Vorwort
Wer ist «wirklich» schuld? Wie ist es tatsächlich gewesen? Wie konnten die Ereignisse von Lod, München, Khartum, Beirut geschehen? Was sind die wahren Gründe und Hintergründe, die «eigentlichen» Ursachen und Wirkungen dieser Vorfälle? Was wurde versäumt oder falsch gemacht? Wie hätten Sie gehandelt?
Derartige und ähnliche Fragen werden sehr berechtigt jenen gestellt, die durch ihre berufliche Beschäftigung mit menschlichen Beweggründen, durch ihre Studien individuellen und kollektiven Verhaltens und durch ihre Beobachtungen und Reflexionen über Aggression und Aggressionsrechtfertigung Fachleute sein sollten für Terror und Terrorismus und Experten der Terrorverhütung und Terrorvermeidung.
In Kalifornien, Tausende Meilen weit vom Schuß, war ich wie Millionen andere «dabeigewesen», vor dem Fernsehschirm und am Radioapparat, beteiligt und passiv zugleich, engagiert und dennoch hilflos, als in München der Olympia-Krimi der Wirklichkeit vor den Augen und Ohren der Weltöffentlichkeit abrollte. Legitime Würdenträger, authentische Sportler und Polizisten, echte Fanatiker traten als Akteure im Welttheater der Realität auf, lebten und starben wirklich, Mitwirkende eines Sensationsdramas, das geplant, inszeniert und gemacht war, um Geschichte zu machen.
Ist im 20. Jahrhundert das Verbrechen, das garantiert weltweite Publizität erzeugt, um sich ihrer zu bedienen, zum wichtigsten Instrument politischer Selbstdarstellung und propagandistischer Meinungsmanipulation geworden? Wird das Olympiaereignis als eine besonders eindrucksvolle Episode in der zu erwartenden Radio- und Fernsehserie «Terror» in Erinnerung bleiben, nachdem bewiesen wurde, daß Terrorwirkung tatsächlich die ganze Welt durch Schrecken lähmen, durch Furcht aufrütteln und durch Einschüchterung entscheidend beeinflussen kann? Gibt es heute irgendeinen wirksamen Schutz gegen Terrorismus oder gegen jenen Terror, der Terrorismus hervorbringt, obwohl er sich als dessen einziges Verhütungs- und Bekämpfungsmittel anpreist? Muß man sich mit Terrorismus und Terror abfinden und arrangieren, als wären sie unvermeidlich, gleich Naturkatastrophen und Verkehrsunfällen? Wie wird die durch solche Anpassungen bestimmte zukünftige Welt der permanent Terrorisierten und der potentiellen Terroristen beschaffen sein? Welche psychischen Spesen und welche Kosten an Menschlichkeit und Lebensqualität sind mit einer derartigen Existenz verbunden?
Als Psychiater, Psychoanalytiker und Sozialpsychologe hatte ich mich jahrelang mit den brennenden zeitgenössischen Problemen der Aggressionsansteckung und Gewaltlegitimierung auseinandergesetzt. Ich hatte zu zeigen versucht, wie im Kreislauf der Aggression die primitivste und gefährlichste aggressive Ausdrucksform, nämlich Gewalt, hergestellt und durch Etikettenschwindel als Notwendigkeit, Pflicht und einziges Konfliktlösungsmittel hingestellt wird. Bei der Münchner Olympiatragödie entsprach und folgte die Wirklichkeit dem theoretischen Modell moderner Gewaltausübung mit entsetzlicher Genauigkeit; daher schienen mir diese Vorfälle sowie deren Hintergründe und Folgen dringend untersuchungsbedürftig. Am konkreten Beispiel des Münchner Geschehens konnten viele der bisher einigermaßen abstrakt formulierten Erkenntnisse der Aggressionsforschung eindeutig erwiesen und klar aufgezeigt werden. Der nur allzu erfolgreiche Versuch des Fanatismus, durch spektakuläre und weithin propagierte Gewalt und Gegengewalt Exempel zu statuieren, sollte selbst zum Exempel und Beispiel werden, bevor die eingeschüchterte, von Schrecken faszinierte, vor Furcht erstarrte und gebannte Welt im geschichtlichen Wiederholungs- und Nachahmungszwang Terror und Terrorismus, Gegenterror und Gegenterrorismus allgemein duldet oder gar an deren Veranstaltungen allgemein teilnimmt.
Persönliche Erfahrungen im Nahen Osten und zunehmende Vertrautheit mit einer schlechthin unübersehbaren Literatur über den tragischfaszinierenden arabisch-jüdischen Konflikt ließen vorerst alle Vermittlungsvorschläge, zu denen dieser herausfordert, als Produkt von Naivität, Ignoranz und Verantwortungslosigkeit, als Anmaßung und Überheblichkeit erscheinen. Angesichts der tatsächlich stattfindenden Polarisierung und Konflikteskalierung in Drohung und Gewalt, in Terrorismus und Gegenterrorismus, muten die Empfehlungen der Konfliktlösungsforschung (man solle dem Opponenten die Überzeugung vermitteln, daß er gehört und verstanden werde, man solle den Bereich, innerhalb dessen die Argumente des Opponenten Gültigkeit haben, abgrenzen, man solle Ähnlichkeit der gegenseitigen, einander oft spiegelbildlich gleichenden Annahmen betonen) realitätsfremd an. Nicht nur im Nahen Osten, aber dort ganz besonders, weicht die Wirklichkeit von jener Vernunft und Moral ab, die, im Gefangenendilemma[1] exemplarisch dargestellt, erfordern, daß Begrenzung und Einschränkung der eigenen Forderungen in Kauf genommen werden, um auf lange Sicht die optimale Befriedigung der eigenen Ansprüche durchzusetzen und zu gewährleisten.
In zugespitzten Konflikten ist die Lage so verzweifelt kompliziert, da so vielen verzweifelten, unmittelbar Betroffenen die angeblich einzige Lösung so einfach vorkommt. Doch bedarf es wahrhaft keines neuen Buches, um nochmals nachzuweisen, daß es für komplexe, unentwirrbar verwickelte Aggressionskonstellationen und Aggressionsrechtfertigungen keine einfachen Rezeptlösungen und keine einfachen Lösungsrezepte gibt. Eben deshalb schien es mir zeitgemäß und geboten, die der realistischen Vieldeutigkeit und Verwirrung zugrunde liegenden Motive, Bedürfnisse, Ursachen, Methoden und Ziele am «gegebenen», fortwirkenden zeitgenössischen Beispiel aufzuzeigen und zu untersuchen, statt zu diesem Zweck in die historische Vergangenheit oder geographische Entlegenheit zu flüchten oder sich gar mit nur journalistischer Oberflächendarstellung von Geschehnisabläufen zu begnügen. Aus sicherer Distanz läßt sich gleichnishaft und durch Analogie gewiß auch aus dem Studium der Französischen Revolution, des Nationalsozialismus, der Tyrannei des Dschingis-Khan oder des Despotismus der Zulus ungemein Wertvolles über unsere heutigen Probleme entnehmen, da bei aller Verschiedenheit von Entwicklung, Geschichte und Tradition einander ähnliche, stets wiederkehrende Beweggründe, Träume, Mythen und Symbole das individuelle und kollektive Handeln bestimmen. Doch sollten sich die Einsichten psychohistorischer Betrachtungsweise und die Befunde moderner Aggressionsforschung vor allem auch unmittelbar und direkt an den noch in Gang befindlichen, brennenden Konflikten der Gegenwart bewahrheiten und bewähren. Um zu begreifen, was geschehen ist und was geschieht, muß auch klar erkannt werden, warum verschiedene Alternativen nicht ausgearbeitet, gewisse Optionen nicht gewählt wurden. Die Interpretationen, welche tatsächlich die Welt, das Bewußtsein, die Dynamik innerer Abwehrvorgänge, die Verdrängungsstrukturen und damit auch das Unbewußte des Menschen verändern, müssen vor allem darüber Auskunft geben, welche äußeren und inneren Widerstände derartigen Wandel verhindern, wieso die Veränderung im Sinne der «richtigen» (vernünftigen, wahren, menschlichen) Ziele bisher nicht stattgefunden hat und auch nicht ohne weiteres «von selbst» stattfindet. Damit Verständnis nicht immer nur zur «Bewältigung» und «Überwindung» von Konflikten (durch Überwältigung des Feindes), sondern zu deren «Behandlung» beitragen kann, muß vor allem die oft unwiderstehliche Versuchung zur «natürlichen» Wiederholung des ewig Selben erforscht werden. Wie und wodurch wird die Anziehungskraft von Primitivität und der Sog von Regression ausgenützt für gezielte und geplante Handlungen und Handlungslegitimationen; in welcher Weise können die bewegenden Identitäten und intuitiven Feindschemata sowie die subjektiv echt empfundene Spontaneität des Denkens, Fühlens und der Tat erzeugt, erzwungen und manipuliert werden?
Um äußere und innere Schwierigkeiten, Konflikte und Komplexe zu meistern und zu kontrollieren, müssen sie erst in ihrem vollen Umfang erkannt und zur Kenntnis genommen werden. Daher beschäftigt sich die ernst zu nehmende, kritische Bemühung mit der Identifizierung und Interpretation des sogenannten und tatsächlichen Bösen, im Namen eines wenn schon nicht Guten, so doch eines klügeren und würdigeren Besseren. Es gilt, sich mit Unmenschlichkeit, Unrecht, Aggression und Terror auseinanderzusetzen, um der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit und der Liebe willen.
Die Kompetenz des Psychologen und Psychiaters zur Erklärung und Deutung oder gar zur Beeinflussung der sozialen und politischen Wirklichkeit ist keineswegs allgemein anerkannt. Die Haltung wertfreier Neutralität (je ne propose rien, je n’impose rien, j’expose) wird oft als einzig angemessene, wissenschaftliche Haltung erachtet: der Psychiater solle sich mit dem isolierten Individuum oder bestenfalls mit einer sich selbst auswählenden Kleingruppe, wie sie sich eben dem Therapeuten präsentiert, als gegebener Forschungs- und Beeinflussungseinheit beschäftigen. Psychotherapeuten sind ständig dem Verdacht ausgesetzt, daß sie als Folge ihrer «déformation professionelle» dazu neigen, Mitmenschen und historische Figuren wie hilfesuchende Kranke behandeln, belehren, verändern und heilen zu wollen; damit werde jedoch die vielfältige Wirklichkeit angeglichen an jenen winzigen Ausschnitt der Wirklichkeit, in dem der Psychiater als weiser Arzt und unfehlbarer Vertreter der Realität auftritt, während jedermann sonst zum Beurteilungs-, Bewertungs- und Beeinflussungsobjekt reduziert wird. Unterschwellig erwartet die breite Öffentlichkeit vom Psychiater wenn schon nicht Enthüllungen sadistischer Grausamkeit und sexueller Perversion, so doch wissenschaftlich verbrämte...