Die heilige Johanna und der Schuft
Erinnerungen an die frühen Jahre
von Peter Rühmkorf
Ich kannte Klaus von der Schule, das heißt, vom Athenaeum in Stade her, allerdings war er eine Klasse über mir, was zunächst nur zu einem lockeren Verbindungsfaden führte. Eine innigere Berührung ergab sich erst, als Klaus mit einem Freund ein Puppentheater gegründet hatte, da hab ich ihn dann, über meine Mutter, die dort Lehrerin war, an die Warstader Volksschule vermittelt. Die beiden schliefen bei uns im Haus, was dann sofort zu Gesprächen über gemeinsame Interessen führte, die im Großen und Ganzen mit der heute sogenannten klassischen Moderne zu tun hatten. Dabei neigte Klaus etwas stärker der sozialkritischen Neuen Sachlichkeit zu, also Erich Maria Remarque oder Arnold Zweig und Bertolt Brecht. Während ich gerade tief in den Sog des Expressionismus geraten war, was dann bis zu Wolfgang Borchert führte. Auch Kästner und Tucholsky waren ganz große gemeinsame Vorbilder, Leitbilder, woraus dann eine literarisch begründete Freundschaft erwuchs.
Aus der Schule entfloh er mir dann, weil er nach Hamburg an die Uni ging. Ich kam erst 1950 nach Hamburg, und da hieß es »auf Quartiersuche gehen«. Klaus wohnte direkt an der Elbchaussee in einem zerstörten Haus, von dem nur noch die Souterrainküche erhalten war. Das Haus war genau da, wo der Halbmondsweg in die Elbchaussee einmündet. Und nun kam ich im Sommer und habe dort erst mal ein Sofa in seiner Wohnküche bezogen. Der Begriff scheint mir heute fast schon luxuriös, aber immerhin gab es dort fließend Wasser und Strom für die Kochplatte. Außerdem waren wir beide große Sonnenanbeter, und weil sich etwas oberhalb der Küche noch ein Parkettfußboden von einem ehemaligen Salon erhalten hatte, hatten wir uns da zwei alte Liegestühle aufgebaut, in denen wir uns bräunten (wir sagten damals »tängten«) und gleichzeitig Gedanken über eine neue Studentenbühne machten.
Klaus hatte bereits Freunde um sich gesammelt, zum Beispiel Dick Busse, der ganz passabel Banjo spielen konnte, aber auch Peggy Parnass gehörte damals schon mit zum Ensemble. Wir zogen dann etwas später in eine Wohnbaracke in der Stresemannstraße in Lokstedt – zwei kleine Zimmerchen mit jeweils zwei Betten übereinander – eigentlich ziemlich kommissmäßig und, rückblickend, unsere Kommune 00. Weil wir alle gern sangen, war beinah jeden Abend Gemeinschaftsgesang angesagt: Chansons von Tucholsky, Kästner, Mehring, Klabund und Wedekind – und da passte irgendwie selbst Hermann Löns dazwischen.
Klaus war gewissermaßen mein Cicerone, der mich einführte in die große Stadt, er stellte mich überall als den größten zeitgenössischen Dichter vor, das fand ich sehr angenehm. Klausens Art war es, und das machte ihn so gewinnend, dass er jeden aus seinem Umfeld hochnobelte: Dick Busse zum Beispiel zum bedeutenden Gitarristen oder Peggy zur großen Diseuse. Das machte er mit einer gewissen Grandezza und Selbstverständlichkeit, und im Schmuck dieser selbst erschaffenen Edelgestalten wandelte er ganz lustig herum.
Klaus und ich zeigten uns mal unsere Gedichte und schrieben uns unsere Beurteilungen an den Rand. Ich habe heute noch Klausens Gedichte mit meinen Bemerkungen dazu in meinem Archiv und auch meine Gedichte mit Klausens Randglossen. Damals dichtete er noch so frisch, fröhlich, frei, eigentlich ganz unberührt von dem Geist der literarischen Moderne, es war mehr so die Richtung Zupfgeigenhansel, einerseits volksliedhaft schön und das auch wieder ziemlich privat. Ich habe neulich die Sachen mal wieder gelesen – neulich heißt vor drei Jahren –, und da habe ich zu Klaus gesagt, Mensch, die waren gar nicht so schlecht, warum habe ich eigentlich den Umweg über die Moderne gemacht. Andererseits war das letzten Endes mein Gewinner, dass ich wirklich durch die Moderne geprägt worden bin, rückblickend viel verkrampfter als Klaus, aber das war eben die Spannung der Moderne, ihre nervösen Irritationen, die mich gepackt hatten, während Klaus lustig wie Gründgens über alle Abgründe hinwegsprang und seine Lieder sang.
Klaus war außerordentlich geschickt darin, gute Jobs zu akquirieren. Er verstand es, irgendwie durch eine Art von Frechheit oder Aufgewirbeltheit die an Land zu ziehen, und die meisten Jobs habe ich mit ihm zusammen gemacht. Wir verteilten die erste Bild – Zeitung, trugen Postpakete aus und warben auch mal für ein Waschmittel, wobei wir weiße Kittel trugen und so Türkenfeze aufhatten. Damit gingen wir auf dem Jungfernstieg spazieren und riefen im Chor: »Valan, die Waschmaschine in der Tüte«. Wir drehten unsere Gesichter immer der Sonne zu, weil wir uns auch gleichzeitig bräunen wollten. Dann haben wir uns als neue Studentenbühne konstituiert, entwarfen eine richtige Satzung und haben uns an der Uni registrieren lassen, damit man seine Anschläge machen konnte am Schwarzen Brett. Theaterzeit, Jobberzeit. Wann wir je studiert haben?
In der Uni waren wir immer zusammen. Neben der Mensa gab’s den Kaffeegang, wir waren die Herren des Kaffeeganges, und dort warb Klaus seine neue Truppe zusammen. Übrigens gab es auch eine kommunistische Studentengruppe, die neben uns ihre Sachen ans Schwarze Brett schlug, und irgendwie, vermutlich auch durch Kaffegang-Connections, kriegten wir Kontakt zu dieser Gruppe.
Ein Teil dieser Leute, Eberhard Zamory z. B., war als jüdischer Emigrant als britischer Staff Sergant wieder nach Deutschland zurückgekommen, wo ein Teil seiner Familie im Halbdunkel überlebt hatte. Ich sag das aus bestimmtem Grunde. Was in der Restaurationszeit immer noch als Schreckgespenst galt – jüdisch-marxistische Kreise –, war für uns ein ganz besonderer Anziehungsmagnet. Literarisch durch die fortschrittlichsten Literaten der Weimarer Republik beglaubigt.
Es waren Berührungskontakte, wobei sich mir erst später offenbarte, dass die kommunistische Gruppe natürlich ein starkes Missionsbedürfnis hatte und einen großen Infiltrationstrieb. Die haben schon sehr früh die Fühler nach uns ausgestreckt. Rückblickend würde ich sagen, dass sie eine alte kommunistische Taktik schon auf der Universität angewendet haben, das heißt, in vorhandene Gruppen oder Organisationen einzusickern.
Wir waren das progressivste Theater, das sich damals überhaupt denken ließ, erst mal mit diesem knallig provozierenden Namen Pestbeule, der von mir stammte, und dann gar durch die Unterzeile, die sich Klaus ausgedacht hatte, »KZ-Anwärter des vierten Reiches«. Unser Stück hieß »Die im Dunkeln sieht man nicht«. Ich fand seine Texte kabarettistisch effektiver als meine, sie waren doch eigentlich zu ernst, waren expressionistischer und sprachlich geschärfter geprägt, während Klaus ganz leichte Chansons machte, und die Musiken kamen auch von ihm. Nur einmal war mir auch eine Melodie eingefallen, dann stellte sich aber heraus, dass das die sowjetische Nationalhymne war; ich wohnte bei Kommunisten, und mein Wirt hatte nachts immer Radio Moskau eingestellt. Da hatte sich die Nationalhymne wohl etwas zu oft in mein Ohr eingeschlichen.
Klaus konnte eines gut, das betrifft die Bühne wie die Zeitung: Regie führen. Er hatte das Talent, Leute in Verbindung zu bringen und sie einander zuzuordnen, dialogisch und choreografisch. Wer später alles für die Zeitschrift geschrieben hat, ist heute kaum noch zu fassen. Er fand auch die richtigen Worte – manchmal schmeichlerische, aber die wurden gerne geschluckt –, um sehr unterschiedliche Charaktere für eine gemeinsame Sache zu begeistern.
Unser Theaterstück, das sich im Untertitel »kabarettistisches Mysterienspiel« nannte, erlebte zunächst zwei Aufführungen in der Emilie-Wüstenfeld-Schule. Es wurde von der Presse ganz gnädig aufgenommen, aber in der Welt ganz furchtbar verrissen. Dort hieß es – ich hab das heute noch im Ohr – »Der dreckige Kitsch von vorgestern will doch hoffentlich nicht morgen Kunstersatz werden?« Das war natürlich entlarvend, und da sind wir, zusammen mit unseren KP-Freunden, bei der Welt vorstellig geworden, was die sich unter dem dreckigen Kitsch von vorgestern bitte schön vorstellten. Gestern, das war die Nazikunst, ja, alles klar. Aber vorgestern, damit könnten doch nur Brecht und Kästner und Tucholsky gemeint sein – na, die haben sich vielleicht gewunden.
Zu unseren kommunistischen Freunden noch mal. Einige hatten zu unserem Theaterpersonal gehört, andere hatten technische Arbeiten für uns erledigt, und als ich mit meinem Freund Werner Riegel eine eigene Zeitschrift aufmachte – Zwischen den Kriegen war der Titel –, hielt Klaus weiter Kontakt zu den KP-Leuten. Ja, und dann eröffnete er uns eines Tages, dass er eine Zeitschrift aufmachen wolle, den Studenten-Kurier, der uns natürlich mächtig interessierte, weil wir bisher nur hektografiert hatten, und das war nun schon richtig gedruckt. Dass das Blatt praktisch von drüben, das heißt von Ostberlin aus finanziert wurde, kam uns dabei gar nicht in den Sinn. Erstens bekamen wir kein Honorar für unsere Artikel und Gedichte, und wo so offensichtlich kein Geld floss, kam niemand auf den Gedanken an trübe Quellen. So wurde ich in trügerischer Unschuld gehalten, aber ich hatte die einmalige Gelegenheit, bereits als Student unter fünf oder sechs Pseudonymen alles schreiben zu können, was ich wollte. Ich schrieb, wie mir ums Herz war – und das saß allerdings schon ziemlich weit links –, und Klaus brachte das dann gegenüber den Hintermännern durch, egal ob sie was ärgerte.
Er muss da schon sehr geschickt herumlaviert haben, mit brechtscher List sozusagen, sonst hätte er...