DIE JUGENDJAHRE
Ich kam in Wien am 20. November 1881 zur Welt als Sohn des Hof- und Gerichtsadvokaten Dr. Simon Somary und seiner Frau Fanny. Ich war ihr sechstes Kind – die vier älteren waren an der damals unheilbaren Diphtherie gestorben; das fünfte, meine Schwester Ella, und später das siebente, meine Schwester Paula, blieben mit mir zeitlebens in innigster Freundschaft verbunden. Sie hatten von unseren Eltern gelernt, was Familie wirklich bedeuten kann. Die Selbstverständlichkeit, in jedem der Wechselfälle des Schicksals zuerst an den andern und dann erst an sich zu denken, ist etwas der echten Familie Eigentümliches. Wohl dem, dem dieses durch nichts zu ersetzende Lebensglück zuteil wird.
Advokaturbüro und Wohnung waren damals zumeist verbunden. Der Anteil der Familienmitglieder am Berufsleben des Vaters und derjenige des Vaters am Leben und den Studien der Kinder, der Zusammenhalt der Familie war ungleich stärker als in den Großstädten der Gegenwart. Schon als kleine Kinder lernten wir die Achtung vor dem Beruf des Vaters, wenn unsere Mutter den Finger auf den Mund legte, um uns zur Ruhe zu mahnen, weil im Nebenzimmer Klienten verhandelt oder der Vater in seiner Arbeit nicht gestört werden sollte. Uns war die Tätigkeit des Vaters fast etwas Heiliges, und wir hielten den Begriff des «Berufes» so hoch, daß später das Wort «job» uns als Beleidigung zurückstieß.
«Die innere Stadt», das erste, noch bis zum dritten Viertel des 19. Jahrhunderts vom Glacis umgebene Zentrum Wiens, hatte in meiner Kinderzeit kaum sechzigtausend Einwohner; aber sie umfaßte die Gebäude der Zentralregierung des großen Reiches, die höheren Gerichte, die Universität und die führenden Kunstinstitute. Alles außerhalb des Zentrums hieß «Vorstadt», was ungefähr soviel wie Provinz bedeutete. Von einzelnen Villenvierteln abgesehen, war die «Vorstadt» der Sitz von Handel und Industrie und die Wohnstätte der Arbeiterschaft. Kunst, Wissenschaft, Intelligenzberufe und Bürokratie waren im Zentrum organisiert. Fast ein Viertel des Areals nahm die Kaiserburg mit ihren Höfen, Gärten und großen Kunsthallen ein. Als wir Kinder waren, waren der Vorplatz der Burg und der anschließende Volksgarten unsere Lieblingsspielplätze. Noch ehe ich das zehnte Lebensjahr erreichte, wurde meiner Schwestern und mein Interesse an dem rege, was die andern Bauten enthielten.
Das Areal der Hofburg umfaßte eine Reihe von Anstalten der Kunst und Wissenschaft, die in der Höhe ihres Kunstwertes, ihrer historischen Bedeutung oder der Qualität ihrer Leistungen kaum irgendwo auf Erden ihresgleichen hatten. Da war die Schatzkammer mit der Krone des Heiligen Römischen Reiches. Links weiter die Hofkapelle, in der am Sonntag die schönste Kirchenmusik ertönte, die mir noch heute in den Ohren klingt. Weiter die Spanische Hofreitschule, die wohl zu den Kunstinstituten gezählt werden mochte; denn hier war ein Sport zur Kunst ausgebildet worden. Am daran anschließenden Josefsplatz steht Fischer von Erlachs Meisterwerk, das großartige Bibliotheksgebäude mit dem wunderbaren Büchersaal und der gewählten Bücherei. Weiter die Albertina, die einzigartige Handzeichnungs- und Kupferstichsammlung; den Abschluß bildete das Opernhaus, das damals unter Hans Richters, dem Mitarbeiter von Richard Wagner, und sodann unter Gustav Mahlers Leitung Aufführungen von beispielloser Schönheit bot. Am südlichen Flügel des Areals waren die kunst- und naturwissenschaftlichen Sammlungen, am Westflügel das Schauspielhaus, das Burgtheater, dessen Shakespeare-Aufführungen zwei Generationen unvergeßlich geblieben sind. Von unserem zehnten Jahr an waren wir drei Geschwister mindestens dreimal in der Woche «angestellt», das heißt auf einem Stehplatz in einem der beiden Theater, und sahen die Meisterwerke aller Nationen in hervorragendsten Aufführungen an uns vorbeiziehen. Nie wieder habe ich ein begeisterteres, aber auch kritischeres Publikum gefunden.
Uns schienen all diese wundersamen Einrichtungen zu gehören, denn sie waren in unmittelbarer Nähe unserer Wohnung. Überall hatten uns unsere Eltern erst eingeführt und dann unsere Aufmerksamkeit frühzeitig auf das Wesentliche gelenkt. Dank ihrer Intervention wurde uns in der Albertina selbst Dürers «Grüne Passion» im Original und nicht, wie den andern Besuchern, in der Kopie gezeigt. «Wenn man dies sehen darf, sollte man eigentlich niederknien», sagte mein Vater mir dabei – und wir lernten früh die Qualität würdigen. Wir konnten all dies Herrliche aus dem vollen genießen, an den meisten Orten fast allein – denn mit Ausnahme des Theaters kümmerten sich die Wiener wenig um die wunderbaren Schätze, die sie so mühelos hätten genießen können.
Die Eltern haben sich täglich über alles erkundigt, was wir gesehen haben, und mit ihrem weiten Wissen uns vieles mitgeteilt, was uns für das Leben geblieben ist. Im Frühling und Herbst machte ich am Sonntag mit meinem Vater Ausflüge in den Wiener Wald und manchmal in die Alpen. Es war die Zeit des sommerlichen Bergsteigens, und mein Vater liebte es leidenschaftlich; «kann keinen Berg sehen, ohne hinaufzuklettern», lächelte meine eher seßhafte Mutter liebevoll. Die Berge, durch so viele Jahrhunderte der Schrecken der Wanderer, waren seit nicht länger als zwei Menschenaltern zum größten Sommer- und Sportvergnügen geworden.
Wie kurz war doch diese Periode der Alpinistik! Sie dauerte im Grunde kaum zwei Generationen; denn schon um 1900 begann der Skisport – in Lilienfeld bei Wien, von Zdarsky zuerst aus Norwegen gebracht. Damit traten die sommerlichen Bergfreuden in den Hintergrund. Mir pochte das Herz, wenn der Vater mit strahlendem Gesicht am Samstagnachmittag mir zurief: «Wir gehen auf die Rax!»
Fünfzig Jahre später sah ich junge amerikanische Soldaten, auf Urlaub nach dem zweiten Weltkrieg, am Urnersee gleichgültig vorbeifahren, ohne auch nur einen Blick hinauszuwerfen.
Die Ferienzeit verbrachten wir in meiner frühesten Kindheit in der unmittelbaren Umgebung von Wien und später im Salzkammergut, dem seen- und waldreichen Teil von Oberösterreich. Gerichtsferien gab es damals noch nicht, und unser Vater kam nur am Wochenende zu uns mit dem Spätnachmittagszug am Samstag von Wien mit Ankunft gegen Mitternacht. In der Nacht vom Sonntag kehrte er nach Wien zurück. Schlafwagen gab es nur auf den internationalen Strecken, und sie galten als Luxus. Der Luxus aber war nur für wenige Festtage reserviert.
In der kommunistischen Literatur unserer Zeit erscheint der Bürger regelmäßig als Ausbeuter, als Müßiggänger mit der einzigen Tätigkeit, «Coupons abzuschneiden» (was ich in Wirklichkeit einen Privatmann niemals habe tun sehen); der übrigen Welt gilt der Österreicher als Bonvivant, der an nichts anderes als an Essen denkt; vollends das Zeitalter Franz Josephs wird unter dem Einfluß Hollywoods als «Schlaraffenzeit» angesehen, in welcher der Bürger seine Jugend im Tanzsaal, seine Lebensmitte im Kaffeehaus und seinen Lebensabend beim Heurigen verbracht habe, während die Mädchen und Frauen bis ins höchste Alter aus permanenter Verliebtheit nicht herausgekommen seien. Wie lächerlich oder infam sind diese so oft wiederholten Märchen.
Man hat heute vergessen, daß die Theorie vom Arbeitswert vom Bürgertum ausging und daß für dieses – im Gegensatz zu den Industriearbeitern – die zeitliche Unbegrenztheit der Arbeit charakteristisch war.
«Winkt der Sterne Licht,
ledig seiner Pflicht
Hört der Bursch die Vesper schlagen –
Meister muß sich immer plagen!»
Und das war auch zwei Generationen nach Schiller wahr. Für den Bürger gab es keine Arbeitsbegrenzung. Wie oft hat unser Vater nach dem Abendessen gearbeitet – wie lange, das haben wir Kinder merken können, wenn sich unsere Eltern über die Betten beugten; und wenn es auch Mitternacht und später wurde, stets waren Vater und Mutter wieder wach, uns um sieben Uhr früh zu wecken.
Der Lebensstil war von äußerster Einfachheit: Zum Frühstück gab es Milchkaffee und ein Stück Gebäck; zu Mittag an fünf Wochentagen Suppe, Rindfleisch und Gemüse, manchmal Mehlspeise auf Wienerart; nachmittags Kaffee und abends Butterbrot (Schwarzbrot) und Obst. Braten gab es nur am Sonntag. Als Getränk diente das ausgezeichnete Wiener Quellwasser. Ich habe meine Eltern ein einziges Mal Wein trinken sehen, am Tage der silbernen Hochzeit.
Meine Mutter besaß ein ungewöhnliches musikalisches Talent, und ihr Klavierspiel hatte die hohe Aufmerksamkeit von Anton Rubinstein erregt. Unter ihrem Einfluß lernte meine Schwester Ella und wurde besonders ausgebildet in der Meisterklasse von Leschetitzky. Meine Schwester Paula debütierte mit fünfzehn Jahren am Deutschen Volkstheater in Wien und spielte später mit großem Erfolg in Berlin am Königlichen Schauspielhaus und am Lessingtheater in einem reichen Repertoire.
Ich bezog nach Beendigung der vier Volksschulklassen – die fünfte wurde mir erlassen – das Schottengymnasium in Wien, eine mit Recht sehr berühmte Lehranstalt der Benediktiner, die als das beste österreichische Gymnasium galt. Der Lehrplan war weit gestreckt; auf Latein, Griechisch, Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaften wurde besonderes Gewicht gelegt. Wir haben teils in der Schule, teils zu Hause so gut wie alle römischen und griechischen Klassiker gelesen und in der Germanistik die mittelhochdeutsche Literatur durchgenommen. Die Ergänzung für die englische, französische und spanische Literatur leisteten das Burgtheater und das Volkstheater.
Da ich meinen Eltern finanziell nicht ganz zur Last fallen wollte, gab ich von meinem vierzehnten Jahr an...