McKinsey und ich
Ich glaube, nur einmal in meinem Leben habe ich einem anderen Menschen richtig Angst gemacht. Das war in jenen fünf Minuten, als man mich für einen Mitarbeiter von McKinsey hielt. Ich war beim Verlag S. Fischer in Frankfurt am Main zu Besuch und wollte mit dem Programmchef über ein Buchprojekt reden. Ich trug einen dunklen Anzug und ein weißes Hemd, vielleicht auch eine Krawatte, ich erinnere mich nicht mehr genau. Als mich der Programmchef nach unserem Gespräch durch die Flure von S. Fischer führte, begegnete uns eine ältere Frau. Sie blieb stehen und sprach mich an. Sie erzählte mir von ihrer Arbeit im Verlag und sagte, dass dies eine wichtige Arbeit sei. Sie sprach von ihren Erfahrungen, ihrem Fleiß und anderen Stärken. Ich wusste nicht, warum sie mir das erzählte. Sie redete und redete. Allmählich war zu spüren, dass sie Angst hatte, dass sie verzweifelt kämpfte. Sie hörte nicht auf zu reden. Es war klar, dass sie ihren Arbeitsplatz verteidigte, aber mir war nicht klar, warum sie das mir gegenüber tat. Schließlich unterbrach sie der Programmchef und sagte, ich sei ein Autor des Hauses. Ich sei nicht von McKinsey. Die Frau sah mich überrascht an, dann lächelte sie verlegen und entschuldigte sich für das Missverständnis.
Zu dieser Zeit waren Mitarbeiter der Unternehmensberatung McKinsey bei S. Fischer und pflügten den Verlag um auf der Suche nach mehr Effizienz. S. Fischer machte Verluste, und mit Hilfe von McKinsey sollten die Kosten gesenkt werden. Allen war klar, dass Leute entlassen würden. Fast jeder hatte Angst um seinen Job. Fast jeder hatte Angst vor den Männern in den dunklen Anzügen.
Ich fuhr sehr nachdenklich nach Hause. Es ist eine seltsame Erfahrung, einen anderen Menschen in eine tiefe Angst zu versetzen. Ich werde nie vergessen, wie mir diese Frau ihre Arbeit anpries. Es war fast ein Flehen, ein Betteln. Ich glaube, dass ich erst damals wirklich verstanden habe, was die Arbeit von McKinsey in einem Menschen anrichten kann.
Dabei hatte ich mich schon vorher intensiv mit McKinsey befasst. Mitte der neunziger Jahre fielen mir in den Zeitungen immer häufiger Meldungen auf, dass Unternehmensberater nicht nur Unternehmen beraten, sondern auch ein Theater, ein Opernhaus, einen Fußballverein, die evangelische Kirche, die katholische Kirche, Krankenhäuser. Damals war ich Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit und begann, in der Szene der Unternehmensberater zu recherchieren. Mich interessierte die Frage, was es heißt, wenn immer mehr Bereiche der Gesellschaft nach ökonomischen Gesichtspunkten gestaltet werden. Mein Eindruck war, dass es besonders die Unternehmensberater sind, die still und effizient unsere Welt umbauen, indem sie ihre Ideen und Konzepte in mehr und mehr Köpfe pflanzen. Ich sprach mit verschiedenen Leuten der Branche und mit Leuten, die von ihnen beraten worden waren. Der Eindruck bestätigte sich.
Ich sprach auch mit Leuten von McKinsey. Ich kann nicht verhehlen, dass ich rasch fasziniert war. Es ist ein eigener Menschenschlag, auf den man dort trifft. Ich musste gleich an Ledernacken denken, an amerikanische Elitesoldaten also, darauf gedrillt, ihr Ziel mit letzter Konsequenz zu verfolgen, bestens ausgebildet und durch einen fast religiösen Korpsgeist verbunden. McKinsey ist ähnlich. Ich änderte den Ansatz meiner Geschichte, vergaß die Recherchen bei anderen Unternehmensberatern und konzentrierte mich auf McKinsey. Niemand sonst verficht die Idee von der Effizienz und von der Ökonomisierung der Gesellschaft derart konsequent. Nach einem Dutzend Interviews schrieb ich ein Dossier in der Zeit mit dem Titel: «Die Propheten der Effizienz».
Als Reporter, mittlerweile für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, ändern sich die Themen, die ich behandele, in rascher Folge. Mal begleite ich zwei Wochen lang einen Politiker, dann berichte ich von einer Fußball-Weltmeisterschaft, dem folgt eine große Reportage über ein Unternehmen, einen Wissenschaftler, einen neuen Trend in der Kulturszene. Ein Thema allerdings hat mich nie verlassen, beschäftigt mich seit Jahren nun: McKinsey. Auch wenn ich nach jenem Dossier nie mehr einen größeren Artikel über Unternehmensberater geschrieben habe, so begegnet mir das Thema doch bei fast jeder anderen Recherche. McKinsey ist für mich zur Metapher geworden für die Diktatur der Effizienz, für die totale Ökonomisierung der Gesellschaft. Das Denken, das ich zuerst bei den Unternehmensberatern kennen gelernt habe, begegnet mir mittlerweile bei fast jedem Gespräch, ein Denken in Zahlen, das Denken eines Managers.
Der Manager ist unangefochten das Rollenmodell Nummer eins unserer Zeit. Fast jeder will und soll wie ein Manager handeln, Politiker, Wissenschaftler, Ärzte, Pfarrer. Sie haben immer auch eine andere Rolle, aber die des Managers ist allen gleich. Für mich ist das der große Triumph von McKinsey. Niemand sonst hat unser Denken in den letzten Jahren so verändert wie die Unternehmensberater. Auch wer nicht von McKinsey beraten wurde, denkt und handelt, als sei er von McKinsey beraten worden. Börsenboom, New Economy und die biotechnische Revolution haben diese Ökonomisierung der Gesellschaft weiter verstärkt.
Ich bin nicht gegen die Marktwirtschaft, im Gegenteil. Als ich in den achtziger Jahren in Köln Volkswirtschaft studiert habe, wurde mir auch auf theoretischer Ebene bald klar, dass eine Gesellschaft, die Wettbewerb und das Streben nach Vorteilen, also nach Ungleichheit, ausschließen will, nicht funktionieren kann. Von sozialistischen Ideen auch als Jugendlicher nur schwach angehaucht, habe ich meinen Frieden mit den herrschenden Verhältnissen weitgehend schmerzlos gemacht.
Die Perspektive dieses Buches ist nicht die grundsätzlicher Opposition. Ich halte die soziale Marktwirtschaft nach wie vor für das richtige System, funktionstüchtige Alternativen sehe ich nicht. Insofern habe ich natürlich auch nichts gegen McKinsey. Dass die Ökonomie nach ökonomischen Prinzipien funktionieren soll, halte ich für selbstverständlich. Effizienz ist dabei wesentlich, und die Leute von McKinsey sind Spezialisten für Effizienz. Ihr Rat kann hilfreich sein. Dazu gehört dann leider auch, dass in manchen Situationen Leute entlassen werden, obwohl das für jeden Einzelnen eine Katastrophe sein kann. Ich war sehr froh, später zu hören, dass jene ältere Angestellte von S. Fischer, deren Angst ich so unmittelbar erlebt hatte, nicht entlassen wurde. Allerdings haben Kollegen von ihr, die nicht weniger Angst hatten, ihren Job verloren. Es ist schmerzlich, das zu sagen, aber solche Entlassungen können notwendig sein, auch wenn die Entlassenen mitunter die Opfer von Fehlern sind, die andere gemacht haben. Eine Position der Unschuld gibt es in der Marktwirtschaft nicht. Aber gibt es sie in anderen Systemen?
In diesem Buch geht es um Kritik an etwas anderem: der totalen Ökonomisierung, der Ökonomisierung aller Lebensbereiche, der Expansion des Kapitalismus in der sozialen Marktwirtschaft. Wobei Marktwirtschaft meint: Privateigentum, freier Handel, Gewinnstreben als Möglichkeit, als Teil einer gesellschaftlichen Ordnung, in der auch andere Prinzipien gelten können, zum Beispiel sozialer Ausgleich, in der es Lebensbereiche gibt, die frei sind von den Gesetzen der Ökonomie. Kapitalismus hingegen ist die zwanghafte Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die totale Dominanz des Gewinnstrebens, die Verwandlung der gesamten Gesellschaft in ein Unternehmen.
Ich denke, dass der Kapitalismus in eine neue, eine dritte Phase getreten ist. Zunächst gab es den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, in dem die Gesetze der Ökonomie schrankenlos im Bereich der Wirtschaft herrschten. Er war expansiv, indem er immer mehr Betriebe und Arbeitsverhältnisse seinen oft unmenschlichen Bedingungen unterwarf. Ihm folgte der Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, der herausgefordert war durch den real existierenden Sozialismus und sich intern Schranken auferlegte, um im Systemwettbewerb nicht als gänzlich unsozial zu erscheinen. Dieser Kapitalismus war expansiv, indem er sich anderen Volkswirtschaften als das bessere System empfahl und aufdrängte. Der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts ist ohne Konkurrenz, nachdem der Kampf der Systeme gewonnen wurde. Er ist expansiv, indem er alle Lebensbereiche seinen Bedingungen unterwerfen will.
Die Gesetze der Marktwirtschaft grundsätzlich für sinnvoll zu halten heißt ja nicht, dass alles nach den Prinzipien des Kapitalismus funktionieren soll, also vorrangig nach dem Diktat von Effizienz, weil Effizienz die monetär größten Gewinne verspricht. Muss ein Krankenhaus geführt werden wie eine Stahlschmiede? Soll ein Theater die gleiche Struktur haben wie ein Kaufhaus? Ist eine politische Wahlkampagne mehr oder weniger das Gleiche wie ein Werbefeldzug für ein Deodorant? Muss in meinem Alltag jede Minute so verplant und ausgefüllt sein wie im Alltag eines Managers? Muss ich mich durchökonomisieren wie ein Unternehmen, muss ich zur Ich-AG werden, um den Anforderungen unserer Zeit zu genügen?
In seiner dritten Phase ist der Kapitalismus ähnlich gefräßig wie in seiner ersten. Im 19. Jahrhundert mussten die Industriearbeiter mehr oder weniger den ganzen Tag lang arbeiten. Zeit blieb praktisch nur für Erholungsschlaf. Diese Menschen waren daher reine Wirtschaftssubjekte. In seiner zweiten Phase, der milden, ging diese Belastung stark zurück. Derzeit steigt sie wieder leicht an, aber das ist nicht der entscheidende Punkt. Wir sind erneut reine Wirtschaftssubjekte, weil wir von morgens bis abends in allen Lebensbereichen den Gesetzen der Wirtschaft ausgesetzt sind.
Ich glaube, das Wort, das ich bei meinen Recherchen am häufigsten höre, egal zu...