2. PUPILLENBLAU
Ich stehe vor ihrer Haustür. Drücke die Klingel. Warte. Warte auf Eva. Es ist Mittwoch.
Ihre Stimme schnarrt durch die Sprechanlage. Die vierspurige Straße schluckt ihre Worte. Ich warte darauf, dass sich der Schlüssel von innen im Schloss dreht. Schritte klackern die Altbautreppe hinab. Es sind schnelle Schritte. Stille. Als stünde jemand hinter der Tür und zögerte kurz. Ihr Schlüsselbund klimpert. Einmal. Zweimal drehen sich die Schlüssel mit Schwung um sich selbst. Die Tür geht auf. Evas Augen leuchten, wenn Tageslicht auf das Pupillenblau trifft. Zerbrechlich sieht sie heute aus. Die dunkel-
blaue Strickjacke und das meerblaue Halstuch stehen ihr gut.
Am Treppenabsatz umarmen wir uns. Ich habe Angst, sie zu zerdrücken. Während ich mich hinabbeuge und meine Arme um ihre zarten Schultern lege, fühle ich mich unnatürlich groß. Unsere flüchtigen Wangenküsse sind der Einstieg in die heutige Begegnung, von der wir nicht wissen, wohin sie uns trägt. Wir lächeln uns geradeaus ins Herz der Anderen. Treppenhausvorvertrauen. Das Wintersonnenlicht klammert sich an die Wandfarbe im Flur.
Vom Leben reden. Wir schenken uns Zeit zum Reden. Ein Leben, das Leerräume hinterlässt. Das Aufzeichnungsgerät surrt leise. Die Kaffeemaschine tropft Wasser durch den Filter. Wir sprechen über Kriegstraurigkeit und Alpträume. Die lebenslange Sehnsucht nach der geliebten Familie. Den Versuch, den Lebensschmerz zu begreifen. Warten. Monatelang. Jahrelang hat Eva ihren Kompass der Liebe in Richtung der Eltern und des Bruders genordet. Hoffnung darauf, dass die Mutter sie wieder in die Arme nimmt. Wie damals, als sie ein kleines Mädchen war und ihre Mutter sie abends in den Schlaf wiegte. »Evalein, komm zu mir. Ich kämme dir dein Haar«.
Deportation und Zerstörung. Verlustkind. Verlustmutter. Verlustbruder.
Eva redet. Endlich. Mit Schulklassen. Mit mir.
Wir sitzen am Wohnzimmertisch. Es sind unsere Nachmittage. Kriegsnachmittage.
Die Zeit verschwimmt, wenn wir uns anschauen. An den Händen halten. Evas Stimme wird vor Schmerz manchmal ganz leise, manchmal schweigt sie. Sie hangelt sich an den wenigen Erinnerungen entlang wie an einer Hängebrücke. Ab und zu spricht sie so lautlos, dass ich meine Arme auf die Tischdecke lege und ihr mein Ohr entgegenstrecke.
Wir versuchen, den Ort zu betreten, an dem der Mensch vergessen hat, Mensch zu sein. Wir öffnen uns im Gegenüber, im zaghaften Aufblättern von Lebenswunden und Schmerzräumen. Sie ist elf und fünfundachtzig Jahre zugleich. Springt in den Jahrzehnten und sackt in sich zusammen. Ein Mensch. Ein Leben. So viele Wunden und so viele Narben. Sie verweilt nur kurz, wenn meine Worte auf ihre Trauer treffen. Sie galoppiert davon in langen Naturbeschreibungen, um sich die Alpträume nicht anschauen zu müssen. Wir legen das verschüttete Schweigen gemeinsam offen. Manchmal sind wir beide still und uns kommen die Tränen.
Evawunden.
Verlustwunden.
Menschheitswunden.
Deutschlandwunden.
Einlebenlangwunden.
Während wir sitzen und uns mit zaghafter Vorsicht begegnen, hetzen rechtsnationale Braundeutsche mit Blick auf den Einzug in Landtage über die Marktplätze. Das verstört mich. Macht mich wütend. Alte Geister toben gegen Minderheiten. Anderssein. Verboten. Leisetreter stampfen auf. Nicht immer mit Glatzen. Das-wird-man-ja-wohl-mal-sagen-dürfen-Wutredner und ewig Gestrige versammeln sich allwöchentlich. Leben ihren Herzhass auf den Stadtplätzen aus. Ihre Brandworte vergiften. Brandbomben fliegen. Es sind keine Schattenmenschen. Sie zeigen ihr Gesicht und enthemmen sich. Sie sind unter uns und nennen schamlos ihre Namen. Nebenan. Freunde, Bekannte, Nachbarn, Politiker, die uns plötzlich durch die deutsche Kultur leiten wollen. Sie reißen sich die Masken vom Gesicht. Fratzenfressen. Die Angst vor Neuankömmlingen geht bei ihnen um. Wir sollen jetzt die Angst vor dem Anderssein verstehen. Warum?
Bräunliche Kindeskinder treten in die Gedankenstapfen ihrer engstirnigen Eltern. Hakenkreuze werden geschmiert.
Eva dreht sich um und geht vor mir die Treppe hoch. Mit zügigen, energischen Schritten erklimmt sie Stufe um Stufe. Vorbei am Treppenlifter ihres verstorbenen Mannes. Mit ihren fünfundachtzig ist sie schneller als ich. Immer geht sie vor mir in ihre Wohnung, und ich versuche, ihr, kaum hörbar schnaufend, zu folgen. Gelingt nicht. Was nimmt mir die Luft? Vor mir geht das Kind, das die Shoa überlebt hat. In Auschwitz. Ein Mädchen von elf Jahren. Evas Mutter hat sie in einen Zug gesetzt. In Budapest. Hastig den Davidstern vom Mantel entfernt. Nicht kontrolliert werden. Die Kinder, wenigstens die Kinder sollten überleben. An der tschechischen Grenze wartete der Fluchthelfer. Die Tante hilft. Mutter Valeria und der kleine Bruder Tamas wollen nachkommen. Der Vater ist schon seit Wochen im Arbeitslager.
»Versprochen, Evalein, wir kommen. Hab Geduld. Nur Geduld, mein Mädele. Sieben Nächte. Nur sieben Mal schlafen, und wir kuscheln wieder zusammen. Pass gut auf dich auf, mein Kind. Mein Leben.«
Ein letztes Winken. Ein letzter inniger Kuss. Das Mädchen wundert sich, warum die Mutter so zittert. Der Schaffner pfeift scharf. Aus den Augen.
Eva ist das Mädchen, das ohne Familie die Hölle überlebte.
Oben, im zweiten Stock angekommen, hängt sie ihre Strickjacke an der Garderobe auf. Die blaue Strickjacke baumelt langsam nach. Schwenkt hin und her, wie ein angeheiterter Matrose auf dem Holzbügel. Dieser ist mit dunkelgrünem Cord und einer goldenen Bordüre verziert. Der Kaffee läuft schon in die Kanne, als ich noch im Flur stehe. Das Parkett knarzt, wenn sie darüber läuft. Laufstraßen zeichnen den Weg. Wenig hat sich verändert in dieser Wohnung. Eine Familieninsel, deren Kinder entwachsen sind.
Es ist Evas Nest. Ihre Schutzzone. Das Klavier, der Bücherschrank, das alte Radio mit dem Drehknopf. Das große dunkelbraune Ehebett, der verspiegelte Ankleideschrank und die bezogenen Stühle mit der geflochtenen Lehne begleiten sie durch ihr Leben. Die Hochzeits-Enkel-Kinderfotos sind Zeugen für das Danach. Für das Weiterleben. Trotz allem. Neuanfangen, ohne Eltern. Neuanfangen mit Nichts als dem Überleben in der Hand. Neues aufbauen auf den Trümmern von Gestern. Nichts ist, wie es war. Und dennoch, die Verwundeten richten sich zaghaft auf. Auf ein Leben. Auch Eva.
Sie zieht den Stuhl näher an den Tisch.
»Setz dich. Willst du immer noch wissen, warum ich fünf Jahrzehnte geschwiegen habe?« Ich setze mich. Streiche mit der Hand über die gehäkelte weiße Tischdecke.
»Ja.«
»Warum?« Sie blickt mich an und greift nach einer Stoffserviette. »Sprich doch mit deiner Familie, wenn du etwas über die Nazis wissen willst. Sie waren doch auch dabei. Zeitzeugen wie ich.«
»Sie schweigen, Eva. Kaltes Schweigen. Trotz Nachfrage. Ich muss das Schweigen meiner Urgroß- und Großelterngeneration, ihrer Haltung dem Krieg und den Deportationen gegenüber brechen. Ich bin mit verharmlosten Anekdoten aufgewachsen. Mit Das-haben-wir-ja-alles-so-gar-nicht-gewusst-Antworten vertröstet worden. Die Bombe, die durch das Hausdach raste und im ersten Stock hängenblieb. Ein Blindgängereinschlag, in dessen Folge die Bohlen noch knarzten, als ich von den Partys frühmorgens zurück ins Bett schlich. Die Nächte in den Bunkern. Mein Vater an der Hand der Großmutter. Ängstlicher Blick hoch, über ihm die Kriegsflieger. Weitergezogen von der festen Großmutterhand. Diese wenigen Geschichten sind das Grundrepertoire, wie mir vom Nazideutschlandkrieg berichtet wurde. Sie wollten Opfer sein. Nicht mehr, nicht weniger. Kein Hinterfragen. Kein Zweifeln. Kein Schmerz? Ihre Lügen sind in mir verwachsen, reingekrochen in die Kindheitstage im Nachkriegswirtschaftswunderland. Wie ein im Haar verklebter Kaugummi haftet meine Familie an mir.«?
Bei Kaffee und Butterkuchen, statt Offenheit, der schwere Schweigeteppich der Vergangenheit. Das Unter-den-Teppich-kehren hat hier Tradition. Hebst du ihn aber hoch, bedroht dich die Fratze der Vergangenheit. Viele von uns müssten doch stolpern über ihre Familienhügel unter den Teppichen. Sie ziehen sich bis in meine Generation. In mein Verhalten. Wie oft bin ich darüber gestolpert. Ich will das nicht mehr.
Ich habe mich entschieden hinzuschauen. Den Teppich anzuheben. Ich gucke sie mir an, meine schwarzen Löcher, die abgeschnittenen Biografien, die Legendentusche. Meine Familie. Lasse mir erzählen und frage nach. Ich habe Angst vor den Antworten.
Doch wie bricht man das Schweigen der Generationen? Wie geht das? Und was macht das mit mir, mit den folgenden Generationen, mit meinem Land, wenn Scham nicht ausgesprochen wird? In den Augen meiner Oma breitete sich nie ein Tränennetz über das Gesehene. Wo verbuddelte sie ihren Schmerz und ihr schlechtes Gewissen? Ich frage mich, ob sie je eines hatte? Wie konnte sie auf diesen Scherben stehen? Unverletzt? Welche Minenfelder hat sie nie wieder betreten? Welche Erzählungen mit dem Hirnradiergummi gelöscht?
Wie bin ich durch all das geworden? Was bin ich geworden?
Wer wäre ich in dieser Zeit gewesen? Was hätte ich getan? Damals. Im Krieg. Hätte meine Angst auch mich meine moralischen Werte harpunengleich über Bord schießen lassen? Haben meine Vorfahren zugeschaut oder weggeschaut? Haben Opa und Oma, die mit mir in der Lüneburger Heide wandern waren und auf Wangerooge Wattwürmer ausgruben auch jüdische Familien denunziert? Bin ich in einem Großelternhaus in Bremen ein- und ausgegangen, später selbst eingezogen, das vielleicht einer deportierten Familie...