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Der tiefe Riss

Wie Politik und Wirtschaft Eltern und Kinderlose gegeneinander ausspielen

AutorBritta Sembach, Susanne Garsoffky
VerlagPantheon
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783641183400
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Eines der letzten gesellschaftlichen Tabus
Unser Sozialsystem benachteiligt Eltern, weil wir zwar Kinder brauchen, um es zu finanzieren, Kinder groß zu ziehen aber kaum honoriert wird. Arbeitgeber bevorzugen Kinderlose, dadurch ist Kinderlosigkeit gerade für gut ausgebildete Männer und Frauen ein attraktives Lebensmodell geworden. Kinderlose wiederum zahlen in den meisten Unternehmen mit Überstunden für die fehlgeschlagene Vereinbarkeitspolitik der vergangenen Jahre.

So entsteht ein tiefer gesellschaftlicher Riss. Um ihn zu überbrücken, brauchen wir ein gerechtes, völlig umgestaltetes Sozialsystem - weg vom Generationenvertrag - und ein Umdenken in den Unternehmen.

Susanne Garsoffky, Jahrgang 1968, studierte Geschichte und Politikwissenschaften. Sie arbeitete als Reporterin, Redakteurin und Chefin vom Dienst bei verschiedenen Tageszeitungen und dem WDR und gestaltete unter anderem das frauenpolitische Magazin frauTV. Seit ihrem Umzug nach Schleswig-Holstein schreibt sie gesellschaftspolitische Bücher, arbeitet als Podcasterin und ist Referentin in der Unternehmenskommunikation eines mittelständischen Unternehmens. Sie lebt mit ihren beiden Söhnen einen Steinwurf von der Nordsee entfernt.

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Leseprobe

Einleitung

Wir machen alles falsch. Nicht auf den ersten Blick, denn die meisten von uns laufen anständig gekleidet, gut ausgebildet und berufstätig durch Deutschlands Straßen. Und bilden damit die breite, von Wirtschaft und Politik umgarnte Mittelschicht. Aber spätestens bei der Antwort auf die zunächst harmlos klingende Frage nach unserer Kinderzahl treten wir in den Fettnapf. Und zwar immer. Entweder wir haben Kinder und unterliegen damit sofort dem Verdacht – vor allem in Magazinen und Sonntagszeitungen –, übervorsichtige, überehrgeizige oder überbehütende Mütter und Väter zu sein. Oder wir haben keine Kinder und werden – wiederum in Magazinen und Sonntagszeitungen – als egoistische, karrieregeile und verantwortungslose Männer und Frauen beschimpft, die sich nur um eines kümmern: sich selbst. In Deutschland im gebärfähigen Alter zu sein ist ein Graus.

Wir lassen uns von jeder noch so kleinen Überschrift provozieren und gegeneinander aufbringen – anstatt dass wir uns zusammenschließen, die Menschen mit und die ohne Kinder, um gemeinsam diesen Schimpftiraden ein Ende zu bereiten.

Wir lassen zu, dass permanent unser Lebensentwurf infrage gestellt wird, und schieben uns gegenseitig den Schwarzen Peter zu. Für die steigende Steuer- und Abgabenlast, die »Können-wir-uns-das-noch-leisten«-Rentendebatte und überhaupt gleich das Scheitern des ganzen Sozialstaates. Wir tragen – jeder auf seiner Seite – zu einem tiefen Riss bei, der sich quer durch unsere Gesellschaft zieht. Und an dessen Rändern sich Eltern und Kinderlose manchmal ratlos, manchmal unversöhnlich gegenüberstehen.

Die Gründe, dass aus diesem Riss mittlerweile ein tiefer Graben geworden ist, haben uns schon vor einigen Jahren die Demografen geliefert. Verstärkt wurde der Konflikt noch durch deren Uneinigkeit über die Interpretation ihrer eigenen Daten und Prognosen. Während die einen die Zukunft düster malen, das Ende unseres Sozialstaates vorhersagen und damit Bestsellern wie Frank Schirrmachers Methusalem-Komplott oder Überschriften wie »Die Deutschen sterben aus« Nahrung gaben, halten die anderen solche Szenarien für Verschwörungstheorien. Hinter ihnen stünden vor allem die neoliberalen Pläne, den Sozialstaat weiter zu reduzieren und Sozialleistungen zu kürzen.1

So uneinig, wie sich die Wissenschaftler sind, so unsicher reagiert die Politik: Ein Minister, eine Ministerin nach der anderen versucht, einigermaßen sinnvolle Handlungsanweisungen abzuleiten aus der Tatsache, dass wir keine Alterspyramide mehr haben, bei der eine breite Schicht der Berufstätigen die kleine Spitze der Alten versorgt. Und aus der Frage, welche Auswirkungen die demografische Urne, die an die Stelle der Pyramide getreten ist, tatsächlich auf uns und unseren Sozialstaat hat. Gelungen ist es niemandem. Die Politiker haben keine überzeugenden Antworten und Lösungen für den Wandel unserer Gesellschaft gefunden, ja noch nicht einmal eine breite Diskussion in Gang gesetzt, die ohne Schaum vor dem Mund mögliche Weichenstellungen skizziert.

Und die Wirtschaft? Die freut sich. Lenken all diese Zahlen und Debatten über den Geburtenrückgang, den drohenden Fachkräftemangel und die leeren Sozialkassen doch seit fast zwei Jahrzehnten davon ab, welche Weichen Konzerne und mittelständische Unternehmen für ihre vermeintlich so wertvollen Belegschaften in den 1990er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahre gestellt haben. So wurden und werden – neues Jobwunder hin oder her – Arbeitsplätze abgebaut beziehungsweise ausgelagert in billigere Produktionsstätten nach Polen, Rumänien oder Asien. So gibt es immer mehr prekäre Beschäftigungsverhältnisse und Zeitverträge und die deutschen Durchschnittslöhne stagnieren seit fast 15 Jahren. Die Arbeit in den Abteilungen und an den Werkbänken ist dermaßen verdichtet, dass jeder Krankheitstag einer Kollegin zum Chaos in der Abteilung führt.

Unternehmer, Wissenschaftler und Politiker stehen also mit uns an den Rändern dieses Risses durch die Gesellschaft und sehen zu, wie wir uns gegenseitig das Leben schwer machen und der Riss immer tiefer wird. Besonders gut zu beobachten ist der tägliche Kleinkrieg zwischen Menschen mit und Menschen ohne Kindern in Arztpraxen, Abteilungen größerer, mittlerer und kleiner Unternehmen, Serviceteams im Hotel oder in Schulen – also überall dort, wo Eltern und Kinderlose miteinander arbeiten müssen. Rücksichtslosigkeit ist noch das harmloseste, was sich die beiden Seiten vorwerfen. Offen ziehen Kinderlose über die auf halber Stelle und damit vermeintlich mit halber Leistung arbeitende Mutter in ihrem Team her, die beim Meeting um 17 Uhr schon wieder nicht da ist, obwohl man selbst gern auch nach Hause oder ins Kino gehen würde. Und Eltern lästern hemmungslos über den kinderlosen, karrieregeilen Kollegen, der trotz einer 50-Stunden-Woche noch die Zeit hat, ins Fitnessstudio zu gehen – weil er ja sonst kein Leben hat.

Aus der Demografie- ist längst eine Neiddebatte geworden, in der beide Seiten so damit beschäftigt sind, ihr eigenes Lebensmodell zu verteidigen, dass sie blind geworden sind für die Fakten. Dabei lohnt es sich, diese einmal genauer anzuschauen, ohne gleich Luft für die nächste Rechtfertigung zu holen:

–Nur noch weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland leben in einer Familie.2

–Kinder sind ein Armutsrisiko in Deutschland. Wer Kinder bekommt, erlebt einen Bruch in seiner Erwerbs- und damit auch in seiner Rentenbiografie, der oft nicht mehr aufzuholen ist.3

–Kinderlosigkeit ist in Deutschland – vor allem in Westdeutschland – im internationalen Vergleich besonders verbreitet. Laut dem Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) sind 20 Prozent der zwischen 1963 und 1967 geborenen Frauen kinderlos, bei den Jahrgängen 1968 bis 1972 lag der Wert im Jahr 2012, als diese Frauen 40 bis 44 Jahre alt waren, bereits bei 22 Prozent. Betrachtet man nur den Jahrgang von 1972 blieb hier sogar jede vierte Frau (24,7 Prozent) kinderlos.4

–In gut 20 Jahren werden wir 40 Prozent mehr Rentner in Deutschland haben als heute, während die Zahl der Erwerbstätigen um ein Viertel schrumpft.5

–In zehn bis fünfzehn Jahren, wenn die »Babyboomer« in Rente gehen, werden immer mehr Menschen die selber keine Kinder haben, eine von der dann erwerbstätigen Generation zu bezahlende gesetzliche Altersrente beziehen.6

Mit diesen Nachrichten sind sehr viel mehr existenzielle Fragen verbunden als die nach schnellen Karrierewegen ohne Kinder oder der Nachhaltigkeit von Baby-Windeln. Zum Beispiel: Was passiert mit einem umlagefinanzierten Rentensystem – in dem also die Erwerbstätigen für die Rentner zahlen –, wenn das Gleichgewicht so dermaßen aus den Fugen gerät? Wie erklären wir Eltern, die die nächste Generation von Beitragszahlern großgezogen haben, dass deren eigene Rente nicht zum Leben reichen wird? Dass es ökonomisch vernünftiger ist, keine Kinder zu haben und durch die Kinder anderer abgesichert zu sein, weil wir den Wert von Kindern sozialisiert, die Kosten für sie aber privatisiert haben, wie der Ökonom Martin Werding so treffend formuliert.7

Oder auch: Was passiert, wenn die Alten das Regiment übernehmen, weil sie die Mehrzahl der Wähler stellen? Wer setzt sich noch ein für die Interessen der Jungen, für die Zukunft?

Auf der anderen Seite muss auch die Frage beantwortet werden, ob es überhaupt sinnvoll und notwendig ist, so etwas wie Bevölkerungspolitik zu betreiben? Brauchen wir aufgrund der Produktivitätssteigerung und der Zuwanderung – die ja gerade in den vergangenen Jahren ein enormes Ausmaß erreicht hat8 – vielleicht gar nicht mehr Kinder? Und was würde das für eine Familienpolitik der Zukunft bedeuten?

Natürlich hat auch die Politik die Sprengkraft des Demografie-Themas längst erkannt – und fürchten gelernt. Besser keine ernsthafte und mit allem Nachdruck geführte Diskussion und keine Suche nach umfassenden Lösungen und neuen sozialpolitischen Wegen als ein Absinken in der Beliebtheitsskala. Die Agenda 2010, das radikalste Reformpaket, das eine Regierung jemals durchgesetzt hat und das zu einer der größten Wähler-Ohrfeigen der Nachkriegsgeschichte geführt hat, steckt allen Parteien noch zu sehr in den Knochen. »Wir wollen doch keine Panik verbreiten. Wenn wir wirklich sagen würden, was die Menschen aufgrund des demografischen Wandels in 20 Jahren erwarten wird, würden wir doch nur Angst schüren«, erklärte uns eine Sozialpolitikerin der großen Koalition im Jahr 2016.

Der Bielefelder Demograf Herwig Birg wirft der Regierung deshalb eine »strategische Desinformation« vor. So wurde zwar eine Demografie-Strategie entwickelt, ja sogar das Jahr 2013 zum Wissenschaftsjahr der »demografischen Chance« ausgerufen, die Bundesregierung hält mittlerweile regelmäßig Demografiegipfel ab. Das Einzige, worin sie gipfeln, sind allerdings meistens blumige Absichtserklärungen. Die Ursachen und möglichen Veränderungen würden aber nicht im Ansatz benannt. Herwig Birg, der seit Jahrzehnten vor dem demografischen Wandel warnt, wird fast bitter, wenn er sagt: »Zur Angst der Politiker vor der Wahrheit kommt die Feigheit vor dem Wähler.«9

Und so ist es vielen wahrscheinlich gar nicht so unrecht, dass der Riss zwischen Familien und Kinderlosen immer größer wird angesichts der Verteilungskämpfe in unserer Gesellschaft. Denn solange sich die beiden Gruppen in dem...

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