Nach der Eröffnung
Noch vor den ersten Kundinnen wartete bereits ein Fernsehteam von RTL vor der Tür, und wir waren noch immer nicht fertig. Die Kassen funktionierten nicht. Unsere Hochleistungsmegafancy-Kassen wollten einfach nicht! Wir öffneten trotzdem die Türen und begrüßten unsere ersten Kunden. Mehr als begrüßen und rumführen konnten wir nicht, denn ohne Kasse kann auch kein Einkauf getätigt werden. Wir entschuldigten uns, aber die Enttäuschung war groß. Einer der ersten Kunden war ein Kommilitone, er meinte: »Ihr könnt doch nicht jetzt schon aufgeben. Ihr habt doch gerade erst angefangen.« Er hatte recht. Statt weiterzumachen mit einem »Kieken, aber nix anfassen«-Geschäft, öffnete ich eine provisorische Excel-Tabelle, und wir legten los. Wir improvisierten: Einer wog die Produkte auf einer Waage, eine rannte los, um die Preise herauszufinden, und ich tippte alles fröhlich in meine kleine Tabelle und berechnete den fälligen Betrag. Eine vierte Person kassierte. So schafft man Vollbeschäftigung.
Die Hoffnung, am ersten Tag ausverkauft zu sein, hat sich nicht erfüllt. Aber ich werde nie unsere erste Kundin vergessen – sie kaufte Müsli –, und auch nicht das Gefühl beim Feierabendbier im Kreise der Liebsten, äh, des Teams, als ich einfach noch nicht fassen konnte, dass wir es geschafft hatten.
Doch nach der Eröffnung war vor der Arbeit. Der Spaß fing gerade erst an. Das Konzept und die Vorbereitung für den Laden waren sozusagen die Verliebtheitsphase, wenn man die Gründung mit einer Beziehung vergleicht. Alles war neu und aufregend. Wir beschnupperten uns und konnten unser Glück kaum fassen. Die Idee. Der Supermarkt. Das Team. Alles passierte zum ersten Mal, und wir flogen höher und höher. Bis es nicht mehr weiterging. Die Einnahmen waren gut, aber die Ausgaben noch besser. Noch höher, und: Nach drei Monaten Betrieb musste ich das halbe Team gehen lassen. Das Team, das den Laden aufgebaut hatte. Wer wachsen will, muss schrumpfen. Und das haben wir dann auch getan.
Was war passiert? Die erste Regel beim Gründen ist: Kenne deine Zahlen. Die zweite Regel ist: Kenne deine Zahlen, verdammt noch mal! Die Regel ging mir ins Blut über. Ich schrieb den Finanzplan, ich schaute mir täglich die Entwicklung an: Wie viele Kunden sind gekommen? Wie groß war der durchschnittliche Einkauf? Wie groß war der Umsatz? Die Zahlen waren ähnlich wie vorher geplant, setzten sich aber anders zusammen als berechnet. Wir hatten viel mehr Kundinnen als gedacht, diese kauften aber leider viel weniger pro Kopf. Am Ende waren die Umsatzzahlen also ähnlich wie in den Prognosen. Das war eine Überraschung.
Die einzige Zahl, der ich keine Beachtung schenkte, war die der Ausgaben. Schließlich hatten wir die Gehälter der Mitarbeiter im Laden, die Materialkosten und die Ladenmiete zu zahlen. Hinzu kamen die Büromiete und die Gehälter der Mitarbeiterinnen im Büro. Wir hatten eine Office-Managerin, die die Bude zusammenhielt, eine Einkäuferin, die weiterhin neue Produkte suchte, und einen Mitarbeiter, der das Franchise-System plante, und schließlich Sara und mich. Irgendwann fiel uns auf, dass das etwas überzogen war. Wir wollten kein externes, neues Investment reinholen, sondern aus eigener Kraft wachsen. Leider gab ein kleiner Bio-Laden in Kreuzberg das nicht her. Große Überraschung. Um das Überleben zu sichern, mussten wir das ganze Büroteam und einige Aushilfen entlassen. Einen Tag vor Weihnachten. Am Abend vorher schrieb ich in mein Tagebuch:
Ich kann nicht anders. Ich bleibe ruhig. Ich merke, dass jegliche übertriebene Emotion jetzt am falschen Platz wäre. Lähmung würde alles nur schlimmer machen. Es ist nicht alles schwarz, was düster ist, es ist nicht alles Gold, was glänzt. Noch ist nicht alles in Ordnung, aber das ist noch lange nicht der Weltuntergang. Man kann das Ruder noch rumreißen.
Ich habe keine Angst. Weil jetzt das eingetreten ist, wovor ich Angst hatte. Erst wenn man alles verloren hat, ist man frei, alles zu tun. Für Freiheit müsste ich jetzt aufgeben, alles abgeben und verlieren. Ich möchte nicht aufgeben. Auch wenn es meine Art ist – ich habe immer alles aufgegeben. OU kann ich nicht aufgeben. Es ist eine Herausforderung. Eine neue Situation, auf die ich mich einstellen muss. Das ist gut. Ich kann jetzt die Scherben zusammenfegen und schauen, was ich Neues daraus mache.
Langsam geht es mir besser. Ich habe fast Angst davor, dass es mir zu gut geht und dass ich zu ruhig reagiere. Ich habe das Gefühl, die Antwort ist ganz nah. Und auch das Zugeständnis. Die Last, die von einem fällt. Was ich gelernt habe: Businessplan einhalten, ganz besonders die Zahlen, ganz besonders die Budgets.
Am nächsten Morgen war es vorbei mit der Ruhe. Damit ich mich dieser Situation nicht ganz allein aussetzen musste, war unser Berater Bernd dabei. Wir trafen uns in unserem Parterrebüro in der Reichenbergerstraße: die Decken hoch und mit Stuck, der Boden mit schönen alten Dielen – einfach original Altbau. 90 Quadratmeter für fünf Leute. Zugegeben, es war überzogen, aber wir nutzten einen Teil des Büros als Lager für zu große Bestellungen und Lebensmittelproben. Dennoch war auch das Büro ein großer Kostenfaktor.
Wir warteten, bis alle Mitarbeiter angekommen waren und ich beginnen konnte, die Situation zu erklären und wie es so weit kommen konnte. »Wir haben einen schönen Businessplan geschrieben, aber uns nicht an ihn gehalten. Wir haben mehr Leute eingestellt, als vorgesehen war. Wir haben zu früh mit der Franchising-Planung angefangen, ohne eine finanzielle Absicherung zu haben. Wir haben einen Fehler gemacht.« Ich korrigierte mich. Ich war diejenige, die immer die Zahlen gemacht hatte. »Ich habe einen Fehler gemacht.« Die Mitarbeiter hatten es schon geahnt, aber jetzt, wo es offiziell war, war es doch schlimm. Sie packten ihre Sachen zusammen und gingen. Was hätte man an so einem Tag sonst noch machen sollen? Nachdem sie gegangen waren, verschloss ich die Bürotür, und dann konnte ich auch nicht mehr. Die Tränen kamen langsam, dann immer schneller. Ich lief nach Hause, mein Fahrrad schiebend, weil ich vom ganzen Weinen nichts sehen konnte. Ich blieb nur immer wieder kurz stehen, um mir die Nase zu schnäuzen und mir Vorwürfe zu machen. Ich beging einen Fehler, andere mussten gehen. Das war nicht fair. Noch schlimmer aber wäre es, den Laden zu schließen. Alles musste getan werden, um das abzuwenden. Und trotzdem. Versagen fühlt sich ganz schön scheiße an.
Ich lernte, was Verantwortung bedeutet: nicht einfach nur, ein bisschen mehr zu arbeiten und diszipliniert zu sein, sondern Verantwortung bedeutet, dass meine Worte und Handlungen auch Konsequenzen für andere haben. Auch negative. Und dass ich dafür geradestehen muss. Die Entlassungsgespräche führen, jedem Einzelnen die Situation erklären, wieder Vollzeit im Laden stehen und nebenbei die Buchhaltung, das Personalmanagement und das Marketing stemmen. Wir konnten gerade so alle Rechnungen und Gehälter bezahlen. Das eigene Gehalt fiel dann allerdings hinten weg. Einen Teil des Büros vermieteten wir bis zur Kündigungsfrist unter. Am Wochenende schlief ich bei Freunden oder im kalten Büro auf dem Sofa, damit ich meine Wohnung über Airbnb untervermieten konnte. Ab und zu fuhr ich auf Konferenzen und hielt Vorträge, die zusätzliche Einnahmen brachten. Das Start-up-Life hatte ich mir glamouröser vorgestellt.
Es war eine Scheißzeit, aber es wurde besser. Das Ladenteam kam mit den Kürzungen klar und auch damit, dass einige der Aushilfen gehen mussten. Ich hatte allen signalisiert, dass wir auf jeden Fall weitermachen würden, und wie das zu schaffen war. Die Umsätze waren super, die Kosten aber eben leider auch. Die mussten wir in den Griff bekommen. Alles irgendwie optimieren. Denn: Die unverpackte Show must go on!
Der TED-Talk
Etwa zu der Zeit, als die Stimmung kippte, aber noch vor den Kündigungen, durfte ich einen TED-Talk über OU halten. TED ist ein Veranstaltungs- und Video-Format aus den USA. Menschen, die auf ihrem Gebiet Pionierarbeit geleistet haben, werden eingeladen, über ihr Projekt, ihre Forschung, ihr Leben zu sprechen. Der Vortrag dauert maximal 20 Minuten und wird aufgezeichnet und anschließend auf YouTube von oft Millionen von Zuschauern angeschaut. TED stand für mich für den Traum von einer Bühne mit einem roten, runden Teppich und einem Publikum, das bereit für meine Geschichte ist.
Für die Vorbereitung eines solchen Talks werden einem ausführliche Handbücher und ein Coach zur Verfügung gestellt. Ich wusste, worauf es bei einem TED-Talk ankommt: In weniger als 20 Minuten präzise einen Mehrwert an Wissen für die Zuschauerinnen zu generieren. Und der Mehrwert ist enorm. Motivation und Inspiration ziehe ich an langweiligen Samstagnächten nicht aus dem Berghain oder intellektuellen Diskussionen darüber, ob die Abbildungen vom Brandenburger Tor perspektivisch korrekt an den Fenstern von öffentlichen Verkehrsmitteln angebracht sind, sondern aus TED-Talks. Innerhalb kürzester Zeit wird eine Geschichte erzählt, oft eine persönliche, und am Ende erhält man einen kleinen Ausblick in die wissenschaftliche Forschung und versteht die Welt ein kleines bisschen besser. Der Talk ist meist nach zwanzig Minuten vorbei, aber das Gefühl der Dankbarkeit und der Aufklärung darüber, was die Welt im Inneren zusammenhält – das bleibt. Entsprechend wichtig war dieser Talk für mich.
Ich bereitete mich vor, denn ich wollte so viel Wissen wie möglich über Müll...