trollen, Zwergen und Riesen, Drachen und Werwölfen. Andererseits galt sein Interesse offenbar viel stärker den Heldenliedern und den Sagas des mittelalterlichen Skandinavien, und dabei besonders dem Stoffkreis um Sigurd, die Nibelungen und die Völsungen: Dies ist, kurz gesagt, die Geschichte vom Geschlecht der Völsungen, dem Sigurd (dt. Siegfried) entstammt. Er läßt das zerbrochene Schwert seines Vaters Sigmund neu schmieden und gelangt in den Besitz des vom Drachen Fáfnir bewachten Nibelungenschatzes. Sigurds Werbung um die Burgundenprinzessin Kriemhild führt letztendlich zu seiner Ermordung und schließlich zum Untergang der burgundischen Königsfamilie am Hofe des Hunnenkönig Attilas – letzteres ein wohl teilweise historisches Ereignis der frühen Völkerwanderungszeit. Tolkien interessierte an diesem Stoff vor allem der erste Teil, den er aber ausschließlich nach nordischen Fassungen, nicht etwa nach dem mittelhochdeutschen Nibelungenlied verwertete. Natürlich ist The Lord of the Rings keine Neufassung dieses Stoffes, aber es zeigt sich, daß wichtige Motive dieser Geschichte von Tolkien aufgegriffen und neu gestaltet wurden.
Mein Dank für Hilfe bei der Entstehung dieses Büchleins gilt allen Hörern meiner Vorlesung im WS 2004/05, die sich rege für dieses Thema interessiert haben und mich auf viele Details hingewiesen haben, besonders aber Thomas Fornet-Ponse, der mir mit reichen Literaturhinweisen und anregenden Diskussionen weitergeholfen hat, sowie Petra Rehder für ihre intensive Redaktionsbetreuung.
Verzeichnis der verwendeten Abkürzungen von Tolkiens Werken
(vgl. dazu die ausführlichen Literaturangaben am Schluß des Buches):
KHOB | Der kleine Hobbit. Übersetzt von Walter Scherf. |
LOTR | The Lord of the Rings |
LOTR I | The Fellowship of the Ring: being the first part of The Lord of the Rings. |
LOTR II | The Two Towers: being the second part of The Lord of the Rings. |
LOTR III | The Return of the King: being the third part of the Lord of the Rings. |
APX | Appendix to LOTR I, II,... |