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E-Book

Der Zerfall

Europas Krisen und das Schicksal des Westens

AutorWiliam Drozdiak
VerlagOrellFüssli
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783280090091
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Er schien schon fast Wirklichkeit geworden: der große Traum eines geeinten Europa, verbunden durch eine einheitliche Währung und einen gemeinsamen Binnenmarkt, abgesichert durch die NATO und die enge Kooperation mit den USA. Europa schickte sich an, eine Supermacht zu werden, die Staaten wie Russland und Indien, China und den USA auf Augenhöhe begegnet. Doch dieser Traum scheint bis auf Weiteres das zu bleiben, was er ist: nur ein Traum.Drozdiak beschreibt anschaulich, wie ein zersplittertes Europa gleichzeitig den Modellcharakter der westlichen Demokratien verliert und Gefahr läuft, nach jahrzehntelanger Stabilität erneut in einen Zustand politischen Aufruhrs, wirtschaftlicher Unsicherheit und sozialer Unruhe zu versinken. Es ist die nachdenklich stimmende Analyse eines renommierten Kenners.

William Drozdiak, geboren 1949, hat viele Jahre als Chefkorrespondent für die renommierte Washington Post u. a. aus Berlin und Paris berichtet. Als langjähriger Präsident des American Council on Germany und Direktor des Transatlantic Center des German Marshall Fund of the United States ist er wesentlich an der Entwicklung der transatlantischen Beziehungen zwischen den USA und Europa beteiligt. Er zählt international zu den besten Kennern des komplizierten Verhältnisses zwischen den USA, der EU und Deutschland.

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Leseprobe

Kapitel 1 – Berlin: Das neue Machtzentrum


Kapitel 1

Berlin

Das neue Machtzentrum

Am Morgen des 4. September 2015 war der deutschen Kanzlerin Angela Merkel klar, dass sich am ungarischen Hauptbahnhof Keleti in Budapest eine humanitäre Katastrophe abspielte. In ihren Träumen verfolgte sie noch das Bild eines syrisch-kurdischen Jungen, dessen Leichnam nur wenige Tage zuvor an den Strand eines türkischen Badeorts angespült worden war. Jetzt bewegten sich Tausende syrischer Flüchtlinge von Griechenland nach Norden und strömten in die ungarische Hauptstadt. Und Zehntausende mehr waren noch unterwegs. 

Mehr als 3000 Flüchtlinge waren bereits am Bahnhof angekommen, wo die Bedingungen schnell unerträglich wurden. Es wurde ihnen nicht erlaubt, sich dort aufzuhalten, bis die ungarischen Behörden Zusicherungen erhielten, dass Österreich und Deutschland die Flüchtlinge aufnehmen würden. Merkel rief ihren österreichischen Kollegen Werner Faymann an und bestand darauf, dass sie dringend eine Erklärung abgeben müssten, dass die Grenzen offen bleiben würden und die Flüchtlinge willkommen seien. Nachdem sie von Merkel grünes Licht bekommen hatte, erlaubte die ungarische Polizei schließlich einer großen Menge syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge, ihre Reise nach Norden fortzusetzen, um Zuflucht in wohlhabenden westlichen Ländern wie Deutschland und Schweden zu finden.[2] 

Merkel traf diese schicksalhafte Entscheidung nicht ohne schwerwiegende Bedenken. Sie ist bekannt dafür, auf Zeit zu spielen, kritische Entscheidungen aufzuschieben, bis sie alle möglichen Konsequenzen gründlich bedacht hat. Deutsche haben aus ihrem Namen sogar ein Verb gemacht, »merkeln«, was so viel bedeutet wie: Dinge aufzuschieben, bis die Zeit reif ist, eine Entscheidung zu treffen. Aber bei diesem Ereignis entschied Merkel, einen mutigen, wenn nicht gewagten Schritt zu tun, um eine ihrer Ansicht nach moralische und humanitäre Krise zu entschärfen, die Europa zu erschüttern drohte.

Als sie von ihrem jährlichen Wanderurlaub in den Alpen zurückkehrte, sah sie, dass sich das Rinnsal syrischer Flüchtlinge im Frühling mittlerweile in eine Spätsommerflut verwandelt hatte. Ende August überquerten 2000 Menschen die Meerenge zwischen der Türkei und der griechischen Insel Lesbos – pro Tag. Sie befürchtete, dieser Tsunami von Migranten, der auf Europa zusteuerte, könnte bald den ganzen Kontinent destabilisieren. Sie war auch überzeugt, dass der Exodus sie nicht nur politisch, sondern auch persönlich auf die Probe stellte. Einige Tage zuvor waren in einem Lieferwagen, der die Grenze nach Österreich überquert hatte und von Polizisten kontrolliert wurde, über siebzig Leichen gefunden worden. Überwiegend Frauen und Kinder, die versucht hatten nach Deutschland zu gelangen.

Im Juli brachte eine bewegende Begegnung mit einem kleinen palästinensischen Mädchen namens Reem Merkel ein bisschen aus der Fassung. Das Mädchen brach in Tränen aus, als sie die Kanzlerin anflehte, ihrer Familie Asyl zu gewähren, bevor sie abgeschoben würden. Merkel berührte ihre Schulter und versuchte sie zu trösten, aber ohne Erfolg. Man könne nichts weiter tun, sagte sie, und Deutschland könne sich nun mal nicht um alle kümmern, die den Nahen Osten verlassen. Wochen später, beim Besuch eines Flüchtlingsheims in Heidenau in Sachsen wurde Merkel von einer wütenden Menge beschimpft. Als sie zu ihrem Wagen zurückging, schrie eine hysterische Frau: »Du miese Fotze, du blöde Schlampe, du Volksverräterin!«, während weitere ihre Wut über Merkels Entscheidung, die Flüchtlinge ins Land zu lassen, ebenso deutlich zum Ausdruck brachten. Merkel erinnerte sich später, dass sie niemals eine so tief sitzende Feindseligkeit von deutschen Mitbürgern erfahren habe. Diese hässliche Konfrontation veranlasste sie jedoch, nur noch entschlossener an ihrer Willkommenskultur festzuhalten und die Menschen, die vor dem syrischen Bürgerkrieg flohen, willkommen zu heißen.[3]

Merkel dachte nicht daran, sich mit anderen europäischen Regierungschefs zu beraten, bevor sie entschied, Deutschlands Tore zu öffnen. Als täglich Hunderte, dann Tausende von den Strapazen der Flucht gezeichnete Syrer, Afghanen und Iraker am Münchner Bahnhof ankamen und von jubelnden Deutschen begrüßt wurden, die eifrig bemüht waren, großzügige Gastfreundschaft anzubieten, wurde Merkel von ihren europäischen Kollegen, die von ihrem Handeln überrascht und darüber verärgert waren, mit Warnungen überschüttet. Sie warnten, dass ihre unilaterale Entscheidung fehlschlagen und die Flüchtlingskrise so verschärfen würde, dass dies ganz Europa politisch und wirtschaftlich beschädigen könnte. Auf einem angespannten Gipfeltreffen, das im EU-Hauptsitz in Brüssel einberufen wurde, kritisierte sie Ungarns Premierminister Orban scharf wegen ihrer, seiner Ansicht nach, tollkühnen Politik und erklärte, dass er ihr darin unter keinen Umständen folgen würde. 

»Es ist mir egal, was Sie denken, aber ich werde meine Grenzen verteidigen, wenn nötig, indem ich Zäune um mein Land errichte«, sagte Orban beleidigt. »Ich werde Ihren moralischen Imperialismus nicht akzeptieren. Und glauben Sie mir, Frau Kanzlerin, am Ende werden Sie gezwungen sein, dasselbe zu tun wie ich an meinen Grenzen.« Merkel schob ihre Papiere beiseite und starrte eisig über den riesigen Konferenztisch im Justus-Lipsius-Gebäude, wo sich die EU-Regierungschefs häufig zu Krisensitzungen versammeln, um zu überlegen, wie den dringendsten Herausforderungen – darunter der Flüchtlingszustrom, Russlands Aggression in der Ukraine, Griechenlands Schuldenprobleme und Großbritanniens Brexit-Entscheidung −, zu begegnen sei. 

»Als ich aufwuchs, hatte ich immer eine Mauer vor Augen«, sagte Merkel mit bewegter Stimme zu Orban, »und ich will auf keinen Fall erleben, dass weitere Zäune in Europa errichtet werden.« Die anderen Regierungschefs lehnten sich sprachlos zurück, als sie ihre Botschaft aufnahmen und ihnen klar wurde, dass Merkels wilde Entschlossenheit, die Grenzen für die Flüchtlinge offen zu halten, eine Frage der Humanität.[4]

Aufgewachsen im kommunistischen Ostdeutschland im Schatten der Berliner Mauer – die sie jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit als Physikerin sah –, empfand Merkel es immer als Pflicht, Menschen in Not zu helfen. Ihr Vater Horst Kasner war ein lutherischer Pastor, der mit seiner Familie 1954 – sieben Jahre bevor die berüchtigte Mauer gebaut wurde, um die Abwanderung qualifizierter Arbeiter in den Westen zu verhindern – von Hamburg nach Templin, nördlich von Berlin in Ostdeutschland, gezogen war. Nachdem er sich in seiner neuen Gemeinde eingelebt hatte, betrieb er eine Einrichtung für körperlich und geistig Behinderte. Seiner ältesten Tochter impfte er die Pflicht ein, denen zu helfen, die nicht für sich selbst sorgen können. 

Merkels Entscheidung 2015, Deutschlands Türen für fast eine Million Flüchtlinge zu öffnen, ist nur eine von mehreren Herausforderungen, mit denen sie, die Schlüsselfigur, die jetzt das Schicksal des Kontinents, wenn nicht des Westens in den Händen hält, gegenwärtig konfrontiert ist. Seit sie 2005 zur deutschen Kanzlerin gewählt wurde, an die Spitze einer Mitte-rechts-Regierungskoalition, ist sie, größtenteils gegen ihren Willen, zu Europas unentbehrlicher Führungspersönlichkeit geworden. Da es keinen europäischen Partner gibt, mit dem sie die Lasten teilen kann, war Merkel gezwungen, fast vollständig die Verantwortung für die Bewältigung einer Reihe äußerst schwieriger Probleme zu übernehmen. Sie hat die Initiative beim Umgang mit der Flüchtlingskrise ergriffen, sie musste die Risiken einer erneuten Finanzkrise im Falle eines Euro-Crashs minimieren, und sie war gezwungen, dem Wiederaufleben eines aggressiven Russlands unter Präsident Wladimir Putin und den Folgen des EU-Austritts Großbritanniens entgegenzutreten.  

Als die Auswirkungen der globalen Finanzkrise 2008 Griechenland in die Insolvenz zu treiben drohten, fädelten sie und ihr unerbittlicher Finanzminister Wolfgang Schäuble die schwierigen Verhandlungen ein, die zu drei Rettungsaktionen führten und schließlich verhinderten, dass Griechenland aus der Eurozone ausschied. Gleichzeitig war sie Hauptverhandlungspartnerin des Westens mit Wladimir Putin und setzte sich dafür ein, dass Europa mit wirtschaftlichen Sanktionen auf Russlands Annexion der Krim und seine Unterstützung separatistischer Rebellen in der Ostukraine reagierte.  

Gegenwärtig bemüht sich Merkel darum, was vielleicht ihre schwierigste Aufgabe sein könnte, den Kontinent wieder auf Kurs in eine friedliche, sichere und blühende Zukunft zu bringen, nachdem Großbritannien sich entschieden hat, die Europäische Union 2019 zu verlassen. Merkel wollte Deutschland...

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