Die Kindheit, 1909 bis 1924
Es ist einer dieser Dezembertage, an dem die Petroleumlampen schon vor drei Uhr nachmittags angezündet werden müssen. Draußen ist es unwirtlich und drinnen, im Schloss, kalt wie meist. Die Hochschwangere, eine zarte Person halb ungarischer Herkunft und Palastdame der letzten deutschen Kaiserin, hat hier, in dem unweit von Königsberg gelegenen Schloss Friedrichstein, in den letzten zehn Jahren sechs Kinder zur Welt gebracht. Jetzt ist sie 40 Jahre alt und auf ein siebtes eigentlich nicht mehr gefasst …
Die sich ankündigende Geburt scheint kompliziert zu werden. Von Oberkutscher Grenda ist überliefert, wie der werdende Vater, der damals 65-jährige Graf August Dönhoff, zum Stall eilt und schon von Ferne ruft: »Es geht los, spann an! Fahr so schnell du kannst, auch wenn’s die Pferde kostet!« Der getreue Grenda jagt innerhalb von drei Stunden die 20 Kilometer nach Königsberg und zurück und bringt Professor Unterberger mit: Marion Gräfin Dönhoff kann zur Welt kommen. Wir schreiben den 2. Dezember 1909.
Wie um alle Kinder in dieser Zeit wird auch um dieses kein großes Aufheben gemacht, und in diesem Falle sogar noch weniger als sonst. Denn Marion, viertes Mädchen und Nachzögling, ist einfach nicht mehr eingeplant und muss selbst sehen, wie sie durchkommt.
Der Vater, »für Fragen der Erziehung nicht zuständig«, wird von dem heranwachsenden Mädchen aus der Ferne bewundert und gefürchtet zugleich. Gefürchtet vor allem, wenn er, halb erblindet, mal wieder jemanden zum Vorlesen sucht. »Wenn ich ihn tagsüber irgendwo durchs Haus wandern sah, verdrückte ich mich schnell, aus Angst, ihm vorlesen zu müssen. Da die Sekretärin nicht überanstrengt werden sollte, er aber stets begierig war zu erfahren, was in den drei oder vier Zeitungen stand, deren Inhalt er noch nicht zur Kenntnis genommen hatte, spähte er forschend nach den Kindern aus. Auch die Großen ließen sich ungern erwischen. Für mich aber, die ich noch gar nicht ordentlich lesen konnte, war es geradezu eine Qual, wenn es mir einmal nicht gelungen war, zu entkommen und ich mich dann durch vollkommen unverständliche Texte hindurchbuchstabieren musste …«
Für den weitgereisten, kosmopolitischen Vater bleibt es bis zu seinem Tod im Jahr 1919 selbstverständlich, auf Schloss Friedrichstein zahlreiche Tageszeitungen zu beziehen, von der »Kreuz-Zeitung« und der »Frankfurter« bis hin zur »Times« und dem »Figaro«. Er ist »der Mann, der alles wissen will«. Verirrt die kleine Marion sich vom Stall oder Kinderzimmer in die Repräsentationsräume des Schlosses zu ebener Erde, so sieht sie den Vater ganz am Ende des Schlosses, quer durch die offenen Flügeltüren der einzelnen Säle, in seinem Arbeitszimmer im Schein der Lampe sitzen. Allein, aber doch Teil des Ganzen.
Erst viel später, als die erwachsene Marion Dönhoff zurückkehrt von ihren volkswirtschaftlichen Studien in Frankfurt und Basel und über die Entstehung des Besitzes der Dönhoffs ihre Doktorarbeit schreibt, erfährt sie in den Archiven des Schlosses mehr über den Vater. Er ist der Sohn einer der bemerkenswertesten Persönlichkeiten aus der Dönhoff-Kette, des preußischen Diplomaten und Außenministers August Heinrich Dönhoff. Als junger Mann wird Marions Vater, der zukünftige sechste Herr von Schloss Friedrichstein, Diplomat. Er geht mit 25 als Attaché an die Botschaft in Paris und drei Jahre später als Botschaftssekretär nach Petersburg, »das alte Petersburg mit seinen eleganten Equipagen, schönen Frauen und großen Hoffesten«. Es folgen Wien, London und Washington.
Doch scheint das Diplomatenleben den jungen Grafen nicht auszulasten. Er nimmt sich immer wieder Urlaub und überzieht den auch gerne schon mal unerlaubt – »unbezahlten Urlaub«, wie seine strenge Tochter, die ein Jahrhundert später die Akten des Auswärtigen Amtes nach ihm durchforstet, erleichtert betont. Graf August Dönhoff durchstreift lieber die Welt, den Kaukasus, China oder Mexiko.
Im September 1879 ist er als Diplomat in Washington in ein halbamtliches Abenteuer von echtem Karl-May-Format verwickelt, das der Tochter noch ein Jahrhundert später »kolossal« imponiert: Der preußische Graf wird nach dem berüchtigten Massaker von White River zum Vermittler zwischen Rot- und Weißhäuten und verhindert so weiteres Blutvergießen.
Er trifft 1879 bei einer Reise in Denver seinen Freund, den amerikanischen Innenminister Carl Schurz, der äußerst besorgt ist: Im Reservat der Utah-Indianer, die dort von weißen Farmern bedrängt wurden, hatten die Indianer zurückgeschlagen. Sie ermordeten den District Commissioner und entführten dessen Frau und Tochter. Blutigste Eskalation droht. Graf Dönhoff verspricht seinem Freund Schurz, er werde helfen, die beiden Frauen zu befreien. Bald darauf machte er sich zusammen mit einem General und dessen Hilfstrupp auf den Weg. Tagelang sind sie unterwegs, reiten durch Schluchten und auf Indianerpfaden 3.500 Meter hoch, und tatsächlich entdecken sie schließlich das Zelt des Häuptlings der Utah. Die Verhandlungen reüssieren, und August Dönhoff bringt die entführten Frauen »unbeschädigt« zurück.
Nach diesem Abenteuer reicht der vom Bürokratismus gelangweilte Graf 1881 seinen Abschied beim Auswärtigen Amt ein – nicht ohne Hinweis auf seine bevorstehenden Pflichten als Abgesandter im »Preußischen Herrenhaus«, in dem er erbliches Mitglied ist. (Dieses »Herrenhaus« ist eines der beiden Parlamente in der Monarchie und dem damaligen englischen Oberhaus vergleichbar.)
Am 24. Mai 1881 kehrt der inzwischen 37-jährige Globetrotter nach Friedrichstein zurück. Seine Mutter, die monatelang ohne Nachricht gewesen war, ist darob so glücklich und erleichtert, dass sie der Kirche von Borchersdorf, deren Kirchenpatron der jeweilige Herr von Friedrichstein ist, eine Abendmahlskanne stiftet: »Zum Angedenken an die gottbegnadete Heimkehr«.
Von nun an widmet Graf Dönhoff sich neben der Verwaltung der Güter seinen ruhigeren Passionen, der Innenpolitik und der Kunst. Die ebenfalls kunstinteressierte Tochter erzählt: »Er stand mit Antiquaren und Museen in aller Welt in Verbindung. Mit den Kunstschätzen von Friedrichstein hätte man ohne Weiteres das Museum einer mittelgroßen Stadt ausstatten können.« Was nie mehr möglich sein wird, denn die Kunstschätze werden, zusammen mit dem ganzen Schloss, im Januar 1945 in Flammen aufgehen …
Doch noch herrscht Ruhe vor dem Sturm, vor dem ersten Sturm. Noch ist Deutschland ein Kaiserreich. Und selbst während des Ersten Weltkriegs zieht der politisch engagierte Ostpreuße, der auch Abgeordneter des Reichstages ist, noch in jeder Sitzungsperiode mit Familie und Personal von Friedrichstein in das 600 Kilometer entfernte Berlin.
Es überrascht nicht, dass Graf Dönhoff bis zu seinem Lebensende ein unkonventioneller Mann bleibt. Nicht ohne Amüsement berichtet seine Tochter die Anekdote, wie Graf und Gräfin Dönhoff in Frack und Abendrobe zu einer Einladung bei Kaisers im Schloss auf dem Bock eines Gemüsewagens vorfahren. Kutscher Grenda hatte sich verspätet, und so stoppte der Graf kurzerhand das erstbeste Vehikel (»Es soll Euer Schaden nicht sein, guter Mann«) … Auch scheut er sich nicht, am Tag nach solchen Festivitäten im Hotel Adlon mit dem jüdischen Rechtsanwalt Silberstein zu Mittag zu essen – was anscheinend keineswegs selbstverständlich ist in dieser feinen Gesellschaft und von Fürstens am Nachbartisch mit hochgezogener Augenbraue vermerkt wird.
Als Graf August Dönhoff im Jahr 1919 stirbt, ist seine jüngste Tochter Marion neun Jahre alt. »Der Vater liegt im Sterben, aber du bleibst besser hier«, sagt eines der älteren Geschwister zu der Kleinsten. »Alle waren um ihn versammelt, nur ich war wieder ›zu klein‹«, erinnert sich die Ausgeschlossene noch 70 Jahre später. »Ich weiß nicht, was mich trauriger machte: dieser Umstand oder der Tod des Vaters.«
Graf August Dönhoff hatte Ria von Lepel im Jahr 1895 geheiratet. Er ist damals 51 und hat ein bewegtes Männerleben hinter sich. Sie ist 27, kommt aus einem altväterlichen Milieu und hat ein behütetes Frauenleben hinter sich. Dieses typische Frauenleben scheint so ereignislos gewesen zu sein, dass die Tochter in ihren zahlreichen Erinnerungen noch nicht einmal den Mädchennamen ihrer Mutter nennt. Sie erwähnt lediglich, dass diese wiederum ihre Mutter (also Marions Großmutter) noch siezte und »Frau Mutter« nannte.
Als Ehefrau und Mutter ist Gräfin Dönhoff, laut Tochter Marion, eine »musische Frau, voller Fantasie und ein wenig romantisch«. Sie hat »eine schöne Stimme, schreibt hübsche Märchen für den Hausgebrauch, malt ein bisschen und kann wunderbar sticken«. Und sie hat ein starkes soziales Verantwortungsbewusstsein: Sind Leute im Dorf krank, müssen die jungen Komtessen vom Schloss ihnen Suppe bringen oder bei ihnen Nachtwache halten.
Gleichzeitig aber ist Marions Mutter – die über ihrem eigenen Stand geheiratet hat – durch und durch beherrscht vom Comme-il-faut, von diesem »ganzen übertriebenen monarchistischen Rummel«, den die Tochter schon früh belächelt. Für die Palastdame der Kaiserin ist »der Hof Richtschnur für viele Anschauungen«. So haben die Dienstmädchen in Friedrichstein ihre Herrin mit »Untertänigst guten Morgen, Exzellenz« zu begrüßen – nur die Frau des Milchkutschers, die der Gräfin das Spinnen beibringt, sagt trotzdem ganz einfach und herzlich »Exzellenzchen«.
An einen der Besuche der verehrten Kaiserin vor dem Ersten Weltkrieg erinnert sich der Sohn des Verwalters der Friedrichsteiner Güter noch genau. Schon Wochen zuvor hat die Schlossherrin alle Bürgermeister, Frauenvereine, Kriegervereine und...