KAPITEL 1
DEUTSCHLANDS VERGESSENE KINDER
ARMES DEUTSCHLAND: WARUM DEINE KINDER AUSGETRÄUMT HABEN
Im Jahr 2007 haben wir als christliches Kinder- und Jugendwerk Arche mit dem Buch „Deutschlands vergessene Kinder“ Deutschland aufgerüttelt: Chancengleichheit, wie sie jedem Kind gewährt werden sollte, gibt es nicht. Immer mehr Kinder können sich nicht nach den gleichen Möglichkeiten entwickeln wie andere.
Seitdem hat sich die Zahl der Archen auf 15 vervielfacht, vier davon allein in der Hauptstadt Berlin und je zwei in Hamburg und Frankfurt. Ihr Name ist Programm und mittlerweile ein Aushängeschild, denn für Kinder sind die Archen sichere Inseln im oft chaotisch aufgewühlten Meer ihres sozialen Umfelds. Täglich bieten sie ihnen kostenlos eine warme Mahlzeit und schenken mit vielen Programmen ein wenig Farbe in ihren oft durch Sorgen belasteten Alltag. Es sind Orte, an denen die Kinder erfahren, dass ihnen zugehört wird. Sie dürfen unbefangen Spaß haben, machen und erleben. Und sie spüren, wenn nicht gar wissen, es gibt dort Menschen, die an sie glauben und sich engagiert kümmern, ihnen eine Perspektive fürs Leben zu eröffnen.
Dass die zunehmende Zahl der Archen als Erfolg für unsere spendenbasierte Arbeit sowie als wertvolle Anlaufstelle für Kinder anzusehen ist, lenkt gleichzeitig unverhohlen den Blick auf den dahinterliegenden Trend – den stetig steigenden Bedarf: Immer mehr Kinder in Deutschland haben es nötig, unterstützt, betreut und gefördert zu werden. Über 2,5 Millionen Kinder leben in Deutschland zurzeit in Einkommensarmut. Die Plätze und Angebote sozialdiakonischer Einrichtungen reichen bei Weitem nicht aus. Deutschland bräuchte noch mehr Archen, mehr betreute Angebote, mehr Pädagogen, mehr Räumlichkeiten, mehr … und mehr …
Selbstkritisch, aber ohne unsere vielen Unterstützer vor den Kopf stoßen zu wollen, fragen wir daher: Drückt der Erfolg der Archen nicht gleichzeitig den Misserfolg des Sozialstaates aus? Denn hätten Kinder alles, was sie brauchen, würde es dann noch Archen bzw. andere tätige Vereine oder Organisationen für Kinder geben? Sind Deutschlands Kinder, sieben Jahre nach dem Aufschrei, also immer noch vergessen?
BERUFSWUNSCH HARTZ IV
Eine unserer wichtigsten Aufgaben als Gesellschaft ist es, Kindern Geltung und Wert fürs Leben mitzugeben. Es gilt sie wertzuschätzen und zu fördern. Individuell, persönlich und ganzheitlich. Nicht nur, weil sie unser gesellschaftliches und wirtschaftliches Potenzial von morgen sind, als Mitarbeiter und Kunde. Als deutscher Staat haben wir uns sogar dazu verpflichtet, ihre Würde zu achten und zu schützen. Und damit einher geht unsere Verantwortung, sie auf dem Weg ins Leben, hinein in unsere Gesellschaft zu begleiten. Gerne klammern wir uns da einvernehmlich an den gesellschaftlichen Konsens und skandieren in der Politik einmütig: „Kinder sind unsere Zukunft.“ Doch ist uns tatsächlich die Gegenwart dieses Denkspruchs bewusst? Dass sie es heute schon sind und es nicht einfach eines Tages sein werden. Wie also wollen wir für Werte und soziale Gerechtigkeit Sorge tragen, wenn der Staat diesem Gestaltungsauftrag, mitunter sogar seiner Pflicht hier und heute nicht nachkommt?
Zu uns in die Arche kommen viele Kinder, die dem Staat nicht mehr trauen. Sie haben die bittere Erfahrung gemacht, nicht mehr als Potenziale wahrgenommen zu werden. In ihrem direkten Umfeld hören sie nur allzu oft, dass sie „nichts“ sind, „nichts“ können oder zu „nichts“ zu gebrauchen sind. Manche greifen zu Alkohol und Drogen, um ihrem Selbstwert-Vakuum wenigstens eine begrenzte Zeit zu entfliehen. Ihre Spirale führt abwärts. Was aber, wenn sie sich selbst einen Ruck geben, sich selbst beim Schopfe packen, um ihrem Schlamassel und ihrer Bedeutungslosigkeit zu entkommen und eine Wendung zu geben? Treffen diese Kinder und Jugendlichen dann noch auf einen Staat und eine Gesellschaft, die es verstehen, in sie zu investieren? Fakt ist: Niemand scheint sich mehr Mühe geben zu wollen, wenn erst einmal der Stempel „Hartz IV“ oder „Förderschüler“ über einem Kind prangt. Manche Schulen haben sogar bereits das „Fördern“ an den Nagel gehängt und sind dazu übergegangen, die Kinder gezielt auf Hartz IV, auf ein Leben ohne Ausbildung und Arbeit, vorzubereiten, so wie ihre Eltern es führen. Gesellschaftlich scheint sich ein Investment wohl nicht mehr zu lohnen, da man sich heute nicht mehr viel von diesen Kindern verspricht. Statt als Innovationsbringer schreibt man sie lieber als Ausgabe ab, als Belastung für das Sozialsystem von morgen. Schöne Zukunft!
OHNE PERSPEKTIVE WIRD ES INSTABIL
Wir machen uns etwas vor, wenn wir so tun, als wüssten diese Kinder nicht, dass ihre materielle Armut auch ihre emotionale und intellektuelle bedingt. Sie selbst sind täglich konfrontiert mit ihrem Defizit an Zukunft und Perspektive, das noch viel schlimmer ist als die täglichen Sorgen, die sie zu Hause haben.
Wenn also Kinder und Jugendliche in der Arche als Berufswunsch Hartz IV nennen, dann darf uns das nicht ins Nachdenken bringen; es muss uns empören! Und wenn Lehrer Hartz IV als Bildungsauftrag verstehen, müssen wir Verantwortung übernehmen und als Gesellschaft handeln.
In der Arche erleben wir allerdings im Großen wie im Kleinen, dass „erwachsene“ Lösungen oft nicht Kindern entsprechen. Manche sind auch gar nicht zukunftstauglich. Einfach Regelsätze aufzustocken oder Bildungsgutscheine auszugeben reicht nicht, um Kindern aus armen Verhältnissen wirklich Perspektive zu schenken. Eine Bescheinigung oder ein paar Euro mehr in der Tasche der Eltern helfen Kindern auch nicht dabei, aktiv neue Vorstellungskräfte zu entwickeln. Es braucht mehr, um ein Kind von seiner Vorstellung zu lösen, dass Gangster-Rapper, Castingshow-Popstar oder Hartz-IV-Empfänger erstrebenswerte Traumberufe sind. Zudem begreifen einige gar nicht die Realität hinter ihrem TV-gespeisten Mikrokosmos – dass das Leben vor allem für sie, wenn nicht gar für alle Kinder in Deutschland, noch herausfordernder wird, angesichts zukünftiger Entwicklungen. Vom bildungspolitischen Standpunkt betrachtet werden sich Kinder aufgrund kürzerer Schul- und Ausbildungszeiten stärker und schneller behaupten und gegen ihresgleichen durchsetzen müssen. Aber auch sozialökonomisch und -ökologisch, angesichts schwindender Rohstoff-ressourcen, werden unsere nachfolgenden Generationen konfrontiert mit Problemen, wie sie sich heute zwar schon anbahnen, aber wie wir sie in ihrer Intensität noch gar nicht kennen. Wir brauchen daher schnelle und nachhaltige Lösungen, die den zukünftigen Entwicklungen globaler Einflüsse standhalten. Wo diese nicht gegeben sind, werden Lücken entstehen und Defizite den Lauf der Dinge bestimmen. Lokal wie global. So ist denn auch die zunehmende Perspektivlosigkeit junger Menschen eins der dringlichsten Themen. Nicht nur in der Arche, sondern für Deutschland und ganz Europa. Auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos stellte man fest, dass von seiner Tragweite her die Perspektivlosigkeit junger Menschen sogar die Angst vor dem Auseinanderbrechen der Währungsunion abgelöst habe. In Spanien, Griechenland und Frankreich sei die Arbeitslosenquote der unter 24-Jährigen auf extrem hohem Niveau. Topmanager befürchten soziale Unruhen durch Aufstände der Jungen. Und auch Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte nachdrücklich vor einer möglichen instabilen Lage, sollte sich daran nichts ändern.
DES DEUTSCHEN LIEBSTES KIND
Wie können also junge Menschen wieder lernen, von einem erfüllten Leben zu träumen? Wie können sie wieder Perspektive gewinnen? Gerade Kinder und Jugendliche, die von Aussichten und Träumen leben. Noch verhalten sie sich hierzulande ruhig. Noch gehen sie nicht auf die Straße, um zu demonstrieren. Aber wie lange noch? In anderen europäischen Ländern ist das bereits passiert. Unsere Kinder sind vermutlich noch nicht vollständig desillusioniert, eher apathisch und nüchtern. Für die Vergangenheit machen sie uns keinen Vorwurf, da sie wissen, was von den Großeltern und Eltern errungen wurde. Aber sie sehen nichtsdestotrotz, dass das „System“, also der Staat – das Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft – nicht zu den Lösungen kommt, die sie eigentlich erwarten dürfen. Denn Kinder erleben oft nur ein „Gehacke“ um Interessen, um Positionen, um Stimmen, Geld und Ressourcen – aber Lösungen, die Perspektiven schüren, bislang oft nicht.
Des Deutschen liebstes Kind ist bekanntlich das Auto. Unser blechernes Gefährt hegen, pflegen und bewegen wir regelmäßig. Täglich sind wir darin unterwegs. Es bereitet uns viel Freude. Wir lieben es, mobil zu sein. Und am Wochenende widmen wir ihm Zeit, um es zu waschen und fein herzurichten. Es gibt ausreichend Parallelen zwischen dem Umgang mit dem liebsten Kind auf vier Rädern und dem auf zwei Beinen. Aber:
- Würden wir es in der Waschstraße akzeptieren, wenn nach dem Waschgang für 14,99 Euro noch die Felgen dreckig sind?
- Würden wir es hinnehmen, wenn bei einer Reparatur No-Name-Produkte statt Originalteile montiert werden?
- Oder würden wir uns damit abfinden, wenn unser Auto wegen „Konzentrationsstörungen“ oder mangelnder Motivation auf der Autobahn anhält und nur jeden dritten Tag wieder anspringt?
Ein solches Auto wäre ratzfatz vom Markt verschwunden. Aber im Umgang mit unseren Kindern scheinen wir all das widerspruchslos zu akzeptieren. Noch etwas: Unserem Auto gönnen wir für...