[43]2. Kapitel
Reziprozität
Geben und nehmen – und nochmals nehmen.
Bezahle jede Schuld, als schriebe Gott die Rechnung.
Ralph Waldo Emerson
[44]Vor ein paar Jahren unternahm ein Professor ein kleines Experiment. Er schickte Weihnachtspostkarten an völlig fremde Leute. Obwohl er durchaus mit irgendwelchen Reaktionen gerechnet hatte, war das Ergebnis doch erstaunlich: Er erhielt reihenweise Karten von Leuten, die ihm nie zuvor begegnet waren. Der größte Teil der Leute, die ihm zurückschrieben, wollte gar nicht wissen, wer er denn war; sie erhielten seine Grußkarte («klick») – und schickten ihm automatisch («surr») eine zurück (Kunz & Woolcott, 1976).
Dies war zwar nur eine kleine Studie, doch zeigt sich in ihr die Wirkung eines der durchschlagendsten Instrumente zur Beeinflussung anderer Menschen: die Reziprozitätsregel. Diese Regel besagt, dass wir uns bemühen sollen, anderen zurückzugeben, was wir von ihnen bekommen haben. Wenn uns jemand einen Gefallen tut, sollten wir ihm auch einen tun; wenn wir von jemandem ein Geburtstagsgeschenk erhalten, sollten wir ihn an seinem Geburtstag ebenfalls mit einem Geschenk bedenken; werden wir zu einer Party eingeladen, sollten wir nicht vergessen, bei Gelegenheit eine Gegeneinladung auszusprechen. Die Reziprozitätsregel schreibt vor, dass wir uns für Gefälligkeiten, Geschenke, Einladungen und dergleichen zu revanchieren haben. Es ist so normal, sich beim Erhalt solcher Dinge zur Gegenleistung verpflichtet zu fühlen, dass in vielen Sprachen Wendungen wie «Ich bin Ihnen sehr verpflichtet» zum Synonym für «Danke» geworden sind (z. B. das englische «Much obliged» oder das portugiesische «Obrigado»). Dass es sich um eine Verpflichtung handelt, die in die Zukunft hineinreicht, kommt auch in einem japanischen Wort für «Danke» zum Ausdruck: «Sumimasen» heißt wörtlich so viel wie: Das wird nicht aufhören.
Das Beeindruckende an der Reziprozitätsregel und dem mit ihr verbundenen Gefühl des Verpflichtetseins ist ihre weite Verbreitung in der menschlichen Kultur. Eine ganze Reihe von Soziologen, unter ihnen Alvin Gouldner (1960), sind nach umfassenden Untersuchungen zu dem Schluss gekommen, dass es die Verpflichtung zur Gegenseitigkeit in allen menschlichen Gesellschaften gibt.1 Auch innerhalb der einzelnen Gesellschaften besitzt das Prinzip anscheinend einen großen Geltungsbereich; es gilt für alle möglichen Formen von Austausch. Möglicherweise gehört ein hoch entwickeltes System des gegenseitigen Verpflichtetseins zu den typischen Merkmalen menschlicher Kulturen. Für den bekannten Archäologen Richard Leakey stellt das Reziprozitätssystem die Grundlage für unser[46] Menschsein dar. Er stellt die Behauptung auf, dass wir sind, was wir sind, weil unsere Vorfahren gelernt haben, ihre Nahrung und ihre Fähigkeiten miteinander zu teilen (Leakey & Lewin, 1978). Kulturanthropologen sehen in diesem «Netz aus gegenseitiger Dankesschuld» einen einzigartigen Anpassungsmechanismus der Menschen und die Grundlage für Arbeitsteilung, den Austausch verschiedener Güter und Dienstleistungen sowie das Entstehen von Interdependenzen, welche Individuen zu hocheffizienten Gruppen zusammenführen (Ridley, 1997; Tiger & Fox, 1989).
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(«Eine Weihnachtskarte von den Binkmanns!» – «Oh, nein, nicht von den Binkmanns!”… «Wir hatten die Binkmanns dieses Jahr von der Liste gestrichen.» – «Wenn wir ihnen jetzt noch eine Karte schicken, wird die frühestens am 27. abgestempelt! Dann merken die gleich, dass wir sie vergessen hatten.»… «Wir wollten ihnen doch gar keine Karte schicken. Sie waren gestrichen.»… «Stimmt. Was ist schlimmer – dass sie merken, dass wir sie vergessen hatten, oder dass sie merken, dass sie gestrichen waren?» – «Zumal sie noch einen handschriftlichen Brief dazugelegt haben.»… «Einen handschriftlichen Brief?! Das haben sie mit Absicht getan!» – «Sie wussten, dass sie gestrichen waren, und haben uns absichtlich in letzter Minute eine Karte geschickt, damit wir ein schlechtes Gewissen bekommen!”… «Das zahlen wir ihnen heim! Wir schicken ihnen eine Karte, einen Brief und ein Geschenk!» – «Ein Geschenk mit einer Gravur. Das erklärt dann auch die Verspätung!”… «Eine Karte, ein Brief, ein Geschenk mit Gravur! Versucht das mal zu toppen, Binkmanns!» … «Freundschaft währt ewig. Vor allem in unserer Familie.»)
Cathy © 1993 Cathy Guisewite. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Universal Press Syndicate. Alle Rechte vorbehalten.
Es ist dieses Gefühl, dem anderen in Zukunft verpflichtet zu sein, das entscheidend zu den sozialen Fortschritten beigetragen hat, wie sie Tiger und Fox beschrieben. Ein von vielen geteiltes und starkes Gefühl des Verpflichtetseins hat die Sozialevolution der Menschheit maßgeblich beeinflusst, da es dazu führte, dass ein Mensch einem anderen etwas schenken konnte (zum Beispiel Nahrung, Energie, Zuwendung) in der Zuversicht, dass das Geschenk ihm nicht verloren ging. Das erste Mal in der Entwicklungsgeschichte konnte ein Individuum eine Vielfalt an Ressourcen weggeben, ohne sie wirklich wegzugeben. Dies führte zu einer Senkung der natürlichen Hemmschwelle gegen den Austausch ideeller und materieller Güter, mit dem einer anfangen muss, indem er eine persönliche Ressource an einen anderen Menschen weitergibt. Hoch entwickelte und gut koordinierte Systeme der gegenseitigen Hilfeleistung, des Schenkens, der Verteidigung und des Handels wurden möglich und brachten den Gesellschaften, die über sie verfügten, immense Vorteile. Bei so eindeutig positiven Konsequenzen für die Kultur ist es nicht verwunderlich, dass die Reziprozitätsregel nach dem Sozialisationsprozess, den wir alle durchlaufen, so tief in uns verwurzelt ist.
Zwar reichen die Verpflichtungen in die Zukunft hinein, jedoch nicht unbegrenzt. Besonders für relativ kleine Gefälligkeiten gilt, dass das Bestreben, sich zu revanchieren, mit der Zeit nachlässt (Burger et al., 1997; Flynn, 2002). Größere Geschenke können jedoch einen anhaltenden Eindruck hinterlasssen und noch lange nachwirken. Ich kenne kein besseres Beispiel dafür, wie weit und stark gegenseitige Verpflichtungen in die Zukunft reichen können, als die erstaunliche Geschichte einer Fünftausend-Dollar-Spende, die zwischen Mexiko und Äthiopien hin- und herging. Im Jahr 1985 hatte Äthiopien allen Grund, sich als das notleidendste Land der Welt zu bezeichnen. Seine Wirtschaft lag am Boden. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln war nach vielen Dürre- und Bürgerkriegsjahren fast völlig [47]zusammengebrochen. Seine Einwohner starben zu Tausenden an Krankheit und Hunger. Unter diesen Umständen hätte mich eine Fünftausend-Dollar-Spende von Mexiko an dieses erbärmlich bedürftige Land nicht weiter verwundert. Ich erinnere mich jedoch noch daran, wie überrascht ich war, als ich in der Zeitung las, dass ein Betrag in dieser Höhe in die andere Richtung geflossen war. Das äthiopische Rote Kreuz hatte den Entschluss gefasst, das Geld den Opfern eines Erdbebens zukommen zu lassen, das sich im selben Jahr in der mexikanischen Hauptstadt ereignet hatte.
Persönlich ein Fluch, beruflich ein Segen ist für mich das Bestreben, genauere Nachforschungen anzustellen, wann immer ich auf einen Aspekt menschlichen Verhaltens stoße, den ich nicht verstehe. In diesem Fall gelang es mir, die Hintergründe dieser Geschichte in Erfahrung zu bringen. Glücklicherweise hatte ein Journalist, dem das Ganze ebenso merkwürdig vorgekommen war wie mir, um eine Erklärung gebeten. Die Antwort, die er bekam, war eine eindrucksvolle Bestätigung der Reziprozitätsregel: Trotz der großen Not, unter der Äthiopien litt, schickte man das Geld an Mexiko, weil Mexiko im Jahr 1935, als Äthiopien von Italien besetzt wurde, dem Land Hilfe hatte zukommen lassen («Ethiopian Red Cross», 1985). Als ich dies erfuhr, war ich zwar immer noch beeindruckt, aber das Rätsel war für mich gelöst. Das Bedürfnis, sich gemäß der Reziprozitätsregel für erhaltene Hilfe erkenntlich zu zeigen, hatte sich über starke kulturelle Unterschiede, große Distanzen, akute Hungersnot, einen Zeitraum von vielen Jahren und drängende eigene Bedürfnisse hinweggesetzt. Nach einem halben Jahrhundert hatte die Verpflichtung zur Reziprozität über alle Gegenkräfte gesiegt. So einfach war das.
Wem diese Reaktion auf eine ein halbes Jahrhundert zurückliegende Gefälligkeit als große Ausnahme erscheint, die am ehesten mit einer Besonderheit der äthiopischen Kultur zu erklären wäre, der sollte einmal einen anderen höchst erstaunlichen Fall näher betrachten. Am 27. Mai 2007 äußerte sich ein in Washington ansässiger Regierungsbeamter namens Christiaan Kroner einem Reporter gegenüber mit unverhohlenem Stolz zu den staatlichen Hilfen nach der Katastrophe, die der Hurrikan Katrina verursacht hatte. Er beschrieb, wie schnell und professionell «Pumpen, Schiffe, Hubschrauber, Ingenieure und humanitäre Hilfen» ins überflutete New Orleans und in viele andere von dem Unglück betroffene Orte geschickt worden waren (Hunter, 2007). Hallo? Womit war eine solche Aussage zu erklären angesichts des skandalösen Versagens der US-Regierung, die nach [48]allgemein geteilter Auffassung viel zu spät und geradezu stümperhaft auf die Tragödie reagiert hatte? So waren beispielsweise den Hausbesitzern in Louisiana staatliche Sonderhilfen versprochen worden, aber 80 Prozent der Antragsteller hatten zum damaligen Zeitpunkt – immerhin achtzehn Monate nach der Katastrophe – noch kein Geld gesehen. War dieser Kroner etwa noch unverfrorener, als es die meisten Politiker ihrem Ruf nach sind? Keineswegs. Er hatte gute Gründe,...