1 Wie entsteht die Fälschung?
Der Mensch ist ein soziales Lebewesen. Beziehungen entscheiden über seine Entwicklung, und Beziehungskultur bestimmt die Lebensqualität. Durch Säuglingsforschung, Hirnforschung und die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie sind diese einfachen Aussagen in überzeugender Weise wissenschaftlich gesichert. Umso erstaunlicher, ja beunruhigender ist deshalb die Tatsache, dass in Politik und Wirtschaft dieses Wissen nicht ausreichend berücksichtigt wird und im menschlichen Zusammenleben psychosoziale Konflikte, Beziehungsängste und Feindseligkeiten das Leben mehr bestimmen als soziale Gemeinschaft, als die Erfahrung psychischer Verbundenheit und eines wechselseitigen empathischen Verstehens.
Die Säuglingsforschung hat uns gelehrt, dass der Mensch von Anfang an ein Subjekt von Beziehung ist. Dabei ist die Beziehungsqualität zwischen Mutter – Kind, Vater – Kind und Mutter – Vater – Kind von entscheidender Bedeutung. Der Säugling gestaltet in seiner Einmaligkeit und mit seinen Bedürfnissen die Beziehung aktiv mit. Das Kind macht die Frau zur Mutter und den Mann zum Vater. Es geht bei der Einschätzung der Beziehungsqualität um die Frage, wie die Eltern auf die originären Angebote ihres Kindes reagieren und welche individuellen Beziehungsangebote sie selbst machen. Die Beziehungspartner bilden allmählich ein spezifisches Beziehungsensemble – ein Familienmuster. Dabei liegt die Gestaltungsmacht mehr bei den Eltern, und die Kinder sind die Opfer der elterlichen Einflüsse. Aber auch die immer schon vorhandenen Eigenarten eines Kindes, sein einmaliges Sosein, verlangen empathisches Verstehen und adäquates Reagieren der Eltern. Mutter und Vater mit schwacher, ungeübter oder gestörter Elternfunktion werden schnell selbst zu Opfern ihrer Kinder, wenn sich diese aufgrund von vorenthaltenem Verständnis, erlittener Kränkung oder verweigerter Begrenzung in «Quälgeister» verwandeln. Auffälliges Verhalten von Kindern oder später die sogenannte «Pubertät» sind keine Krankheiten, sondern Symptome von Beziehungsstörungen zwischen Eltern und Kind. Wenn Kinder mit Handicaps geboren werden, ist das zumeist eine besondere Herausforderung für die Eltern. Sie müssen dann lernen, Ängste und Unsicherheit, aber auch Kränkungen aufgrund der Behinderung, für die sie sich zumeist verantwortlich fühlen, sowie mögliche eigene Ablehnungstendenzen gegen das Kind zu regulieren und zugleich eine schuldgefühlsgetragene falsche Fürsorge zu vermeiden.
Vor der Erforschung der Mutter-Kind-Interaktionen galt das Kind als ein Objekt der Erziehung, dem das «richtige» und «gute» Leben beigebracht werden müsse. Das Kind war den Erziehungsvorstellungen der Familie und damit in der Regel den gesellschaftlichen Normen und Entwicklungserwartungen ausgesetzt. Erziehung geschah überwiegend durch autoritären Druck, durch Einschüchterung, mittels Manipulation durch Lob und Strafe und endete am häufigsten in der Unterwerfung des Kindes unter den Willen der Erwachsenen. Nicht selten führte dieses Verhalten zu Erkrankungen des Kindes und manchmal auch zu rebellischen Kämpfen. Heute wissen wir, dass die Entwicklungschancen eines Menschen ganz wesentlich davon abhängen, ob und wie die ersten Beziehungspartner (Eltern, Geschwister, Großeltern, Krippenerzieher, Tagesmütter) in der Lage sind, die Beziehungsangebote des Kindes richtig zu verstehen und angemessen darauf einzugehen. Dabei ist mit «angemessen» eine Antwort auf das Signal des Säuglings im Sinne einer optimalen Befriedigung (qualitativ und quantitativ) des gezeigten Bedürfnisses gemeint, optimal nach dem Empfinden des Kindes und nicht nach den Vorstellungen der Betreuungspersonen. Solange keine krankheitswertige Störung vorliegt, äußern nicht frustrierte Säuglinge kein falsches oder überzogenes Verlangen. Es ist alles echt und unmittelbar und sollte so auch verstanden und beantwortet werden. Der Säugling erfährt Lust oder Unlust noch ohne Möglichkeit einer rationalen Einsicht und kognitiven Verarbeitung der Betreuungsqualität. Deshalb ist die erlebte Qualität der frühen mütterlichen Versorgung für das Wohlbefinden und die Entwicklung des Kindes so wichtig.
Mit dem Heranwachsen des Kindes sollte die immer auch vorhandene Begrenzung an guter Mütterlichkeit[1] als aktuelle Schwierigkeit der Mutter kommuniziert werden (z.B.: «Es geht jetzt nicht …, Ich habe jetzt keine Zeit …, Ich bin jetzt überfordert …, Ich bin jetzt mit mir/meiner Arbeit beschäftigt … Es tut mir leid!»). Solche Reaktionen sind natürlich auf das Alter des Kindes und das jeweilige Anliegen abzustimmen, aber immer kommt es darauf an, dass verständlich gemacht wird, dass das Beziehungsproblem beim Erwachsenen liegt und sich das Kind nicht als unverstanden, abgelehnt oder als falsch erleben muss. Das gilt auch, wenn Kinder überzogene und unerfüllbare Wünsche äußern. Dann ist es entscheidend für das Wohl des Kindes, ob es die Information erhält: «Nein, ich kann/will das jetzt leider nicht …», «Nein, das ist nicht möglich, weil …» oder ob es wegen seines Bedürfnisses gekränkt oder ganz und gar abgelehnt wird: «Du bist doch unmöglich …, wie kannst du nur so etwas wollen? … Du musst doch Rücksicht auf mich nehmen!»
Eine Mutter sollte wissen, dass sie vom kleinen Kind ausschließlich als «Mutter» wahrgenommen wird und nicht als eigenständige Person mit individuellen Bedürfnissen, Interessen und Verpflichtungen. Die Mutter ist kein «Mensch» für das Kind, sondern ausschließlich versorgendes Objekt, das entweder als lustvoll wahrgenommen wird oder Unlust erzeugt. Dabei ist es für die emotionale Verarbeitung des kindlichen Erlebens und für seine Orientierung entscheidend, ob der Erwachsene mit einer Ich-Botschaft reagiert oder mit einer Du-Bewertung des Kindes. Wenn dem Kind etwas nicht erfüllt werden kann, sollte es wenigstens traurig sein dürfen, auch enttäuscht reagieren und vielleicht sogar wütend seinen Unmut zeigen dürfen. So bleibt es mit dem angemessenen Gefühlsausdruck gesund, weil es den Enttäuschungsstress emotional abführen kann. Und es lernt dabei, mit einer der wichtigsten Lebenserfahrungen umzugehen: der Begrenzung.
Begrenzung ist in jeder Hinsicht normal, unbegrenzte Erfüllung würde in die Sucht führen. Unendliches Wollen ist bereits ein Krankheitssymptom unerfüllter basaler Bedürftigkeit. Das Kind, das sich bei immer auch notwendiger Ablehnung eines Wunsches kaum beruhigen lässt, macht bereits sehr nachdrücklich auf seinen defizitären Status aufmerksam, bei dem der quengelnde Wunsch zusammen mit der heftigen Erregung Symptom eines grundlegenden Unbefriedigtseins ist. Je weniger die basalen Grundbedürfnisse des Kleinkindes erfüllt werden, desto mehr sucht es nach Ersatz und Kompensation. Nur die Not lässt horten, geizen, tricksen und kämpfen; Überlebensnot macht den Menschen böse, gefährlich und gewaltbereit. Und Not entsteht nicht nur aus Nahrungs- und Wassermangel, sondern ebenso aus Liebes- und Bestätigungsmangel sowie bei sozialer Ablehnung und Ausgrenzung. Von den Suchterkrankungen wissen wir, dass es nicht so sehr die Drogen sind, die den Menschen süchtig machen. Vielmehr sucht der ungestillte Mensch sich Mittel, die seine Qual lindern sollen, die er dann aber ständig braucht, weil sie die Bedürftigkeit nicht löschen, sondern nur betäuben. Bei dann zwangsläufig ständigem Mittelgebrauch können zusätzliche biochemische Abhängigkeiten entstehen, die einen Entzug – nicht nur psychisch, sondern dann auch körperlich – so schwer machen.
Kollektiv gesehen, versammelt das Ersatzstreben ungestillter Menschen süchtige Energien, um immer mehr «Drogen» zu gewinnen und zu konsumieren. Das kann sich zu einer basalen Pathologie einer Leistungs- und Wachstumsgesellschaft auswachsen, wenn die Menschen vor allem nach materiellem Ersatz für Beziehungsdefizite streben. Süchtigkeit macht aus Begrenzung Bedrohung, egoistische Überlebensnot verhindert soziale Erfüllung in Beziehungskultur. Der Nachbar ist dann kein Mensch mehr zur sozialen Bereicherung, sondern bedrohlicher Konkurrent, während die Gemeinschaft, die am ehesten Schutz, Hilfe und Unterstützung gewähren und Verständnis,...