KAPITEL 1
DIE ZINSEN
Das Zinsniveau liegt in allen westlichen Volkswirtschaften knapp über oder unter 0 %. In einigen Ländern (Deutschland, Dänemark, Schweiz, Japan) sind die kurz- und mittelfristigen Zinsen sogar negativ. Das ist nicht normal und verstößt gegen das jahrtausendealte Grundverständnis des Geldwesens. An dieser Stelle sollte man sich einmal fragen: Was bedeutet Zins?
Zins ist das Entgelt für das Ausleihen von Geld. Wer sich Geld leiht, zahlt also mehr zurück, als er ausleiht. Bei negativen Zinsen bekommt derjenige Geld, der sich welches ausleiht.
1.1 ZINSEN AUS HISTORISCHER PERSPEKTIVE
Bereits 1800 vor Christus existierte mit der Stele des Codex Hammurapi, einer Sammlung von Gesetzestexten aus dem alten Babylon, ein Dokument, das die Höhe der Zinsen regelte. Dieses setzte einen maximalen Zinssatz von 20 % für Silberkredite und 33 ⅓ % für Gerstenkredite fest. Voraussetzung für Kredite in der heutigen Form ist aber das Vorhandensein eines einheitlichen Zahlungsmittels (z. B. Münzen) als Wertmaßstab, sprich eines Geldwesens, das in der griechischen und römischen Antike erst im Aufbau war.
Im 6. Jahrhundert vor Christus führte in Athen der Staatsmann Solon eine neue Währung auf Silberbasis ein. Im 5. Jahrhundert vor Christus begannen weitere griechische Stadtstaaten, eigene Münzen zu prägen. Ein erster Schritt in der Entwicklung des Bankwesens war die Entstehung des Geldwechsler-Berufsstands. Da fremde Händler und reisende Kaufleute zum Einkauf von Waren die jeweils gültigen Münzen als Zahlungsmittel benötigten, waren Geldwechsler erforderlich. Das Einlagengeschäft beschränkte sich noch auf die sichere Verwahrung von Münzen, sodass die ersten Pfandleiher tätig wurden. Kredite waren noch äußerst selten, und aus antiken griechischen Dokumenten geht ein üblicher Zinssatz von 12 % hervor. Im Römischen Reich galten 12 % als Obergrenze. Zinssätze von 6 bis 10 % waren durchaus realisierbar. Diese hohen Zinsen lassen sich damit begründen, dass die Kreditverträge meist zwischen einem Geldverleiher und einer Person abgeschlossen wurden. In manchen Fällen vergaben die Verleiher auch Kredite an mehrere Personen. Im Gegensatz zu den heutigen Banken mit Tausenden von Kreditkunden waren die Ausfallrisiken sehr hoch, weshalb der hohe Zins als entsprechende Risikoprämie zu verstehen ist.
5000 Jahre lang herrschten höhere Zinsen
Im Mittelalter untersagte die Kirche die Einnahme von Zinsen. Doch man konnte im Prinzip nicht darauf verzichten. Im Gewerbe und Handel war es üblich, dass die Produzenten bzw. Verkäufer von Waren die dafür benötigten Rohstoffe als Kredit bekamen (Tischler erhielten beispielsweise Holz und Schneidern gab man Tücher und Garn). Erst nach dem Verkauf des Endprodukts erfolgte die Rückzahlung des Kredits. Aus Kapitalmangel fand häufig auch ein Warentausch statt. Echte Darlehensgeschäfte führten die Juden ein; im Spätmittelalter bzw. zu Beginn der Renaissance wurde dieses Vorgehen auch von den Lombarden (italienische Kaufleute, die als Bankiers am Niederrhein tätig waren) und dem Bürgertum übernommen. Aufgrund der geringen Verfügbarkeit von Krediten herrschte allerdings ein hohes Zinsniveau vor. 20 % waren um 1200 durchaus üblich, ehe im 14. Jahrhundert 5 bis 10 % folgten, als sich in Norditalien ein funktionierendes Bankwesen etablierte. Dieses ermöglichte in der Renaissance guten Schuldnern die Geldaufnahme zu nur 4 % Zinsen. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich bereits ein modernes Bank- und Börsenwesen. Die Zinssätze für Staatsanleihen stabiler Staaten lagen im 18. und 19. Jahrhundert zwischen 3 und 5 %, und das Bürgerliche Gesetzbuch (Deutschland) vom 8. August 1896 legte in § 246 den gesetzlichen Zinssatz auf 4 % fest.
Der Chefökonom der Bank of England, Andrew Haldane, erforschte die Entwicklung des Zinsniveaus über einen Zeitraum von 5000 Jahren hinweg und erstellte auf Basis des gefundenen Datenmaterials ein Zinsdiagramm ab 3000 vor Christus Dieses enthält die kurzfristigen Zinssätze im jeweils wichtigsten Finanzmarkt. Seine wichtigste Erkenntnis: »Niedriger als heute waren die Zinsen in den letzten 5000 Jahren noch nie.«
Wesentlich häufiger als heute gab es in vergangenen Jahrhunderten lange Perioden gleichbleibender Zinsen. Beispielsweise änderte die 1694 gegründete Bank of England in den ersten 128 Jahren ihres Bestehens ihren wichtigsten Leitzinssatz nur sechs Mal, und zwischen Mai 1719 und Mai 1822 blieb er sogar für 103 Jahre unverändert. Erst mit der Industriellen Revolution kam ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bewegung ins Zinsgefüge. Die Zinsen blieben – trotz starker zyklischer Schwankungen – bis in die 1990er-Jahre hinein teils noch auf relativ hohem Niveau.
Die Nebenwirkungen fehlgeleiteter Geldpolitik aus anthropologischer Sicht
Negative Folgen der ultralockeren Geldpolitik kommen so sicher wie das Amen in der Kirche. Wann immer Menschen in der Vergangenheit unbekannte Maßnahmen ergriffen oder Neuerungen einführten, haben sie Erfahrung gesammelt. Erfahrung ist die Summe aller positiven und negativen Eindrücke zu einer neuen Maßnahme. Nachdem wir bislang fast ausschließlich positive Effekte aus der Einführung von Null- und Negativzinsen erlebt haben, ist die Erwartung, dass diese auch negative Entwicklungen zur Folge haben können, nur folgerichtig. Es ist definitiv zu erwarten, dass die Notenbanken die Folgen ihres heutigen Tuns nicht einschätzen können. Sie tun etwas, zu dem es keinerlei Erfahrungsschätze gibt. Daher muss man die weitere Entwicklung genau beobachten, um systematische Umbrüche rechtzeitig zu erkennen.
Null- und Negativzinsen auf breiter Front sind also ein Präzedenzfall der heutigen Zeit und können als Experiment mit schädlichen Folgen betrachtet werden. Doch auch früher schon gab es erste Vorboten stärkerer Abweichungen von den langjährig üblichen 3 bis 4 % an risikolosem Zins.
Wie kam es zur Entwicklung des Nullzinsniveaus?
Bereits in den letzten 50 Jahren kam es auf globaler Ebene zu ganz erheblichen Abweichungen von diesem jahrhundertelang währenden Zustand. Ursache dafür war unter anderem die Aufhebung von Systemen fester Wechselkurse (Ende der Bindung des US-Dollars an Gold 1971), in deren Folge die Mechanismen von Angebot und Nachfrage nicht reibungslos ineinandergriffen. In einzelnen Ländern (insbesondere in Deutschland in den 1930er-Jahren) gab es zum Teil auch früher schon erhebliche Abweichungen vom globalen Zins- und Inflationstrend.
Besonders in den 1970er-Jahren waren gesellschaftspolitische Neuerungen (Aufhebung der Goldbindung) und Auseinandersetzungen (Israel und arabische Staaten) nebst der Politik der Großmächte und der Ölmächte (OPEC) die Hauptursache für sehr große Preis- und extreme Zinssatzveränderungen weltweit.
Zu jener Zeit war die Verschuldung niedrig, und ein sehr hoher Zins war zwar schlecht für die Wirtschaft. Aber dank der geringen Verschuldung konnte er gesamtwirtschaftlich verkraftet werden. Bei stark ansteigender Inflationsrate erhöhten die Nationalbanken rund um den Erdball auftragskonform die Zinsen, um die Inflation einzudämmen. (Inflation = Preissteigerungen im gesamten Wirtschaftsgefüge. Diese schädigt die Kaufkraft und damit den Konsum, aber auch die Wirtschaft. Um zu verhindern, dass diese Schädigung zu tiefgreifend wirkt, werden die Zinsen angehoben.)
Die Zinserhöhungen hatten erhebliche Auswirkungen auf nicht wettbewerbsfähige Industrien und Unternehmen (z. B. Krise der verstaatlichten Industrie in Österreich) und führten zu stark steigender Arbeitslosigkeit in jenen Regionen, in denen diese Industrien beheimatet waren.
Gesellschaftlich kam es zu einem deutlichen Radikalisierungsprozess, der vor allem in Deutschland (RAF) und Italien problematische Ausmaße annahm. Die Jugend brachte ihre Zukunftsängste in der Punkkultur zum Ausdruck, welche gegen Ende der 1970er-Jahre ihren Höhepunkt erreichte.
Seit Mitte der 1980er-Jahre verflachten sich die Zinsausschläge zusehends, da die Nationalbanken massiv in das System eingriffen und auf Krisen seit 1987 wiederholt mit sogenannten Liquiditätsspritzen und sehr schnellen Zinssenkungen reagierten. War eine Krise erst wirksam bekämpft, begannen die Notenbanken in der Regel nach einer gewissen Zeitverzögerung gegenüber dem Konjunkturzyklus mit Zinserhöhungen. Die Zinsanhebung erfolgte in der Regel etwas zu spät und setzte sich in Serie dann so lange fort, bis die nächste so durch Verzögerung geschaffene Blase mit Zinserhöhungen »angestochen« wurde. Es ist tatsächlich befremdlich, wie weit Notenbanken bestehenden Zyklen hinterherlaufen konnten.
Die heutige Lage hat keinen erkennbaren Exit. In den letzten drei Jahrzehnten sind immer wieder Zyklen aufgetreten. Doch mit jeder Krisenbewältigung wurde das erreichbare Tiefzinsniveau weiter nach...