Als kleines Mädchen wollte ich unbedingt ganz schnell groß werden. Denn da gab es unseren Hund Alf, einen sechs Wochen alten Colliewelpen. Ich muss so vier, fünf Jahre gewesen sein, und in diesem Alter gab es für mich nichts Tolleres, als mit Alf zu spielen, mit ihm zu kuscheln und ihn herumzutragen. Doch Alf legte in einem rasanten Tempo an Größe und Gewicht zu. Bald schon war ich nicht mehr stark genug, um ihn weiter auf die Arme nehmen zu können. In meiner Verzweiflung betete ich sogar zu Gott, er möge mich doch genauso schnell wachsen lassen wie unseren Hund.
Ich denke gerne zurück an meine Kindheit. Mit meinen beiden älteren Brüdern Peter und Herbert bin ich am Stadtrand von Solingen groß geworden, umgeben von Wäldern, Wiesen und Feldern, direkt hinter unserem Haus, im Tal, floss die Wupper. Meine Eltern hatten einen Kartoffel- und Kohlenhandel, und auf unserem Hof lebten viele Tiere. Es gab Hasen, Hühner und Hunde. Sogar ein eigenes Pony hatte ich, und da mein Bruder Herbert Brieftauben züchtete, gab es auch über 200 Tauben. Meine beiden großen Brüder beeindruckten mich, und ich wollte auch so cool sein wie sie. Peter und Herbert wiederum fanden es ziemlich nervig, dass ich ihnen ständig am Rockzipfel hing. Um mich abzuschrecken, ließen sie sich dann irgendwann einfach ein paar Mutproben für mich einfallen. So sollte ich einmal von einer ganz hohen Ziegelsteinmauer springen, ein anderes Mal musste ich von der Hühnerfarm unseres Onkels Eier stibitzen. Auch sollte ich Wache schieben im Wald, während meine Brüder und ihre Freunde dann in einem zerbeulten Blechtopf irgendetwas über dem Lagerfeuer kochten und ihre geheimen Bandentreffen abhielten. Zwar hatte ich manchmal etwas Angst, dort im Wald, doch riss ich mich zusammen. Tapfer habe ich alle Mutproben bestanden. Ich wollte eben immer zu den Jungs gehören und lief auch jahrelang mit Latzhose und Schiebermütze rum.
Meine Eltern erzogen uns Kinder zwar streng katholisch, doch auch wenn wir einmal etwas angestellt hatten – unsere Eltern haben uns nie geschlagen. So erinnere ich mich noch gut daran, wie ich meine Mutter einmal fragte, wo denn das Wasser aus der Toilette hingeht, und sie mir darauf antwortete: »Direkt in die Wupper!« Als meine Eltern dann abends einmal beim Kegeln waren, bin ich schnurstracks zu unserem Aquarium, habe alle Fische mit einem kleinen Netz herausgefischt und sie in der Toilette runtergespült. Es war toll, ich fühlte mich als große Retterin, die den Fischen ihre Freiheit zurückgeschenkt hatte. Natürlich waren meine Eltern daraufhin sehr wütend, doch selbst eine Ohrfeige brachte keiner von ihnen übers Herz.
Oft hat meine Mutter auch einfach meinen Vater gerufen, wenn ich sehr frech war. Der ist der sensibelste und gebildetste Kaufmann der Welt. Er weiß einfach alles über Literatur, Musik und Film. Und wenn es hieß, wir hätten wieder eine Dummheit gemacht, kam er und ist mit uns ins Bügelzimmer gegangen. Dort stand er dann vor uns, schaute uns an, in seinem Blick die Liebe eines Vaters, und so konnte auch er uns nicht schlagen. Das wusste meine Mutter natürlich. Es war wie ein Ritual.
Immer wenn ich an all diese Erlebnisse zurückdenke, an die vielen positiven Eindrücke, die ich damals machen durfte, merke ich, wie wichtig diese Zeit für mich war. Die ersten Jahre haben mich stark geprägt, und die Kraft und das Selbstvertrauen, mit denen ich heute als erwachsene Frau durchs Leben gehe, finden ihren Ursprung in den Tagen meiner Kindheit. Und mit dieser Erkenntnis und Erfahrung stehe ich nicht alleine da. Für jedes Kind, für jedes Mädchen und für jeden Jungen, sind die Tage der Kindheit prägend. In dieser Zeit, im familiären Umfeld, wird das Fundament für die nachfolgende Entwicklung geschaffen. Es geht um ganz elementare Dinge wie das spätere Sozialverhalten, um die Aufnahmefähigkeit, um die Neugierde genauso wie die gesunde Ernährung und vor allem die Stärke, an sich selbst zu glauben.
Es ist daher wichtig, Kinder zu fördern und zu schützen. Sie sind die Kleinsten und Schwächsten in unserer Gesellschaft und damit selbst noch nicht stark genug, um sich zu wehren und für ihre eigenen Rechte zu kämpfen. Daher müssen wir Großen das für sie übernehmen. Schließlich sind Kinder unsere Zukunft. Sie sind die Ärzte, die uns einmal behandeln werden. Sie sind die Krankenpfleger, die uns einmal im Altenheim umsorgen. Sie sind die künftigen Professoren und Politiker, die einmal maßgeblich über unser Land und unser Wohlergehen entscheiden.
Leider gewinne ich gerade in Deutschland oftmals den Eindruck, dass zahlreiche Menschen sich nicht über diese weitreichende Bedeutung von Kindern und Jugendlichen bewusst sind. Besonders in meinem Alltag als Mutter, als alleinerziehende und berufstätige Mutter, wird mir dies häufig bewusst. Es ist nur mit großem Eigenengagement, mit Disziplin und oftmals auch dem Verzicht auf ein Stück eigene Verwirklichung möglich, Kinder und Karriere tatsächlich zu vereinbaren. Ein Beispiel: Manche Drehtage gehen wirklich bis spät in die Nacht. Während die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen ohne Kinder dann müde in ihr Hotel fahren und sich dort ins Bett legen, fahre ich zum Flughafen, um die nächste Maschine Richtung München zu bekommen. Wenn ich meiner Tochter am Abend zuvor schon keinen Gute-Nacht-Kuss geben konnte, so möchte ich sie wenigstens am Morgen begrüßen und mit ihr, bevor sie in die Schule geht, gemeinsam frühstücken. Lilly ist das Wichtigste in meinem Leben. Es erfüllt mich mit unbeschreiblichem Glück, aber auch großem Stolz, jedes Jahr ihren Geburtstag zu feiern, zu sehen, wie sie wieder gewachsen ist und sich entwickelt hat.
Ich betrachte es als große Herausforderung und meine Lebensaufgabe, Lilly zu einem Menschen zu erziehen, der Werte schätzt wie Respekt, Dankbarkeit und Demut und der auch Verantwortung für sich und andere übernehmen kann. Es sind kleine Schritte auf dem Weg dahin. Zum Beispiel muss Lilly selbstverständlich in ihrem Zimmer Ordnung halten, genauso muss sie den Stall ihrer Kaninchen selbst sauber machen. Ich versuche sie in die Haushaltsarbeiten mit einzubeziehen, mit ihr zu kochen, den Tisch zu decken, die Zeitung zu holen, den Müll rauszubringen oder mit ihr Unkraut zu zupfen. Und sitzen wir dann abends nach vollbrachter Gartenarbeit gemeinsam beim Abendbrot, ist das einer dieser ganz besonderen Momente.
Zeit mit Lilly zu verbringen ist für mich ein kostbares Geschenk, und so mache ich in beruflicher Hinsicht immer wieder Abstriche, um bei ihr zu sein. Als ich beispielsweise im Herbst 2010 ein Angebot für Dreharbeiten in Rom bekam, lehnte ich ab, und das wirklich, ohne auch nur eine Minute zu zögern. Die Dreharbeiten hätten sich bis in den Dezember, bis kurz vor Weihnachten, gezogen. Gerade die Vorweihnachtswochen aber sind mir sehr wichtig. Dann backen wir Plätzchen, basteln, lesen viel gemeinsam, machen es uns einfach zu Hause gemütlich. Und ich finde, es gibt nichts Schöneres, denn Kinder zeigen einem, was wirklich wichtig ist im Leben, sie bringen einen auf das Wesentliche zurück und öffnen einem die Augen für die oft unterschätzten Kleinigkeiten und Besonderheiten in unserem Leben.
Wenn du einem Kind irgendetwas das erste Mal zeigst, zum Beispiel Schnee, einen Regenbogen oder wie sich eine stachelige Schale öffnet und sich darin eine Kastanie verbirgt, wenn du einem Kind sein erstes Gummibärchen gibst oder ein Stück Schokolade, wenn ein Kind die ersten Schritte läuft oder zum ersten Mal einen Duplo-Stein erfolgreich auf einen anderen setzt und du dann diese staunenden, strahlenden, glücklichen Augen siehst, dann ist das ein Teil der Schöpfung, und immer wieder halte ich in diesen Augenblicken inne.
Es ist eine schnelllebige Zeit, in der wir leben. Mode, Autos, Technik – was heute noch Trend ist, ist morgen schon wieder überholt, und es gibt viel Neues. Viel zu wenige von uns wissen meiner Meinung nach, was wirklich im Leben zählt. Umso mehr bewundere ich die Menschen, die ich in diesem Buch porträtiere. Denn sie wissen es und nehmen sich die Ruhe und die Zeit, sich dafür zu engagieren – für Kinder. Wenn ich zum Beispiel an Gina Graichen denke, Erste Kriminalhauptkommissarin aus Berlin, die in ihrer Laufbahn bereits über 120 vernachlässigte und zum Teil brutal misshandelte Mädchen und Jungen nur noch tot vorfand und die trotzdem weiterkämpft gegen die tägliche Gewalt in Familien, dann werde ich selbst ganz still. Eine beeindruckende Frau. Genauso Angela Oettjen, die als Pflegemutter auf Zeit erst wenige Wochen alte Babys zu sich nimmt und diesen die Liebe gibt, als wären es ihre eigenen Kinder. Oder mein Freund Stefan Hippler, der sich in Südafrika um HIV-infizierte Kinder kümmert. Um nur drei der in diesem Buch vorgestellten Menschen zu nennen, die zu den beeindruckendsten zählen, die mir im Lauf meines Lebens begegnet sind.
Liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht schaffe ich es mit den Geschichten über diese Menschen, auch Sie zum Nachdenken zu bringen, und vielleicht fühlen Sie sich motiviert zu helfen. Ich nehme mich da selbst ebenfalls in die Pflicht und versuche mich immer wieder für benachteiligte und Not leidende Mädchen und Jungen einzusetzen. Dieser Wunsch und dieses Ansinnen, für Kinder da zu sein, ist tief in mir verankert, und ich brauche auch gar nicht lange darüber nachzudenken, was der Antrieb ist. Denn neben meiner eigenen schönen Kindheit und dem daraus resultierenden Wunsch, dass auch andere eine solche erleben, neben meinem Dasein als Mutter und dem Wissen, dass die Mädchen und Jungen von heute einmal die Erwachsenen von morgen sein werden und damit auch über meine...