Entstehung und Schwerpunkte der Kapuziner-Konstitutionen von 1536
1. Eine Einführung
Die Kenntnis und Wertschätzung dieses Grundtextes des franziskanischen Reformordens der Kapuziner, dessen Mitglied der Schreibende seit 1947 ist, gehen zurück auf seinen Aufenthalt an unserem Historischen Institut in Rom. Durch mein besonderes Interesse am Gebet bei Franziskus und an der kontemplativen Ausrichtung des franziskanischen Charismas wurde ich von selber aufmerksam auf den Text der ersten Konstitutionen. Es war im Jahr 1978, als ich vertieft Einblick nahm in deren Text und die darüber bestehende Literatur. Nach längerem Studium verfasste ich eine lateinische Untersuchung über die Stellung des hl. Franziskus in den ersten Konstitutionen des Kapuzinerordens.13
Die lateinische Sprache für die Veröffentlichung wählte ich mit der Absicht, sie einer größeren Zahl von internationalen Lesern zugänglich zu machen; dies verlangte, den italienischen Text aus dem 16. Jahrhundert zu übersetzen. Leider war schon im siebten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts die Kenntnis der lateinischen Sprache stark rückläufig. Anderseits wurde mir in jenen Jahren schon deutlich bewusst, dass es von diesem grundlegenden Text für die Geschichte und Spiritualität des Reformordens keine deutsche Übersetzung gab. Ich nahm mir vor, eine solche zu erarbeiten und sie den Lesern zugleich mit einer kürzeren Verständnishilfe vorzulegen. Immerhin hat der Mitbruder Thomas Morus Huber schon 2003 eine Reihe bedeutender Stellen der Konstitutionen von 1536 deutsch wiedergegeben.14
Im Blick auf eine erstmalige vollständige Übersetzung schien es mir wichtig, den Lesern einen längeren historisch-spirituellen Einblick in dieses Grunddokument der Kapuzinerreform zu vermitteln. Ich wage zu hoffen, damit nicht nur eine willkommene Verständnishilfe zu bieten. Was die Kommission des Kapitels von 1535/36 – in gewiss nicht spannungsfreier Zusammenarbeit – schuf, ist erstaunlich und verdient in franziskanischer Hinsicht bis heute Bewunderung. Wie es eine historische Untersuchung verlangt, werden in meiner Einleitung auch die Zeitbedingtheit und die eine oder andere Grenze des Textes von 1536 offengelegt.
2. Zur Ausgabe des Urtextes
Wie gesagt, besteht bisher noch keine vollständige deutsche Übertragung der Satzungen des Kapuzinerordens von 1536. Die Frage, warum in den Jahrzehnten nach der Entdeckung dieses Textes 1927 sich kein Fachmann an dessen Übertragung in die deutsche Sprache wagte, ist schwierig zu beantworten. Der Verfasser dieses Versuches einer vollen Wiedergabe der 152 Nummern in zwölf Kapiteln war sich der Schwierigkeiten bewusst, die sich bei einer Eindeutschung ergeben. Meine Beschäftigung mit den ersten Satzungen reicht ja auf Jahrzehnte zurück.
Die lateinische Sprache, die ich damals für die Veröffentlichung der Studie wählte, verlangte, den italienischen Text aus dem 16. Jahrhundert ins Lateinische zu übersetzen.
Der Grund, warum ich mich Ende 2013 zu diesem Versuch entschied, ist rein wissenschaftlich: Interessenten deutscher Sprache sollte erstmals diese einzigartige Form von Ordensstatuten zugänglich gemacht werden. Dazu schien mir eine Einführung mit Angaben von Quellen und Literatur unerlässlich. Die Veröffentlichung soll die Konstitutionen einem breiteren Leserkreis zugänglich machen. Zu den einzelnen Nummern der Satzungen von 1536 findet der Leser Hinweise auf ihre Quellen und entsprechende Literatur.15
Es sei auch verraten, worauf sich mein Versuch stützt: auf das hervorragende Gemeinschaftswerk der italienischen Mitbrüder Filippo Catalano, Costanzo Cargnoni und Giuseppe Santarelli: Le prime Costituzioni dei Frati Minori Cappuccini.16 In diesem Buch findet der Leser Seite →-→ die Satzungen in heutigem Italienisch, sprachlich leicht modernisiert. In einem weiteren Schritt folgen umfassende Note critiche. Storia, fonti e testi legislativi. Letteratura francescana e spirituale (S. →-→) – zweifellos eine hervorragende, wenn auch für den durchschnittlichen Leser etwas anspruchsvolle Verständnishilfe. Den Sammelband beschließen: Appendice. Costituzioni cappuccine del 1536. Edizione critica a cura di Giuseppe Santarelli (S. →-→). Dieser ist vom Studium her Italianist; er kann darum den Text der Konstitutionen in einer philologisch verantworteten Form vorlegen; zugleich passt er die Nummernfolge besser dem Text an. Wer immer die Satzungen von 1536 – sie begleiteten den Kapuzinerorden ihrer Substanz nach durch vier Jahrhunderte bis zur Erneuerung von 1968 nach dem zweiten Vatikanischen Konzil – in ihrer ursprünglichen Fassung tiefer verstehen will, wird sich an diesem Werk orientieren.17
3. Verfasser und ordenshistorische Umstände ihrer Entstehung
Die Leser interessiert sicher, auf welche Brüder die Satzungen zurückgehen. Es waren Vertreter der zweiten Generation von Kapuzinern, welche die einseitig-kontemplative Ausrichtung zu Beginn des franziskanisch-eremitischen Reformordens und die überbetonte allgemeine Pflicht zur Handarbeit in der Sicht Ludwigs von Fossombrone und seiner ersten Gefährten zu überwinden suchten; nämlich Giovanni da Fano, der Generalvikar Bernardino d’Asti, Bernardino Ochino, der später zur lutherischen Reformation übertrat; ebenso Bernardino da Moltolmo, der vor dem Übertritt zu den Kapuzinern Konventuale war; Francesco da Jesi, mystischer Schriftsteller und Verteidiger des katholischen Glaubens, und Giovanni Spagnolo, von dem man nicht mehr kennt als seinen Namen.18
Zunächst ist auf einen bedauerlichen Umstand hinzuweisen: Ludwig Tenaglia von Fossombrone († 1560?)19, der von Clemens VII. 1528 das Gründungsbreve der Kapuzinerreform erlangt hatte, und der die anfänglich kleine Gruppe von Brüdern ziemlich autoritär leitete, wurde 1535 von Papst Paul III. (1534-1549) gezwungen, ein Generalkapitel einzuberufen. Auf der Versammlung der Kapitulare in Rom 1535 wurde der Mitbegründer der Kapuzinerreform Ludwig nicht nur durch Bernardino d’Asti in rechtmäßiger Wahl ersetzt, sondern es scheint höchst wahrscheinlich, dass schon während dieser Zusammenkunft auch die Verordnungen des Kapitels von Albacina (1529)20 durch die Satzungen von Rom (1535) ersetzt worden sind. Die Versammlung der Brüder war der Ort, wo diese in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit grundgelegt wurden. Vom Kapitel dürften sie mehrheitlich approbiert worden sein, auch wenn es darüber leider kein historisches Zeugnis gibt. Ludwig – empört darüber, dass er nicht wiedergewählt wurde – setzte sich jedoch mit Einwendungen gegen die Gültigkeit des Kapitels beim Apostolischen Stuhl durch, so dass es 1536 wiederholt werden musste. Es verwundert – ehrlich gesagt – sehr, dass die Versammlung von 1535 kirchenamtlich für ungültig erklärt wurde, wiewohl sie in völlig rechtlichem Rahmen vollzogen und der neue Generalvikar mit einer überraschenden Mehrheit gewählt worden war.
Am wiederholten Generalkapitel nahmen sogar dreiundachtzig Brüder teil, nicht nur die Provinzvikare und die je zwei von jeder Provinz bestellten sogenannten Generalkustoden, sondern auch alle Guardiane, die ohne Ausnahme eigens dazu eingeladen worden waren. An ihm wurde Bernardino erneut einstimmig wiedergewählt, und auch die Wahl der Generaldefinitoren (sein Ratsgremium) erfolgte bereits in der ersten Abstimmung.21
Auch wenn der Anteil einzelner Brüder an den neuen Satzungen 1535/36, welche an den beiden Kapiteln zugegen waren, nicht mehr genau bestimmt werden kann, ist an einzelnen Stellen der Einfluss Bernardino Ochinos deutlich zu erkennen.22 Anderseits fehlen leider Zeugnisse, aus denen hervorginge, dass beim 1536 einberufenen Kapitel am Satzungstext Veränderungen oder Zusätze erfolgten. Mehrere Nummern, bei denen ein Nachwirken des zeitgenössischen sogenannten Evangelismus, eine besondere Vorliebe für die paulinischen Briefe und die innige Verehrung des „beneficium Christi“ zu Tage treten, dürften auf Ochino und/oder auf andere Mitglieder der Kommission zurückgehen, die dieselben Überzeugungen teilten.23
Sicher wirkte die Einstellung des mit überzeugender Mehrheit zweimal zum Generalvikar (d. h. Generalminister!) gewählten Bernardino d’Asti auf die endgültige Redaktion des Textes ein. Aber auch andere Kapuziner, die zum Teil schon vorher schriftstellerisch tätig waren, so Giovanni da Fano (Pili, † 1539), dürften die definitive Formulierung der Konstitutionen wesentlich beeinflusst haben.24 Weil sie gemeinsam erarbeitet wurden, erscheint es schwierig, um nicht zu sagen, fast unmöglich, wörtliche Übereinstimmungen zwischen Konstitutionen und Schriften von Kommissionsmitgliedern festzustellen.
Eigens muss betont werden, dass diese herausragenden Mitglieder der Kommission im Orden der franziskanischen Observanz eine gediegene theologische Ausbildung genossen hatten. Ebenso müssen sie während ihrer Studien oder durch ihr persönliches Bemühen eine überdurchschnittliche Kenntnis der franziskanischen Quellen erlangt haben. Nicht weniger zu betonen bleibt, dass an vielen Stellen der Konstitutionen...