Kapitel 1
DAS GEHEIMNIS DES RAS AUFDECKEN
»Was immer der menschliche Geist sich vorstellen und woran immer er glauben kann, das kann er auch vollbringen.«
Napoleon Hill, 1937
Als Napoleon Hill 1937 in seinem Klassiker Denke nach und werde reich: Die 13 Gesetze des Erfolgs diese berühmte Aussage traf, standen ihm zum Beweisen seiner Überzeugungen weder die medizinische Wissenschaft noch Technologien oder Gehirnscanner zur Verfügung, wie sie für uns zur Selbstverständlichkeit geworden sind. Er behauptete, dass man nur klar genug über etwas nachdenken und es wirklich wollen müsse, um es zu erreichen. Die Wissenschaft hat einen Großteil des Geheimnisses gelüftet, das berühmte Aussagen wie jene von Hill umgibt, und dem damit verbundenen Hokuspokus ein Ende gesetzt. Wir haben jetzt wissenschaftliche Einblicke in die Prozesse von Erfolg, Zielsetzung und sich selbst bewahrheitenden Voraussagen sowie in die Funktion von Gebeten und in das Gesetz der Anziehung. Die Wissenschaft kann uns nun zeigen, wo und wie Erfolg im Gehirn entsteht: im Retikulären Aktivierungssystem bzw. RAS.
Das RAS, das im Hirnstamm des Säugetierhirns angesiedelt ist, besteht aus einem Bündel von Nervenfasern, das gemeinhin als Retikulärformation bekannt ist. Das RAS spielt eine Rolle bei vielen wichtigen Funktionen der menschlichen Biologie wie dem Schlafen und dem Gehen, dem Atmen, dem Herzschlag und der Verhaltensmotivation. Es spielt auch eine Rolle bei der sexuellen Erregung, beim Appetit und beim Essen, bei der Ausscheidung, bei der Kontrolle des Bewusstseins und bei der Lenkung der Aufmerksamkeit. Eine Verletzung des RAS wird mit verschiedenen Krankheiten wie zum Beispiel Narkolepsie in Verbindung gebracht; sie kann zum Koma führen.
Das RAS ist ein Netzwerk von Neuronen und Nervenfasern, die sich durch den Hirnstamm ziehen; diese sind mit verschiedenen anderen Teilen des Gehirns verbunden. Das System besteht aus zwei Teilen: dem aufsteigenden RAS, das eng mit Teilen des Gehirns wie der Großhirnrinde, dem Thalamus und dem Hypothalamus verknüpft ist, und dem absteigenden RAS, das mit dem Kleinhirn und den für die verschiedenen Sinne verantwortlichen Nerven verbunden ist.
Mitte des 20. Jahrhunderts hatten Physiologen erstmals vermutet, dass eine Struktur tief im Gehirn die mentale Wachsamkeit, die Aufmerksamkeit und die Motivation kontrolliere.
Erstmals wurde die Wissenschaft der Existenz des RAS 1949 gewahr, als H. W. Magoun und Giuseppe Moruzzi an der Universität von Pisa die Rolle der Neuronen für das Schlaf-Wach-Verhalten untersuchten und ihre Ergebnisse in der ersten Ausgabe der wissenschaftlichen Zeitschrift Electrocephalography and Clinical
Das retikuläre Aktivierungssystem
Neurophysiology veröffentlichten. Diese frühen Forschungsarbeiten führten schließlich zur Entdeckung, dass das RAS das Portal ist, durch das fast alle Informationen ins Gehirn dringen. (Gerüche sind die Ausnahme. Sie gelangen direkt in den Emotionsbereich des Gehirns.) Das RAS filtert die eingehenden Informationen, beeinflusst den Grad an Erregung, die sie auslösen, und entscheidet, welche Informationen keinen Zugang zu unserem Gehirn erhalten.
Das RAS ist mit dem Rückenmark verbunden, von wo es Informationen erhält, die direkt von den aufsteigenden sensorischen Bahnen stammen. Jede neue Information und jedes neue Wissen muss über einen oder mehrere Sinne in das Gehirn eindringen und wird von den sensorischen Rezeptoren des Körpers dekodiert. Von dort aus wandern die Informationen durch die Nerven in der Haut oder im Körper zum Rückenmark und durch das retikuläre Aktivierungssystem hoch zu dem Teil des Gehirns, der Input von diesem bestimmten Körpersinn erhält.
Das RAS ist das Kommando- und Kontrollzentrum des Gehirns.
Im RAS treffen Gedanken, Gefühle und äußere Einflüsse aufeinander. Es wirkt dynamisch auf die Zentren im Gehirn und im Cortex, die die motorischen Aktivitäten steuern, zum Beispiel die Frontallappen. Es ist ein Netzwerk aus Nervenbahnen, die allen sensorischen Input filtern, den das Gehirn von der Außenwelt erhält. Was immer Sie sehen, hören, fühlen oder schmecken, passiert das RAS. Einfach gesagt: Das RAS schaltet das Gehirn an und ist dessen Hauptmotivationszentrum.
WIE DAS RAS FUNKTIONIERT
Das Gehirn verarbeitet pro Sekunde über 400 Millionen Bits an Informationen, doch nur 2000 Bits dringen in Ihr Bewusstsein. Der Rest wird verarbeitet, ohne dass Sie sich dessen bewusst sind. Mit anderen Worten: 99,9995 Prozent der Informationen, die Ihnen tagtäglich präsentiert werden, bleiben unbeachtet. Nur deshalb können wir mit unserem Alltag und den Millionen Bits an Informationen, die auf uns einstürmen und unsere Aufmerksamkeit verlangen, fertig werden. Wenn Sie sich mit all den Botschaften gleichzeitig beschäftigen müssten, wären Sie völlig überfordert und würden das Bewusstsein verlieren. Deswegen hat die Evolution uns das RAS gegeben – das Rüstzeug, um alle Informationen zu filtern und nur das zu extrahieren, was im jeweiligen Moment für uns wichtig ist.
Ihr RAS funktioniert wie ein Sortiersystem, das die eingehenden Informationen bewertet und in Form von Botschaften gewichtet, die Ihre Aufmerksamkeit erfordern. Es ist ein Filter zwischen Ihrem Bewusstsein und Ihrem Unterbewusstsein, und es erhält Anweisungen von Ihrem Bewusstsein und leitet sie weiter an Ihr Unterbewusstsein. Ihr Gehirn instruiert dann Ihren Körper, die Aktivitäten auszuführen, die dem Bild entsprechen, welches das RAS vorgibt. Es durchforstet Ihr Umfeld nach Mustern, die am besten mit Ihren Überzeugungen oder den Dingen übereinstimmen, die Ihnen vertraut sind. Dann verbindet es Ihre Gedanken und Gefühle mit ähnlichen Dingen in Ihrem Umfeld. Wenn es eine Übereinstimmung findet, wird Ihr Bewusstsein darauf aufmerksam gemacht.
VARIATIONEN DES RAS
Das RAS existiert auch bei anderen Primaten. Die DNA von Schimpansen zum Beispiel stimmt zu 99 Prozent mit unserer DNA überein, und wie bei uns Menschen filtert das RAS eines Schimpansen alle eingehenden Sinnesdaten. Wie beim Menschen scannt und priorisiert es diese Daten im Einklang mit seinen fest verdrahteten »Programmen«. Und wie beim Menschen kontrolliert es die Grundfunktionen des Schimpansen wie Puls, Schlaf, Wahrnehmung, Verdauung und Herz-Kreislauf-Funktion. Es unterscheidet sich jedoch vom RAS des Menschen insofern, als wir ein höher entwickeltes »Selbst«gefühl haben. Wir werden von dem unersättlichen Bedürfnis getrieben, das Wer, das Was, das Wo, das Wann und vor allem das Warum zu kennen. Das RAS eines Schimpansen funktioniert wie ein Taschenrechner, das menschliche RAS wie das neueste, dynamischste Computersystem.
Im Gehirn mancher Menschen kann das RAS die Großhirnrinde nicht immer effektiv anregen. Diese Menschen haben Lernschwierigkeiten, ein schlechtes Gedächtnis und wenig Selbstkontrolle. Wenn das RAS zu stark stimuliert wird, ist unser Verhalten gekennzeichnet durch extreme Wachsamkeit, sensorische Hypersensibilität, ständiges Reden, Ruhelosigkeit und Hyperaktivität. Menschen, bei denen Aufmerksamkeitsdefizitstörungen diagnostiziert wurden (ADD und ADHS), fehlt im aufsteigenden RAS Norepinephrin, um die Großhirnrinde anzuregen. Norepinephrin ist die Chemikalie, die auch freigesetzt wird, wenn sich unsere Herzfrequenz erhöht oder unsere Atmung beschleunigt usw. Menschen mit ADD / ADHS können Medikamente nehmen, die bewirken, dass das RAS das vorhandene Norepinephrin vorübergehend effektiver nutzt. Dies verbessert die Konzentration, die Wahrnehmung, die Merkfähigkeit und das Lernen.
Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen dem RAS und sozialen Kontakten. Bei introvertierten Menschen ist die Aktivität im RAS größer als bei extrovertierten Menschen. Wissenschaftler glauben, dass das RAS eines Introvertierten leichter erregt wird als das eines Extrovertierten, weil Introvertierte oft Schwierigkeiten haben, mit anderen zu sprechen, und ihr Gehirn, wenn sie es tun, eine starke Reaktion zeigt, ähnlich einer Art von Panik.
DAS RAS HAT EIN NAVI UND EINE SUCHMASCHINE
Ihr RAS reagiert auf Ihren Namen, auf alles, was Ihr Überleben bedroht, und auf Informationen, die Sie unmittelbar brauchen. Wenn Sie zum Beispiel nach einer Datei suchen, von der Sie sicher sind, dass Sie sie irgendwo in Ihrem Computer gespeichert haben, dann macht Ihr RAS Ihr Gehirn darauf aufmerksam, dass es nach dem Namen der Datei suchen soll – die Tickets für den Transatlantikflug –, oder es konzentriert sich auf ein Wort im Dateinamen, um Ihnen bei der Suche zu helfen. Die Funktion des RAS ist auch das, was oft landläufig als Gesetz der Anziehung bezeichnet wird.
»Mark Aurel sagte: ›Der Mensch wird, woran er den ganzen Tag denkt.‹ Würde das stimmen, wäre ich eine Frau.«
Steve Martin
Ihr RAS hat ein eingebautes Navi. Mit einem Navi brauchen Sie nicht alle Straßen einer Stadt zu kennen. Sie...