Einführung
Als Charles de Gaulle im Winter 1944/45 zum ersten Mal nach Rußland reiste, besuchte er auch Stalingrad, den Schauplatz des weitesten Vorstoßes und der größten Niederlage der deutschen Wehrmacht. Im Ersten Weltkrieg war de Gaulle im Kampf gegen die Deutschen bei Verdun verwundet worden und über zwei Jahre in ihrer Gefangenschaft gewesen, und im Zweiten Weltkrieg war er der führende General der Français Libres. Wie man erzählt, soll er in den Ruinen von Stalingrad gegenüber einem Begleiter geäußert haben: «Quel peuple!» Der Dolmetscher erkundigte sich: «Meinen Sie die Russen?» «Nein», sagte de Gaulle, «die Deutschen».
Das lapidare Urteil des Generals an diesem Ort der Zerstörung sagt viel über das deutsche Drama des letzten Jahrhunderts, das er klar erfaßte. Er sprach von einem «Volk», das zwischen 1870 und 1939 sein Land dreimal angegriffen hatte, dessen Macht das historische Europa zerrüttete und beinahe zerstört hatte und das für ein in der Geschichte Europas beispielloses Völkermordverbrechen verantwortlich war. Ihm war aber auch bewußt, daß die Deutschen mit ihrer enormen Kreativität für den Wiederaufbau Europas nach dem Krieg unverzichtbar sein würden. Er erkannte die tiefe Zwiespältigkeit, die der Größe Deutschlands eigen ist.
Dieses Buch handelt von meinen Erfahrungen mit den fünf Deutschland, die meine Generation erlebt hat. Ich wurde hineingeboren in die Notlage Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg, die de Gaulle so gut verstanden hatte; ich erinnere mich an das Entsetzen meiner Eltern angesichts des allmählichen Untergangs der Weimarer Republik in meiner frühen Kindheit und der rasch folgenden Errichtung der nationalsozialistischen Tyrannei, die von so vielen hingenommen und von so wenigen bekämpft wurde. Ich erinnere mich an ihre Freunde, glühende Verteidiger der Demokratie, die besiegt wurden, manche von ihnen ermordet, eingekerkert oder ins Exil gezwungen. Ich habe zwar nur fünf Jahre im nationalsozialistischen Deutschland gelebt, doch diese kurze Zeit genügte, um in mir die brennende Frage aufzuwerfen, deren Beantwortung mich während meiner gesamten akademischen Tätigkeit umtrieb: Warum und auf welche Weise ist das universelle Potential der Menschheit zum Bösen in Deutschland Wirklichkeit geworden?
Jahrzehnte der Forschung und Erfahrung haben mich zu der Überzeugung gebracht, daß die deutschen Wege ins Verderben, einschließlich des Nationalsozialismus, weder zufällig noch unausweichlich waren. Der Nationalsozialismus hatte tiefe Wurzeln, und dennoch hätte man seinen Aufstieg verhindern können. Ich wurde hineingeboren in eine Welt, die sich vor dem Absturz in eine vermeidbare Katastrophe befand. Und ich bin zu der Einsicht gelangt, daß kein Land immun ist gegen die Versuchungen solcher pseudo-religiöser repressiver Bewegungen, wie ihnen Deutschland erlag. Die Zerbrechlichkeit der Freiheit ist die einfachste und tiefste Lehre aus meinem Leben und meiner Arbeit. Und wenn es schwierig erschien, sich ein ungeschminktes Bild von der Vergangenheit zu machen, das doch unerläßlich ist, entsann ich mich des berühmten Credos, das Ernst Reuter 1913 formulierte: «Das Schicksal der Demokratie ruht auf dem Glauben an die Geschichte.»
In den Nachkriegsjahren war ich mir bei meiner Arbeit als Historiker der Zusammenhänge zwischen meinem Leben und meinen Forschungen nur gelegentlich bewußt; ganz und gar dem Beruf des Historikers hingegeben, wußte ich, daß man Clio auf unterschiedliche Arten dienen konnte, die aber alle eine gewisse Distanz verlangten – freilich belebt, so stand zu hoffen, durch Einfühlungsvermögen und eine gezügelte Phantasie. Ich erforschte und lehrte die deutsche Geschichte mit amerikanischen Augen und für amerikanische Studenten und Leser. Schließlich bekam mein durch und durch amerikanisches Leben doch eine wesentliche deutsche Komponente, weil ich als amerikanischer Deutschland-Historiker hineingezogen wurde in deutsche Kontroversen über die Vergangenheit, die ein besiegtes und geteiltes Land aufwühlten, das selber Hauptschlachtfeld des Kalten Krieges war. Zuvor war mir wohl nicht recht klar gewesen, daß man, wenn man die – teils destruktiven, teils auf einzigartige Weise konstruktiven – Umwälzungen seiner Gegenwart bewußt miterlebt, die Vergangenheit auf eine neue, komplexere Weise zu sehen lernt. Dabei wurde mir immer deutlicher bewußt, daß die Lehren, die ich aus der deutschen Geschichte gezogen hatte, von beängstigender Relevanz für die Vereinigten Staaten heute waren. Nach und nach erwarb ich ein zweites deutsches Leben, parallel zu meinem amerikanischen Leben und diesem untergeordnet. Schließlich lebte ich in zwei Welten zugleich und lernte aus beiden. Was an Schwarzweißdenken noch geblieben war, verblaßte mehr und mehr, und die Vergangenheit wurde zu einem Gewebe mit unterschiedlich schimmernden Farben.
Als ich dann meinem dritten und vierten Deutschland begegnete – der außergewöhnlichen Demokratie, die sich in der Bundesrepublik streitbar entwickelte, und der weniger bekannten Diktatur der sowjetisch dominierten Deutschen Demokratischen Republik –, wurde ich durch Glück und meine Neigung zu staatsbürgerlichem Handeln zu einem «engagierten Beobachter», um die Wendung aufzugreifen, die Raymond Aron mit weit mehr Recht auf sich selbst bezog. Dann und wann wurde ich von meiner Forschung und Lehre abgelenkt und in die Randbereiche des politischen Lebens hineingezogen, in Deutschland ebenso wie in Amerika, und ich schätzte mich glücklich, daß ich zum aktiven Zeugen historischer Ereignisse werden durfte, die das neue Europa in seinen neuen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten prägten. Ebendarin sah ich die öffentliche Aufgabe der historischen Wissenschaft.
Jahrzehntelang schreckte ich davor zurück, über meine privaten Erfahrungen zu schreiben – ich wollte das Fachliche und das Persönliche säuberlich getrennt halten. Doch nachdem ich zum ersten Mal wieder in meiner Geburtsstadt Breslau gewesen war, die seinerzeit zu Deutschland gehört hatte und heute unter dem Namen Wrocław zu Polen gehört, schrieb ich darüber einen persönlichen Bericht für meine Kinder, und ich nannte ihn «Heimkehr 1979». Jetzt erst wird mir die Ironie, vielleicht sogar Selbsttäuschung in meiner Titelwahl so richtig bewußt, denn eine «Heimkehr» war es gerade nicht. Ich war aus tiefster Neugier nach Wrocław gefahren; mir war, glaube ich, damals nicht klar, daß meine Reise eigentlich eine Sache war, bei der ich mich aus irgendeinem Grund davon überzeugen mußte, daß mein Elternhaus zerstört war und daß das Land meiner Geburt nicht mehr existierte. Mein Verlustgefühl war überlagert von einer alles beherrschenden Dankbarkeit dafür, daß ich in den Vereinigten Staaten eine zweite, bessere Heimat gefunden hatte. Doch dieser kleine Bericht war in der Tat mein erster Versuch, persönlich etwas über die Rückkehr dorthin zu schreiben, wo ich begonnen hatte, und ich lege ihn hier als Zeugnis einer ersten rückblickenden Impression vor.
Die Nordostroute, auf der meine Frau und ich uns Wrocław, Breslau, näherten, kam mir merkwürdig fremd vor; einst hatte es uns immer nach Süden gelockt, in die tschechisch-böhmischen Berge, oder nach Westen, nach Berlin und über Berlin hinaus. Der Nordosten, wo die Polen 1918 ihren eigenen Staat wiedererrichtet und ihre Unabhängigkeit wiedererlangt hatten, erschien uns dagegen wie ein fernes, irgendwie feindliches Land. Die meisten Deutschen sahen in den Polen bestenfalls einen Gegenstand der Belustigung und schlimmstenfalls der Verachtung.
Die polnischen Verkehrsschilder zeigten an, daß wir uns Wrocław näherten, aber es war nicht zu erkennen, wann und wo wir die einstige Grenze zwischen Polen und Deutschland überquert hatten. Nach einem Krieg, in dem Polen die schrecklichste Verwüstung (und die gezielte Liquidierung seiner Eliten durch die Deutschen und die Russen) erlitten hatte, gliederte die Sowjetunion 1945 die östlichen Gebiete des Landes der Ukraine an, und die Alliierten kamen überein, daß die Polen zum Ausgleich die deutschen Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie «verwalten» sollten; zu ihnen gehörte Schlesien mit seiner alten Hauptstadt Breslau. Aus ihren östlichen Provinzen vertrieben, zogen Hunderttausende von Polen notgedrungen nach Westen. Sie «säuberten» die ihnen unbekannten Gebiete von rund drei Millionen Deutschen, und alle Hinweise auf den ehemals deutschen Charakter des Landes wurden sorgfältig getilgt.
Ich hatte in Breslau zuviel durchgemacht, um den Übergang der Stadt an neue Herren bedauern oder mit den von dort vertriebenen Deutschen Mitleid empfinden zu können. Meine Familie war nur allzu knapp der Ausrottung entgangen, als daß ich für unbekannte Deutsche, seien sie umgekommen oder vertrieben worden, Mitgefühl hätte empfinden können. Meine erste Reaktion gleich nach dem Krieg war: Gut, jetzt also sind die Vertreiber selber vertrieben worden. Geblieben aber war mir eine Neugier auf die Stadt und ein vielleicht unvernünftiges, eigensinniges Festhalten an dem unversehrten Bild der Vergangenheit.
Ich hatte...