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E-Book

Meine falschen Brüder

Wie ich mich als 16-Jähriger dem Islamischen Staat anschloss

AutorOliver N., Sebastian Christ
VerlagVerlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783462317718
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Wien - Rakka - Wien: das erste Buch eines IS-Rückkehrers. Oliver N., in der Nähe von Wien aufgewachsen, ist gerade 16 geworden, als er sich in Syrien dem IS anschließt. Ein halbes Jahr verbringt er im »Kalifat«, erlebt die Brutalität der islamistischen Kämpfer und kann sich nach einer schweren Verwundung zurück nach Österreich retten. In diesem Buch erzählt er seine unglaubliche Geschichte. Seine Botschaft: Lass dich nicht mit den falschen Brüdern ein.Oliver N. ist 15 und in einer Lebenskrise, als er über einen alten Freund Kontakt zu einer Moschee in Wien bekommt. Bei den Brüdern dort fühlt er sich aufgehoben und verstanden. Er tritt zum Islam über, verändert seine Lebensweise und Ansichten radikal. Bald kreisen die Gespräche um das Kalifat, den Islamischen Staat in Syrien und Irak, und Oliver will nichts anderes, als den Brüdern in ihrem Kampf helfen und dort in der Gemeinschaft der Gläubigen leben. Über die Türkei wird er nach Syrien geschleust und landet dort in einer internationalen Brigade, in der junge Kämpfer aus Deutschland, Belgien, England, Kanada, Mexiko und sogar Australien zusammenfinden. Seine Begeisterung kühlt rasch ab, als er miterlebt, wie Menschen brutal gequält und ermordet werden. Bei einem Bombentreffer schwer verletzt, gelingt es ihm durch eine List, Syrien zu verlassen. Nun muss er nur noch dem österreichischen Konsulat in Istanbul klarmachen, dass er tatsächlich derjenige ist, der auf der Interpol-Fahndungsliste steht ... Nach 20 Monaten im Gefängnis erzählt er in diesem Buch von seiner Radikalisierung und Umkehr.

Oliver N. arbeitet heute mit einer Deradikalisierungs-Initiative zusammen, die ehemalige Islamisten auf ihrem Rückweg in die Gesellschaft begleitet.

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Leseprobe

2


Ich saß an diesem Abend in meiner Wohnung und konnte mir nicht erklären, warum der Kontakt zu Mohammed damals abgerissen war. Vielleicht lag es an meinen damaligen Lebensumständen. Ich war seinerzeit umgezogen, hatte andere Sorgen. Dass sich auch etwas in seinem Leben verändert haben könnte, kam mir nicht in den Sinn.

Ich wählte seine Nummer.

»Ja!«, meldete er sich knapp, mit forschem Unterton.

»Bist du das, Mohammed?«

»Wer spricht?«

»Ich bin’s, Oliver, wir haben uns vor einigen Tagen in der U-Bahn getroffen. Ich wollte mal fragen, wie es so geht und was du machst.«

»Schön, dich zu hören! Bist du unterwegs? Wir könnten uns treffen!«

Klasse, dachte ich, er kam mir mit seiner Einladung zuvor. So klang es für mich nicht nach der verzweifelten Suche nach einer Ersatzbeschäftigung an einem Freitagabend, den ich bislang mit einer frustrierend verlaufenen Computerschlacht und einem halb leeren Pizzakarton verbracht hatte.

»Kein Thema. Hab mir heute nichts vorgenommen, würde mich freuen, dich zu sehen!«, sagte ich.

Wir verabredeten uns in einem türkischen Imbiss, der im 16. Wiener Gemeindebezirk lag. Ich kannte den Laden noch von früher, weil ich in der Gegend einen Teil meiner Kindheit verbracht hatte. Der 16. Bezirk wird selten mit den vermeintlich positiven Seiten der Stadt in Verbindung gebracht, eher mit Straßenbanden oder Drogendealern. Von Süchtigen über Prostituierte bis hin zu wirr vor sich hin brabbelnden Leuten konnte man hier viele Menschen treffen, die selten den Weg in die blank geputzte Altstadt fanden, wo ich mittlerweile wohnte.

Darüber hinaus lebten dort Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen, die Mieten waren hier recht niedrig und auch für die ärmeren Bewohner Wiens einigermaßen erschwinglich. Für mich war es nie ausschlaggebend, woher eine Person kam, welche Religion oder welche Hautfarbe sie hatte. Ich beurteilte Menschen immer nach ihrem Charakter und der Sympathie, die ich für sie empfand.

Fast genau eine Stunde nach unserem Telefonat traf ich am Imbiss ein. Es gab einen größeren Raum im Eingangsbereich. Er war fast menschenleer. Im hinteren Raum, der wesentlich kleiner war, saß Mohammed alleine an einem Tisch. Er war bereits beim Essen und hatte wohl schon einige Zeit auf mich gewartet.

Als er mich sah, sprang er sofort von seinem Tisch auf. »As-salamu alaikum!«[1], rief er. »Setz dich, Bruder!«

Er legte seinen Arm um meine Schulter und schob mich fast zu unserem Tisch hin. Dabei bestellte er bei der Bedienung hinter dem Tresen noch einmal das gleiche Gericht, das er schon bekommen hatte.

Es war schon lange her, dass sich jemand derart freute, mich zu sehen. Und überhaupt war es das erste Mal, dass jemand für mich Essen bestellte, ohne mich vorher zu fragen, was ich denn haben wollte. Einfach so, als Geste der Gastfreundschaft. Mit seiner Freude steckte er mich sofort an, nun hatte ich das Gefühl, dass aus dem Abend doch noch was werden würde.

Er hatte Fragen. Ganz viele Fragen. Aber es war nichts Unangenehmes dabei, Mohammed schien sich tatsächlich für mich zu interessieren. Ich erzählte ihm sehr viel an diesem Abend. Wir fingen in meiner Kindheit an; es tat mir gut, von alldem zu berichten, was ich erlebt hatte, fast wie bei einem Therapeuten, nur dass Mohammed ein echter Freund zu sein schien.

Obwohl ich nun bei einer Versicherung arbeitete und in soliden Verhältnissen wohnte, war mein Leben bis dahin nicht immer einfach gewesen. Als ich fünf Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Ich weiß gar nicht mehr genau, was im Detail zwischen den beiden vorgefallen war. Wenn man jung ist, versteht man oft nicht, was da zwischen zwei Erwachsenen abgeht. Aber ganz sicher spürt man es.

Ich kam zu meiner Mutter. Es entbrannte ein hässlicher Kleinkrieg zwischen ihr und meinem Vater. Eines Tages standen dann Angestellte des Amts bei uns auf der Matte, meiner Mutter wurde das Sorgerecht entzogen. Mein Vater beantragte das Sorgerecht, doch meine Mutter manipulierte mich so, dass ich nicht zu meinem Vater zurückwollte, und ich war von diesem Tag an ein Heimkind. Später, als ich älter war, tingelte ich von einer Wohngruppe des Jugendamtes zur nächsten.

Ich hoffte noch lange, dass sich meine Eltern doch irgendwann einigen würden. Aber der Tag, an dem sich beide wieder vertrugen, sollte niemals kommen. Irgendwann zog meine Mutter ins Ausland und war bis auf gelegentliche Telefonate für mich nicht mehr erreichbar.

Und mein Vater? Einerseits hatte er sich bei dem Kleinkrieg gegen meine Mutter nicht viele Freunde beim Jugendamt gemacht; andererseits hatten wir beide auch selbst lange Zeit ein schwieriges Verhältnis. Zwar stellte er mehrmals Anträge, das Sorgerecht für mich zu übernehmen. Doch Erfolg hatte er damit nicht. Mal gab ich ihm eine Abfuhr, weil ich auf eine Rückkehr meiner Mutter nach Österreich hoffte. Mal gab er auf, weil er die Hoffnung hatte, dass ich nach Beendigung meiner Berufsausbildung ohnehin zu ihm zurückziehen würde.

Die Sache war verfahren. Und mich kümmerte es letztlich nicht, wer von beiden im Recht war. Für mich war entscheidend, dass ich nun in Wohngruppen mein Dasein fristen musste, die mir zwar theoretisch wie eine Familie sein sollten, in denen man aber letztlich das Familienleben nur simuliert.

Ich erzählte Mohammed, dass wenigstens in einer der letzten beiden Wohngruppen die Betreuer und Betreuerinnen einigermaßen in Ordnung waren, dass sich sogar so etwas wie Freundschaft zwischen uns entwickelte. Ich berichtete von meinem guten Schulabschluss, den ich trotz allem schaffte, und von der Versicherungslehre. »Es hätte schlimmer für mich laufen können«, sagte ich. Das war ehrlich gemeint. Aber sicher und geborgen fühlte ich mich keinesfalls.

Auch in der Schule war es nicht immer rundgelaufen. Erst zum Schluss lernte ich, Ehrgeiz beim Lernen zu entwickeln. Aber mir gelang es am Ende eben doch, die Dinge einigermaßen geregelt zu bekommen. Und so kam es, dass ich der Jüngste in der Familie war, aber immer wieder die Älteren stützen musste. Selbst hatte ich keine Stütze, ich war ständig auf mich allein gestellt. Es mag banal klingen, aber ich vermisste nichts so sehr wie Liebe und Anerkennung.

Einer der größten Vorteile der neuen Wohnung war jedenfalls, dass ich nun unabhängig vom Jugendamt leben konnte. Davon berichtete ich Mohammed voller Stolz. Es war endlich vorbei mit dem Leben in den Wohngruppen. Meine Betreuer meldeten sich nur ab und zu per E-Mail, und die persönlichen Besuche waren nicht der Rede wert.

Alles, was ich an diesem Abend erzählte, schien Mohammed zu interessieren. Es war egal, wie ausschweifend ich meine Erlebnisse schilderte, er hörte einfach zu. Wir sprachen nicht darüber, wie es früher war, was wir gemeinsam erlebt hatten. Unsere Treffen im Park, die Fußball-Matches unter Kindern. All das beschäftigte mich zu diesem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr. Nein, er gab mir das Gefühl, dass er für mich da war. Und dass ich wichtig für ihn war.

Es tat gut, über all das zu sprechen. Darüber vergaß ich sogar, mich zu erkundigen, wie es ihm ergangen war. Er erzählte kaum etwas von sich, nur, dass er sich für Religion interessiere und sein Leben vollkommen danach ausrichte.

So vergingen die Stunden, ohne dass ich das bemerkte.

»Ich rede und rede«, sagte ich und lachte. »Du musst ja schon Kopfschmerzen haben.«

»Nein, ich will ja wissen, wie es meinem Bruder geht«, antwortete Mohammed. »Alles was dich belastet, ist wichtig. Und ich möchte dir helfen, darum interessiere ich mich für deine Probleme.«

Ich kann es nicht anders sagen: Das alles machte mich glücklich. Aus einem anfangs völlig vergeigten Abend entwickelte sich eines der schönsten Erlebnisse, das ich seit Langem hatte. Der ganze aufgestaute Druck löste sich plötzlich. Ich konnte einfach von meinen Sorgen sprechen.

Und er gab mir in allem recht, was ich äußerte. Wenn ich über die Verhältnisse in meiner Familie schimpfte, sagte er nur: »Vergiss diese Leute!« Und wenn ich über meine Kollegen auf der Arbeit lästerte, bestärkte er mich in meiner Abneigung. In diesen Momenten fühlte ich mich angenommen in allem, was mich bewegte.

Es war nun schon fast ein Uhr, ich hätte noch stundenlang hier sitzen bleiben und ihm von meinem Leben erzählen können.

Doch Mohammed sagte, dass er noch dringend einen Freund besuchen müsse. »Bruder, es tut mir echt leid, aber ich muss los. Hast du morgen Zeit?«

»Klar, wollen wir uns wieder hier treffen?«

»Nein, weißt du, wenn du möchtest, dann stelle ich dir einige Brüder vor, komm einfach mit in die Moschee!«

Ich überlegte noch kurz: Eigentlich wusste er doch, dass ich weder Muslim war noch großartig was mit Religion anfangen konnte. Ich glaubte zwar an Gott, aber das war für mich eine rein persönliche Angelegenheit. Es war mir klar, dass es so etwas wie eine höhere Gewalt gibt und dass es nach dem Tod nicht einfach nur schwarz wird. Vielleicht habe ich gehofft, dass es einen Gott gibt, ohne es wirklich zu wissen. Aber in der Kirche war ich schon lange Zeit nicht mehr gewesen, mir hatte auch eine Gemeinschaft gefehlt, in der sich mein Glaube hätte entwickeln können. Hätte mich damals jemand gefragt, ob ich Christ bin, hätte ich mit Nein geantwortet.

Aber nach diesem wirklich schönen Abend wollte ich ihn nicht vor den Kopf stoßen. Er hatte ja erwähnt, wie wichtig ihm der Islam geworden war. Und nach allem, was ich von mir erzählt hatte, war der Besuch in der Moschee vielleicht eine gute Gelegenheit, etwas über sein Leben zu...

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