2. Die Dimensionen der Ethik
Als »Ethiken« können Theorien bezeichnet werden, die eine Reflexion der verschiedenen Aspekte des Phänomens »Moral« zum Gegenstand haben. Hält man sich an die konventionelle Definition des Begriffs »Moral«, dann umfasst seine Extension die gesamte Menge von materialen Normen und Wertvorstellungen, wie sie zum Beispiel in gesellschaftlichen Institutionen, sozialen Regelungen und den Werturteilen von Personen zur Geltung kommen.5 Dabei ist zu beachten, dass sich nicht die Ethik und demnach auch nicht die Theorie der Moral ausmachen lassen. Vielmehr kann man klassischerweise zwischen drei »Zugriffen« auf den moralischen Phänomenbereich unterscheiden, nämlich zwischen einer normativen und deskriptiven Ethik einerseits und einer beide fundierenden Metaethik andererseits. Hierbei handelt es sich um eine historisch gewachsene Differenzierung, über deren heuristischen Wert weitgehend Konsens herrscht. Alle drei Ethiktypen nähern sich dem Phänomenbereich der Moral, indem sie qua eigener Zugangsweise bestimmte Aspekte in den Vordergrund stellen und die Moral so aus einer jeweils unterschiedlichen Perspektive in den Blick nehmen. Wie aber lässt sich diese Differenz in der methodischen Ausrichtung näher charakterisieren? Um diese Frage zu beantworten, blicken wir im Folgenden etwas genauer auf die Grundstruktur der jeweiligen Ethiktypen und die mit ihnen verbundenen distinktiven Merkmale.
2.1 Normative Ethik
Als zentrale Aufgabe der normativen Ethik wird häufig6 die Reflexion auf das richtige oder falsche moralische Handeln bestimmt: Soll ich einer alten Dame über die Straße helfen, obwohl ich einen wichtigen Geschäftstermin habe, der keine weitere Verzögerung zulässt? Soll ich Geld für die Erhaltung des Regenwaldes spenden oder doch lieber für ein Geschenk zum Valentinstag sparen? Soll ich meine Großmutter besuchen oder doch zum entscheidenden Fußballspiel meines Lieblingsvereins gehen? In radikalisierter Form kann sich die Frage nach der richtigen und falschen Handlungsweise auch von der einzelnen Handlung wegbewegen und auf das moralische Handeln im Ganzen beziehen. Wir fragen dann: »Warum soll ich überhaupt moralisch sein?« Diese Fragen nach der richtigen Moral sind in ganz unterschiedlichen Kontexten des gesellschaftlichen Lebens bedeutsam. So kann man das Ideal einer gerechten Gesellschaft genauso einer kritischen Prüfung unterziehen wie die Haltung der modernen Medizin gegenüber Leben und Tod. Wäre es in unserer Gesellschaft nicht gerecht, auf einen Großteil unserer Luxusgüter zu verzichten, um mit dem ersparten Geld humanitäre Projekte in Afrika zu unterstützen? Oder auch: Wie lässt sich der moralische Status eines Embryos beurteilen: Ist es moralisch legitim, eine Schwangerschaft abzubrechen, weil das heranwachsende Kind vermutlich an einem irreversiblen genetischen Defekt leiden wird? Gleichzeitig fragen wir häufig nicht nur nach einer normativen Handlungsanweisung, die uns eine Antwort auf die Frage nach dem richtigen Handeln gibt, sondern auch nach einer Begründung für diese Handlungsweise. Eine Antwort auf die Frage: »Was ist die im Einzelfall gebotene moralische Handlung?«, ist in vielen Fällen nicht hinreichend. Wenn uns etwa jemand nach einem Ratschlag fragt und wir ihm eine bestimmte Handlungsweise empfehlen, dann werden wir häufig auch aufgefordert, Gründe für sie anzugeben. Mit anderen Worten: Wir müssen die Merkmale der moralisch gebotenen Handlung nennen, also unsere Kriterien für das ethisch Gute oder Richtige. Verschiedene normative Ethiken geben unterschiedlichste Antworten auf die Begründungsfrage. Nichtsdestoweniger verbindet sie aber zumindest ein gemeinsames Merkmal: Die in ihren Rahmen getätigten Aussagen sind selbst moralische Urteile, die nicht normativ neutral sind. Normative Ethiken versuchen uns in einem normativen Sinne anzuleiten, indem sie systematische Antworten auf die Frage geben: »Was soll ich tun?«, und auf die mögliche Rückfrage: »Warum soll ich x tun?«.
2.2 Deskriptive Ethik
Neben dieser normativen Perspektive, welche die Frage nach der richtigen moralischen Handlungsweise zum Gegenstand hat, kann man sich der moralischen Praxis noch aus einem anderen Blickwinkel nähern. In vielen Kontexten spielt die Frage nach der richtigen Moral nämlich noch keine Rolle. Wenn wir beispielsweise die vielfältigen Zusammenhänge moralischer Praktiken und deren Ursprung verstehen wollen, ist es häufig irrelevant, ob oder in welcher Hinsicht sie angemessen, gerechtfertigt oder rational sind. Es kommt dann eher darauf an, die vielfältigen Aspekte und Erscheinungsformen der Moral zu beschreiben und Erklärungen für sie auszuarbeiten. Studien, die sich aus dieser Perspektive dem Phänomen »Moral« zuwenden, können dem Gebiet der deskriptiven Ethik zugerechnet werden.
Es gibt verschiedene Ausgangspunkte, um die moralische Praxis auf diese Weise zu analysieren. Ein wichtiges Forschungsfeld wird beispielsweise durch kulturanthropologische Untersuchungen markiert. Im Rahmen solcher Studien geht es unter anderem darum, verschiedene Moralsysteme in diachroner und synchroner Hinsicht zu beschreiben und ein Inventar von gegenwärtigen und vergangenen Moralsystemen zu ermitteln.7 Was sind die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Moralvorstellungen von Kultur A und Kultur B? Wie verändert sich die moralische Bewertung einer Handlung x in einer Kultur A im Rahmen einer bestimmten Zeitperiode y? Wie viele Moralsysteme lassen sich innerhalb einer Kultur A unterscheiden?
Andere Untersuchungen richten ihr Hauptaugenmerk weniger auf den »Großraum« Kultur, sondern auf die in ihm lebenden Individuen. Beispiele hierfür sind etwa moralpsychologische Studien, die den Erwerb von moralischer Urteilskompetenz zu ihrem Forschungsgegenstand machen.8 Lässt sich ein bestimmter Zeitpunkt x ausmachen, an dem ein Individuum y eine moralische Urteilskompetenz zeigt? Auf welcher Kompetenzstufe, vorausgesetzt es lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden, befindet sich ein Individuum x? Oder auch stärker neurowissenschaftlich orientiert: Welche Gehirnareale sind unabdingbar dafür, überhaupt moralische Kompetenzen auszubilden?
Mit dieser letzten Frage ist bereits die Brücke zu anspruchsvolleren Fragestellungen einer deskriptiven Ethik geschlagen. Denn viele Untersuchungen beschränken sich nicht darauf, die moralische Praxis zu beschreiben. Es geht häufig auch darum, ihre Funktion und die kausalen Zusammenhänge, die in der moralischen Wirklichkeit anzutreffen sind, zu erläutern. Einflussreich sind gegenwärtig etwa Studien, die bei einer evolutionsbiologischen Betrachtungsweise ansetzen.9 Hierbei bilden nicht selten Fragen den Ausgangspunkt, welche die Ausbildung und Entwicklung der menschlichen Moral betreffen. Entsprechend besteht ihre Zielperspektive dann unter anderem darin, zu erläutern, wie es vor dem Hintergrund der phylogenetischen Entwicklung der Arten zur Genese der Moral gekommen ist und welchen evolutionären Vorteil ihre Ausbildung für den Menschen mit sich brachte.
Es ließen sich grundsätzlich weitere Beispiele für eine beschreibende und explanatorische Herangehensweise nennen. Mit den genannten kulturanthropologischen, moralpsychologischen und evolutionsbiologischen Studien sind die Möglichkeiten einer deskriptiven Zugangsweise keinesfalls ausgeschöpft. Die Erläuterung dieser drei sollte aber ausreichen, um die Charakteristik einer deskriptiven Ethik zu verdeutlichen. Im Gegensatz zu Studien aus der normativen Ethik nähern sich ihre Untersuchungen der moralischen Praxis aus einer moralisch neutralen Perspektive. Eine deskriptive Ethik gibt mithin keine Antworten auf normative Fragestellungen, sondern beinhaltet Untersuchungen, die versuchen, die Moral gleichsam »von außen« zu beschreiben und einer Erklärung zugänglich zu machen.
2.3 Metaethik
Eine dritte Zugangsweise zum moralischen Phänomenbereich stellt die Metaethik bereit. Kennzeichnend für ein metaethisches Forschungsprogramm ist, dass in ihm weder – anders als in den normativen Ethiken – inhaltlich-normative Urteile formuliert noch – anders als in den deskriptiven Ethiken – faktische Normensysteme beschrieben oder kausal erklärt werden. Vielmehr setzt die Metaethik eine Stufe tiefer an: Sie formuliert keine moralischen Urteile, sondern trifft Aussagen und stellt Hypothesen über diese spezifische Urteilsklasse auf.10 Das Ziel einer metaethischen Theorienbildung besteht darin, eine »founding theory of morality«11 auszuarbeiten, in der eine schlüssige Theorie unseres alltäglichen moralischen Denkens, des moralischen Sprechens und unserer moralischen Praktiken entwickelt wird.
2.3.1 Die Arbeitsbereiche der Metaethik
Aber in welchen Bereichen findet metaethische Forschung statt? Aus einer historischen Perspektive betrachtet wurden metaethische Forschungen vor allem als eine semantische Klärung der Moralsprache aufgefasst. Die...