II.
EINLEITUNG
Karl Schmid ist eine der interessantesten und vielseitigsten Schweizer Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Germanist und Historiker, Professor und Rektor der ETH Zürich, Generalstabsoberst und Stabschef des Gebirgsarmeekorps, Präsident des Schweizerischen Wissenschaftsrates, Präsident der Schweizerischen Auslandhilfe, Publizist, Militärstratege und Bildungsreformer – Schmid bietet das Bild eines exemplarischen Staatsbürgers, der sich neben seiner beruflichen Tätigkeit für politische und militärische, nationale und kommunale Aufgaben immer neu zur Verfügung stellte.
Die vorliegende Biografie versucht Schmids äusserlichen Werdegang und seine innere Entwicklung nachzuzeichnen: seine behütete Jugend in Wollishofen, das Studium in Zürich und Berlin, die folgenden Jahre als Hilfslehrer. Erst recht spät festigt sich seine berufliche Existenz durch die Wahl zum Deutschlehrer am Kantonalen Gymnasium. Fast zur selben Zeit kommt es zur Hochzeit mit Elsie Attenhofer und zur Gründung einer Familie – und fast zur selben Zeit bricht der Krieg aus. Es folgen der Aufstieg zum Professor an die ETH – und unzählige weitere Funktionen auf unterschiedlichster Ebene, an der Hochschule, in der Armee, im Literaturbetrieb, in der Sicherheits- und der Bildungspolitik. Mit seiner Publizistik hat Karl Schmid die kulturelle und politische Öffentlichkeit massgeblich mitgeprägt, auch wenn der Kreis seiner Wirkung die West- und Südschweiz nicht in gleicher Weise erfasste wie Zürich, seinen natürlichen Lebensmittelpunkt. Es fragt sich indes, ob dies heute anders ist, ob die Intellektuellen nun sprachübergreifend wirken oder ob ihre Wirkung nicht doch meist auch an den Grenzen der Sprach- und Kulturräume haltmacht.
Betrachtet wird, durch die Textur dieser Individualität hindurch und über sie hinaus, aber auch die Zeitgeschichte, die Vorkriegs- und Kriegszeit, und dann die lange Epoche des Kalten Kriegs. Wer wissen will, welche Beklemmung und Atemnot die Schweiz in den ersten Jahren des Zweiten Weltkriegs prägte, wie die 1950er-, 1960er-, die frühen 1970er-Jahre des vergangenen Säkulums rochen, der lernt es an (und mit) Schmid. Seine Leser tauchen ein in die Atmosphäre dieser Zeit. Man erfährt, wie man damals dachte und empfand in diesem Land, im Aktivdienst, im Kalten Krieg, der vermeintlich ewigen Hochkonjunktur. Schmids Werk ist für seine Entstehungszeit von hoher Repräsentativität und eine ergiebige Quelle für spätere Mentalitätsgeschichten. Man halte sich etwa vor Augen, dass erst drei Jahre vor Schmids Tod in der Schweiz das Stimm- und Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde – wie tief historisch ist diese Epoche geworden!
Lange ist es eine Zeit der klaren Strukturen, hüben und drüben sind sauber zu scheiden, ein gemeinsamer Gegner stiftet Identität und Lebenssinn oder verstärkt sie. Mit den Jugendunruhen von 1968 bricht diese Ordnung innenpolitisch auf. Karl Schmid, der auch als öffentliche Figur üblicherweise die Vaterposition versah, ist irritiert. Er mag und kann sich nicht einfach abwenden. Vieles läuft während dieser Transformation von ihm weg, und von vielem löst er sich selbst. Es gibt, das heisst: es gilt nichts Bürgerlich-Bedeutsames mehr anzustreben, die Karrieren sind gemacht, die Gipfelhöhe ist passiert, das Erreichte verbleicht, der Abschied beginnt. Schmids ewige Schwermut, früher in der Sonne der Arbeitsdisziplin trockengelegt, relativiert nun, wie Krankheit, als Krankheit, die Siege von früher. Es häufen sich Äusserungen, die sich nicht am Tag vertäuen, sich nicht in sich selbst erschöpfen, die vielmehr den Wert und die Würde des Natürlich-Allgemeingültigen gewinnen: der pater familias in seinem vernunftentbundenen Schmerz um die ihn nach menschlichem Gesetz verlassende erwachsene Tochter, in seiner nachdenklichen Freude über das gute Einvernehmen mit seinem Sohn, den er fördern, aber nicht gängeln will.
«Manchmal denkt man», meinte Karl Schmid kurz vor seinem Tod, «man sollte ‹Lebenserinnerungen› aufschreiben. Aber das ist ein Trauergedanke, ein gefährlicher. Wäre ja auch nur möglich, wenn man sich wichtig nimmt.»[1] So hat er keine solchen Aufzeichnungen hinterlassen. Auch deshalb stand mir seit der Herausgabe der Gesammelten Werke und Briefe Karl Schmids, den ich leider nicht mehr persönlich kennengelernt habe, als Aufgabe ein biografisches Wagnis vor Augen: Man versucht ein Dasein zu lesen wie einen Text und kann dabei glücklich sein, wenn man wenigstens eine plausible Lesart erfasst. Und doch ist Plausibilität gerade keine Kategorie des Lebens, das sich seine Regeln stets selbst setzt.
Die meisten von Schmids Handlungen und Entscheidungen nach dem 20. Altersjahr sind belegt. Dennoch gibt es bei ihm wie in jedem Leben vieles, das keinen Weg in die Verschriftlichung findet, das nicht überliefert wird, Geheimes, das die Betroffenen und Beteiligten mit ins Grab nehmen. Hier steht es Biografien nicht an, sich spekulativ aufzublähen. Aber selbst wo Dokumente vorliegen, ist der Vorbehalt angebracht, dass der direkte Schluss auf das disparate, tiefverrätselte Kontinuum, das wir Leben nennen, nicht immer erlaubt ist.
Diese Biografie arbeitet mit vielen Zitaten. Sie dienen als Belege, mehr aber noch als Duftstoff. Sie sollen Schmids Denken und die präzise Plastik seiner Sprache direkt vor Augen führen. Auf ambitionierte Werkdeutungen wird verzichtet, auch auf tiefenpsychologische Digressionen, obwohl sich beides vertreten liesse. Mag diese Feststellung Anreiz für Spätere bieten. Immerhin soll das bekannteste Hauptwerk Schmids, Unbehagen im Kleinstaat, ausführlicher betrachtet werden.
Wenn Elsie Attenhofer einfach Elsie genannt wird – wie ihr Mann es tat und wie sie mir in ihren letzten Jahren selbst gestattete, es zu tun –, und ihr Mann gelegentlich Karl, die Kinder Christoph und Regine, so geschieht dies nicht im Geiste der Anbiederung, sondern im Kontext der Familiensituation.
CITOYEN
Die Franzosen sprechen vom Citoyen, die Russen vom Grashdanin. Mit dem Citoyen, ursprünglich der stimm- und wahlberechtigte Bürger der Cité, waren nach der Französischen Revolution alle französischen Staatsbürger gemeint. Es war, liesse sich sagen, ein Prädikat, das jedem zukam, und zugleich ein Adelstitel: Citoyen ist, wer aktiv am Gemeinwesen teilnimmt. Jeder Franzose sprach den anderen so an, und in der Anrede klang Stolz mit über die Freiheit, welche die Bürger errungen hatten.
Deutschland kennt kein politisches Äquivalent, das zu einem analogen Begriff hätte führen können, auch die Schweiz nicht. So hilft man sich im Deutschen mit dem Begriff des Staatsbürgers oder auch nur des Bürgers. Wenn dies auch ein mehrdeutiger und unklarer Begriff ist, so eignet ihm dafür der Vorteil, dass er sich nicht von einem singulären geschichtlichen Ereignis herschreibt und nicht Gefahr läuft, auf dieses beschränkt zu werden. Vor allem aber zieht das Deutsche Gewinn daraus, dass es nicht zwischen dem Citoyen und dem Bourgeois – einem saturierten Menschen, der vorab wirtschaftliche Interessen verfolgt – unterscheidet.[2] Denn im Ideal des Bürgers kommen geistige und ökonomische Unabhängigkeit zusammen. Politische Unabhängigkeit setzt geistige voraus, und diese wiederum ökonomische; insofern ist der Bürger Citoyen und Bourgeois zugleich. Das ist es, was Karl Schmid auszeichnet: Er war überzeugter Bürger, seinem Land und Gemeinwesen tief verpflichtet, und gerade darum stets auf seine persönliche und geistige Unabhängigkeit bedacht. In diesem Sinne soll der Untertitel verstanden werden; zugleich verbindet sich damit die Hoffnung, dass der deutsche Begriff «Bürger» einmal zu einer Bedeutung und Strahlkraft gelangt, welche die vorläufig noch nötige Übernahme des «Citoyen» entbehrlich macht.[3]
In seinem Werk Die Politik stellte Aristoteles die These auf, der Mensch sei ein «zoon politikon», nämlich ein soziales, auf Gemeinschaft angelegtes und Gemeinschaft bildendes Lebewesen.[4] Karl Schmid hätte sie unterschrieben. Er bekannte sich zu einem Staatsverständnis, zu dem sich der Einzelne verpflichtet fühlt, über die gesetzlichen Minimalpflichten wie das Zahlen der Steuern und das Leisten von Militärdienst hinaus freiwillig Verantwortung zu übernehmen. Dies konnte durch politische Funktionen geschehen, öffentliche Ämter in Gemeinde, Kanton oder Bund, oder auch durch anderweitige Teilnahme am staatlichen Geschehen. Staats- und Milizgedanken sind hier untrennbar verbunden.
Der Bürger ist ein Mensch, der teilhat und teilnimmt. Er beschränkt sich nicht darauf, Besitzbürger zu sein, sondern will essenziell ein Teilnahme- und Teilhabebürger sein. Er bringt sich ein, leistet und liefert. Er geht, mit Caesars Formel operibus anteire,[5] «durch Werke voran». Wenn der Adel dem alten Prinzip der Ehre verpflichtet war, während das moderne Prinzip «Leistung» heisst, so liesse sich der Milizgedanke vielleicht als «Ehre durch Leistung» fassen. Ein solcher Bürger wird nicht geduldet vom Staat, sondern erweckt diesen vielmehr durch sein Wirken erst zum Leben. Im Grunde schliesst Karl Schmid damit an die Idealvorstellungen des schweizerischen Bürgers im 19. Jahrhundert an, wie sie Gottfried Keller und Jeremias Gotthelf nicht ohne pädagogische Absichten vor Augen gestellt haben. Dazu gehört, dass jener mehr für das Gemeinwohl leisten soll, der von seiner Begabung und von dem zeitlichen Freiraum her dazu eher in der Lage ist. Es ist gerade sein Stolz, sich selbst zu belasten, wie Peter Sloterdijk...