Zweites Kapitel / Weltveränderung / Zwischen kollektiver Einheit und besserer Einsicht
Weltveränderung ist ein großes Wort – wenn man unter der »Welt« nicht nur ein Korrelat unserer Beobachtung und unseres Weltverhältnisses versteht, sondern vielleicht so etwas wie den letzten Horizont von allem, dann sind wir schnell bei theologischen Begriffen. Nicolaus Cusanus hat die Position Gottes als coincidentia oppositorum bezeichnet. So weit wollen wir hier nicht gehen. Die Welt verändert sich ohnehin – verändern ist ein transitives Verb und wird oft reflexiv gebraucht. Sie verändert sich. Und wir sind mittendrin. Insofern sind unsere Veränderungsbemühungen keine, die die Welt verändern, aber Versuche, etwas in der Welt zu verändern – und die Art und Weise, wie dies möglich ist, hängt stark davon ab, wie wir die Horizonte dessen, als was uns die Welt erscheint, beobachten. Im Folgenden soll es genau um die Frage gehen: Wie verändern wir die Welt in unserem Sinne?
Zwischen individueller Einsicht und kollektivem Handeln
Ich bin ein Soziologe – und meine größte Passion in meinem Beruf ist es, in jedem Wintersemester mehrere hundert Studentinnen und Studenten unterschiedlicher sozial-, kultur- und geisteswissenschaftlicher Fächer als Erstsemester in dieses Fach einzuführen. Ein Drittel von ihnen studiert Soziologie im Hauptfach, für alle anderen ist es Nebenfach. Der Kontakt zu diesen jungen Leuten, die in meiner Illusion immer jünger werden – dabei werde ja nur ich immer älter –, ist insofern sehr lehrreich, als man an ihnen die klassischen Motive unverstellt wiederfinden kann, wenn es um die Frage geht, wie die Welt verbessert werden kann.
Welches Problem auch immer ich mit den Studierenden diskutiere – den Klimawandel, ökologische Gefährdungen, soziale Ungleichheit oder Gerechtigkeit und die angemessene Verteilung von Gütern und Lebenschancen, Diskriminierungen und Interessendivergenzen –, stets wundern sie sich darüber, warum die Lösung der Probleme so schwierig ist. Das Ökologieproblem wäre doch durch Einsicht in Verzichtsformen einfach zu erledigen. Auch Solidarität mit den Schwächeren setze nur einen freiwilligen Verzicht der Stärkeren voraus. Eine angemessene Verteilung von Gütern müsste staatlicherseits geregelt werden können, und wenn Produzenten solche Produkte herstellen würden, die man wirklich braucht, dann würde es allen besser gehen. Und wenn sie darauf hingewiesen werden, dass ihr im kalifornischen Cupertino ausgedachtes Smartphone für sie nur deshalb erschwinglich ist, weil man bei der Fertigung auf Löhne zurückgreift, die eben nicht denen in Kalifornien oder Oberbayern entsprechen, dann kommt zumindest die Reaktion, dass sich ja noch nichts ändern würde, wenn der Einzelne hier Verzicht leisten würde. Und wenn sie dann weiter mit der Idee konfrontiert werden, dass die viel niedrigeren Löhne in ärmeren Regionen der Welt dort womöglich nicht nur Ausbeutungsfolgen, sondern auch Entwicklungsmöglichkeiten beinhalten, gerät die Ordnung des Denkens schon stark ins Wanken. Noch mehr, wenn sie sich zusätzlich anhören müssen, dass eher linke wie auch wirtschaftsliberalere Kommentatoren solcher globaler Zusammenhänge – wie etwa Erich Weede und Elmar Altvater1 – zu ganz ähnlichen Diagnosen kommen.
Die offene Frage für die jungen Leute ist fast immer die, wie aus der leicht zu gewinnenden Einsicht in das Richtige der Übergang vom individuellen Handeln in kollektive Wirkungen gelingen kann. Sie bieten dann zwei Erklärungen an: Entweder müssen eben alle von der vernünftigen Idee überzeugt werden, oder aber es muss so etwas wie eine kollektive Solidarität geben und der Einzelne sich zugunsten der Integrität des Ganzen einschränken. Die jungen Leute sind alle bereit dazu – beginnen aber in ihrem ersten Semester darüber nachzudenken, dass diese Schwelle von der individuellen Einsicht zum kollektiven Handeln beziehungsweise vom individuellen Interesse zum kollektiven Interesse das eigentliche Problem ist. Es ist – auf den ersten Blick – nicht schwer, das Richtige zu erkennen, es scheint auch nicht schwer zu sein, richtiges Handeln zu qualifizieren. Das aber scheitert irgendwie stets an den anderen.
Um das zu veranschaulichen, konfrontiere ich sie gerne als Beispiel mit dem Milchpreis. Der liegt heute wieder deutlich unter den Herstellungskosten – heißt: Ein für die Bevölkerung wichtiger Wirtschaftszweig ist ernsthaft bedroht, große Agrarproduzenten setzen sich weiter gegen die bäuerliche Landwirtschaft durch. Gründe, von denen es viele gibt, sind unter anderem die zugelassene Überproduktion, die Subventionspolitik der EU oder der Verkaufspreis, der insbesondere durch Discounter bestimmt wird. Dieser zuletzt genannte Faktor ist insofern besonders interessant, als hier der Verbraucher ins Spiel kommt. Denn: Ganz offensichtlich hätten es die Milchkonsumenten zumindest auch in der Hand, dieses Problem zu lösen. Sie müssten nur bereit sein, die Frühstücksmilch nicht mehr extrem günstig bei Discountern zu kaufen, sondern dort, wo es einen »fairen« Preis gibt, einen, der alle in der Wertschöpfungskette – von der Kuh über den Bauern und die Molkerei bis zu Zwischen- und Einzelhändlern – irgendwie angemessen alimentiert. Je mehr Leute die Milch für einen fairen Preis kaufen, desto eher würden die Preise sich anders entwickeln.
Diese Idee der Verbrauchermacht finden die jungen Leute natürlich gut – sie klingt ein bisschen revolutionär, ohne dass man dafür auf die Barrikaden gehen müsste, ist kapitalismuskritisch, setzt aber doch am Mechanismus von Angebot und Nachfrage an. Auch ist darin Solidarität und kollektive Aktion gefragt, der Einzelne ist also eingebettet in etwas Größeres. Die jungen Leute sprechen sich sogleich für die Umsetzung dieser Verbrauchermacht aus, also für einen Mechanismus, mit dem man kollektive Wirkungen erzielen kann. Auf Nachfrage aber erfährt man, dass sie die Milch eben nicht im Bioladen kaufen, der sie von einem »Fairtrade«-Netzwerk bezieht und die in der Region wirtschaftenden Biobauern angemessen(er) bezahlen kann. Sie kaufen – bei Aldi. Selbstverständlich würden sie einen Boykott mitmachen, aber faktisch könnten sie sich ihn nicht leisten. Schließlich hätten sie als Studierende eben nicht viel Geld, die Mieten in Städten, München besonders, seien exorbitant, Bachelor-Studiengänge ließen kaum mehr Zeit fürs Jobben, und am Ende handle es sich beim durchgespielten Beispiel ja auch nur um ein Detailproblem. Die viel schlimmeren Auswüchse des Kapitalismus seien ja nicht in der Milch-, sondern in der Finanzwirtschaft zu beobachten, und erst einmal müsste man die Banker dazu bekommen, nicht so gierig, egoistisch und bonusorientiert zu sein.
Gerade weil es sich um ein vergleichsweise geringes Problem handelt, lässt sich daran sehr gut zeigen, wie sich Probleme in einer komplexen Welt darstellen. Die Studentinnen und Studenten sind, so bekommen sie es auch beigebracht, politische Akteure, ökonomische Spieler und moralische Subjekte in einem – und aus allen drei Ansprüchen erwachsen für sie unterschiedliche Zugzwänge und Logiken. Sie haben klare moralische Vorstellungen darüber, dass man nicht gierig sein soll, dass jeder, der sich – auch auf Märkten – um die eigenen Interessen sorgt und seinen Vorteil sucht, dabei eine Verantwortung fürs Ganze und für den anderen hat. Und sie haben klare politische Vorstellungen darüber, dass die Sache irgendwie geregelt werden muss, wenn sie nicht funktioniert. Sie stellen sich aber auch, sehr zu ihrem eigenen Missfallen, als durchaus egoistische Marktakteure heraus, die die kapitalistische Grundregel vollständig verinnerlicht haben: dass man mit möglichst wenig Mitteleinsatz den größtmöglichen Gewinn erzielen will, und wenn der Gewinn nur darin besteht, an der Milch gespart zu haben. Sie verhalten sich als Milchkunden ganz ähnlich, wie sich Molkereien und Einzelhandel verhalten.
Das Grundproblem, vor dem wir hier stehen, ist, dass niemand in einer komplexen Gesellschaft sich in einfachen Handlungssituationen befindet. Der Milchkunde ist sowohl ein ökonomischer als auch ein politischer und (wahrscheinlich noch viel stärker) ein moralischer Akteur, und das macht es schon bei diesem Beispiel schwierig, auf die anfangs in der Vorlesungsstunde diskutierten Mechanismen der Einsicht oder der kollektiven Solidarität zu vertrauen. Moralische Einsicht und kollektivierbare Einheit sind wunderbare Denkangebote – aber sie lösen das Problem komplexer Handlungssituationen nicht, sondern vereinfachen etwas, das deutlich komplizierter ist. Beide Mechanismen – Einsicht und Solidarität – wollen Handlungsmöglichkeiten zugunsten der als richtig erkannten einschränken – und beide stoßen auf eine Realität, in der sich eine solche Parallelisierung nicht einstellen will – zum Teil sogar wider bessere Einsicht.
Dieses Dilemma ist es, das Studentinnen und Studenten der Sozialwissenschaften oftmals ihren ersten Schock vermittelt, weil sie...