|15|Kapitel 1
Kognitive Entwicklung
Wolfgang Schneider und Frank Niklas
1.1 Einleitung
Denken Säuglinge bereits und können sie sich erinnern? Wie entwickelt sich das kindliche Denken und ab wann sind Kinder in der Lage, zuverlässige Augenzeugenberichte abzugeben? Diese und ähnliche Fragen zur kognitiven Entwicklung im Kindesalter beschäftigen nicht nur Wissenschaftler, sondern alle, die mit jungen Kindern im Alltag und im Beruf interagieren. Mit dem Begriff der „kognitiven Entwicklung“ ist in der Psychologie ein breites Spektrum von Fähigkeiten gemeint. Es schließt Aspekte des Denkens, der Intelligenz, der Wahrnehmung, der Sprache und des Gedächtnisses sowie die Fähigkeit der Selbstkontrolle bzw. Selbstregulation mit ein. Da der Aspekt der sprachlichen Entwicklung in einem anderen Kapitel (Kap. 2) behandelt wird, gehen wir darauf nicht ausführlich ein, sondern skizzieren Entwicklungsverläufe sowie gegenseitige Beziehungen zwischen den verbleibenden Komponenten und behandeln mögliche Effekte familiärer und außerfamiliärer Einflüsse auf den Entwicklungstrend.
1.2 Kognitive Entwicklungsverläufe
1.2.1 Entwicklung des Denkens und der Intelligenz
Wenn Psychologen und Lehrkräfte den Begriff „Intelligenz“ verwenden, dann meinen sie fast immer individuelle Unterschiede in allgemeinen mentalen Fähigkeiten, die über die Zeit und unterschiedliche Untersuchungskontexte hinweg relativ stabil bleiben. Während die Begriffe „Intelligenz“ und „logisches Denken“ in den Praxisfeldern der Pädagogischen Psychologie weitgehend synonym gebraucht werden, kommt diesen beiden Konzepten dagegen in der entwicklungspsychologischen Grundlagenforschung ein deutlich unterschiedlicher Stellenwert zu (vgl. Grube & Hasselhorn, 1997; Schneider, 2008). In der klassischen (psychometrischen) Intelligenzforschung wird weniger dem Aspekt qualitativer Veränderungen in den Denkoperationen im Sinne von Piaget (s. u.) als vielmehr dem der Quantität richtiger Aufgabenlösungen zentrale Bedeutung zugemessen. Angesichts dieser leicht identifizierbaren Unterschiede im Zugang zur Intelligenzthematik kann der Eindruck entstehen, dass es sich bei der Entwicklung der Intelligenz und der Entwicklung des logischen Denkens um zwei kaum mitein|16|ander verknüpfte Aspekte der Entwicklung menschlichen Erlebens und Verhaltens handelt. Wie schon von Grube und Hasselhorn (1997) betont wurde, sollte der Zusammenhang genauer geprüft werden. Wir gehen zunächst auf die Theorie der Denkentwicklung nach Piaget ein, bevor dann die Entwicklung der psychometrischen Intelligenz genauer erörtert wird.
Denkentwicklung nach Piaget
Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die intellektuelle Entwicklung im Kleinkind- und Vorschulalter faszinierend schnell vollzieht. Unser Wissen über die kognitive Entwicklung in dieser frühen Phase wurde im vergangenen Jahrhundert bedeutsam durch die Arbeiten des Schweizer Biologen und Entwicklungspsychologen Jean Piaget geprägt. Piaget war fasziniert von den Denkfehlern junger Kinder bei der Lösung von Problemen, da ihm diese einen Einblick in die Eigenart des kindlichen Denkens und speziell in die Unterschiede zwischen dem Denken des Kindes und dem des Erwachsenen vermittelten. Er entwickelte in der Folge eine auch heute noch populäre klassische Stufentheorie der Denkentwicklung (vgl. etwa Reusser, 2006), in der vier globale Entwicklungsstadien unterschieden werden: das sensumotorische Stadium (0–2 Jahre), das präoperationale (ca. 2–7 Jahre), das konkret-operationale (ca. 7–12 Jahre) und das formal-operationale Stadium der Intelligenz (ab 12 Jahren).
Für die frühe Kindheit sind das sensumotorische und das präoperationale Stadium von besonderer Bedeutung, da sie den Zeitraum von der Geburt bis zum Ende der Kindergartenzeit umfassen. Jedes Stadium ist nach Piaget gekennzeichnet durch eine Reihe von spezifischen Kompetenzen, weiterhin von bestimmten Beschränkungen im Hinblick auf die geistigen Fähigkeiten. So gilt für Säuglinge und Kleinkinder im sensumotorischen Stadium, dass sie sich zunächst in einem Zustand des absoluten Egozentrismus befinden. Fortschritte in dieser ersten Entwicklungsstufe ergeben sich durch das Zusammenspiel von Wahrnehmung und motorischer Aktivität. Erste Selbstständigkeit entwickelt sich aus zunächst unverbundenen Reflexhandlungen und deren Integration sowie über Anfänge unabhängigen Handelns. Anfangs unterscheidet das Kind noch nicht zwischen Subjekt und Objekt. Der Säugling und sein Empfinden sind noch miteinander identisch; er „denkt“ von daher über seine Bewegungen und Empfindungen. Erst allmählich entwickelt sich das Kleinkind zu einer Person. Es übt und wiederholt angeborene motorische Reflexe und Reflexfolgen, sodass sich Gewohnheiten und erste motorische Fähigkeiten herausbilden. Die so erworbenen motorischen Handlungsschemata werden auf immer mehr Gegenstände in der unmittelbaren Umwelt ausgedehnt, was neue Erfahrungen schafft und es dem Kind auch ermöglicht, Handlungen zielgerichtet zur Erfüllung von bestimmten Zwecken einzusetzen. Piaget geht davon aus, dass sich im elementaren Be-greifen, Er-fahren und Er-leben des Kleinkindes ein erstes Bewusstsein von einer „objektiven“ Welt herausbildet. Es entsteht bspw. das |17|Konzept der „Objektpermanenz“, also das Wissen darüber, dass Gegenstände weiterhin da sind und in der Welt verbleiben, auch wenn man sie nicht mehr sehen kann. Entwicklung wird von Piaget als Abfolge von Verinnerlichungen verstanden, also als ein Prozess, in dem sich aus dem Subjektiven das Objektive herausdifferenziert. Am Ende dieses Stadiums kann dann der Übergang vom sensumotorischen Intelligenzakt zur Vorstellung erfolgen.
Diese Entwicklung setzt sich im präoperationalen Stadium fort, das für den Zeitraum zwischen zwei und sechs bis sieben Jahren angenommen wird. Der wesentliche Entwicklungsfortschritt gegenüber dem sensumotorischen Stadium ist darin zu sehen, dass das Kind nun dazu fähig ist, sich ein Ereignis oder eine Handlung gedanklich vorzustellen. Während anschauliche Denkvorgänge demnach schon ab dem dritten Lebensjahr funktionieren, sind Piaget zufolge Kinder dieser Altersstufe jedoch noch nicht dazu fähig, „Operationen“ (d. h. verinnerlichte Formen der Handlung) sozusagen „im Kopf“ angemessen durchzuführen. Das Vorschulkind kann Symbole gebrauchen und verstehen (was sich insbesondere im Gebrauch der Sprache dokumentiert; vgl. Kap. 2) und mit seiner Umwelt schon kompetent interagieren. Jedoch weist das Vorschulkind eine Reihe von Beschränkungen in der Beweglichkeit des Denkens auf und kann den Regeln der Erwachsenenlogik meist noch nicht folgen.
Neben erstem Symbolgebrauch kann ein dreijähriges Kind bereits zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden, phantasievolle fiktionale Spielwelten bilden und so mit Gleichaltrigen wie mit Erwachsenen schon sehr kompetent interagieren. Bei Drei- bis Vierjährigen dominiert animistisches, magisches Denken. So schreiben sie etwa Wolken, Mond und Sonne eine Persönlichkeit zu. Auch wenn das Phänomen unbestritten ist, dürfte Piaget die Häufigkeit animistischer Annahmen überschätzt haben, da er die Kinder meist zu Gegenständen befragte, mit denen sie noch wenig Erfahrung gesammelt hatten. Die meisten Drei- bis Vierjährigen glauben dennoch an übernatürliche Kräfte bei Märchenwesen (z. B. Feen oder Zwergen) und pendeln zwischen magisch-animistischen und realistisch-naturalistischen Weltsichten hin und her. Sie engagieren sich gerne in sogenannten Als-ob-Spielen, also Funktions- und Rollenspielen, bei denen bestimmte Objekte neue Funktionen erhalten (eine Schachtel wird etwa zum Auto) oder das Kind sich mit Personen (z. B. einem Lastwagenfahrer) identifiziert. Diese Spiele kommen schon ab dem zweiten Lebensjahr zum Einsatz, wobei der Höhepunkt wohl zwischen drei und vier Jahren erreicht wird. Magie scheint für alle diejenigen Vorgänge verantwortlich, die sich die Kinder nicht erklären können. Mit zunehmendem Alter und zunehmend größerer Vertrautheit mit physikalischen Prinzipien nimmt das magische Denken der Kinder ab. Die Freude an der Fantasiewelt ist insgesamt groß und zeigt sich etwa auch darin, dass junge Kinder nicht selten imaginäre Freunde erfinden (vgl. Mähler, 2007).
|18|Piaget wies jedoch auch auf eine Reihe von stadientypischen Beschränkungen hin, die er als Ausdruck mangelnder Beweglichkeit des Denkens, als Unfähigkeit, zwei Aspekte einer Situation gleichzeitig zu beachten, und als Unfähigkeit, äußerlich beobachtbare Handlungen „im Geiste“...