1. Magersucht – das Krankheitsbild
Magersucht ist eine sehr komplexe psychosomatische Erkrankung.
Um dieses vielschichtige Krankheitsbild fassbarer zu machen, möchte ich zunächst versuchen, ein sprachliches Bild der Magersucht zu zeichnen und erst im Anschluss daran die Symptomatik, mögliche Ursachen und Heilungsmethoden beschreiben. Bei diesem sprachlichen Bild geht es nicht um Vollständigkeit oder Wissenschaftlichkeit; vielmehr soll es dazu dienen, die Krankheit in ihrer Komplexität besser nachfühlen und verstehen zu können.
1.1 Das Bild der Magersucht
Stellen Sie sich vor, dass an einer weißen Wand ein großes Bild angebracht ist. Unter dem Rahmen gibt es ein kleines Schild, auf dem der Titel des Bildes steht. Er lautet „Das einsame Mädchen“.
In der Mitte des Bildes sitzt eine junge Frau auf dem Boden. Sie hat ihre Knie bis zu den Schultern angezogen und die Arme um ihre Beine geschlungen. Ihr Kopf berührt mit der Stirn die Knie, sodass man das Gesicht nicht erkennen kann. Als einziges Kleidungsstück trägt die Frau ein dunkles, weites Hemd, das ihr bis zu den Unterschenkeln reicht.
Ihre Unterarme, Hände und Füße sind sehr zartgliedrig. Die ganze Gestalt wirkt zerbrechlich, obwohl sie sich unter dem Hemd versteckt. Das Haar der jungen Frau wirkt stumpf und leblos, so als hätte es keine wirkliche Farbe.
Wenn man Hände und Unterarme genauer betrachtet, stellt man fest, dass die Haut der Frau schlecht durchblutet ist und dass die ganze Gestalt friert, obgleich im oberen Bereich des Bildes die Sonne scheint.
Doch von der Sonne ist die Frau wie abgeschnitten. Um ihre Person herum gibt es einen grauen Schleier, der sie wie eine Glasglocke von der Außenwelt isoliert.
Unter dem grauen Dunst bewegen sich kreisförmig spitze schwarze Pfeile. Das sind die Gedanken der Frau, die stets um dasselbe Thema kreisen und sie nicht loslassen.
Außerhalb des grauen Schleiers ist das Bild hell. Die Sonne scheint aus dem oberen Drittel herunter. Einige Schäfchenwolken betupfen den blauen Himmel, unter dem das Leben stattfindet. Menschen lachen miteinander. Essen zusammen. Umarmen sich. Streiten sich. Freuen sich. Arbeiten, tanzen und faulenzen.
Doch die junge Frau unter dem Schleier kann die anderen Menschen nicht vollständig wahrnehmen. Das Zischen der schwarzen Pfeile um sie herum ist so dominant, dass sie kaum registriert, was sie verpasst. Früher hatte sie sehr wohl den Wunsch in sich verspürt, ebenso zu lachen, sich zu freuen und zu lieben. Doch jetzt ist er in weite Ferne gerückt, ist kaum noch spürbar. Die schwarzen Gedankenspeere vertreiben erfolgreich jeden Eindringling.
Auf der linken Seite des Bildes sind zwei Hände zu sehen, die sich der Frau helfend entgegenstrecken. Aber sie reagiert nicht darauf. Ihre eigenen Arme und Hände braucht sie, um sich zu wärmen und abzugrenzen.
Rechts im Bild steht ein Tablett, liebevoll zubereitet mit köstlichsten Speisen: duftendes Brot, leckerer Käse, Fisch und Fleisch, Kuchen und Eis. Auch hierauf reagiert sie nicht.
Die Gedankenspeere flüstern ihr ein, stark zu bleiben, sich nicht einzulassen auf gefährliche Versuchungen. Sich nicht auf eine Stufe zu stellen mit all den armen Schwachen um sie herum. Stärke bedeutet Widerstehen. Stärke bedeutet Disziplin. Nichts ist so wichtig, wie die Kontrolle zu behalten, Oberhand zu bewahren über den Körper mit seinen jämmerlichen Bedürfnissen. Kontrolle ist alles. Gefühle sind etwas Bedrohliches. Sie bringen selten etwas Gutes. Am besten man hungert alles weg: die Empfindungen und Bedürfnisse, jede körperliche Unförmigkeit sowieso und vor allem das Gefühl der Schwäche. Dann kann nichts passieren. Dann geht man auf Nummer sicher. Fängt man einmal mit dem Schwachwerden an, läuft alles aus dem Ruder. Also Haltung bewahren und nichts essen, spüren und fühlen!
Im Gesicht der jungen Frau sind plötzlich Tränen. Sie kullern die Wangen herunter und ihr dunkles Hemd wird ganz nass. Sie hebt den Kopf und sieht den Betrachter des Bildes an. Es ist, als weine ein kleines Kind. Ein verletztes kleines Mädchen, das die ganze Zeit darauf gewartet hat, dass jemand vor dem Bild stehen bleibt und es versteht.
Den Bann der Krankheit zu brechen ist unsagbar schwer.
Doch tief im Innern gibt es in uns allen die Verbindung zum Leben.
Das Leben ist machtvoller, heller und größer als der dunkelste Bann.
Es ist möglich zu heilen und wieder ins Leben zurückzukehren.
Daran zu glauben und zu versuchen dem Leben wieder zu vertrauen, kann der erste Schritt auf dem Weg zur Heilung sein.
1.2 Merkmale der Krankheit
Die Merkmale einer Magersucht sind ausgesprochen vielschichtig und äußern sich nicht ausschließlich körperlich, sondern umfassen auch das Denken und Fühlen sowie das Verhalten der Betroffenen. Ein gewisses Untergewicht zu haben heißt noch nicht zwingend, dass eine Person wirklich magersüchtig ist. Um von Magersucht sprechen zu können, müssen mehrere der im Folgenden genannten typischen Merkmale gleichzeitig erfüllt sein.
Körperliche Merkmale
- Starkes Untergewicht; der Body-Mass-Index (BMI) liegt bei Frauen unter 17,5 und bei Männern unter 18,5.
- Schlechte Durchblutung führt zu kalten Händen und Füßen und zu einer verstärkten Kälteempfindlichkeit insgesamt. Die Betroffenen frieren leicht.
- Langsamer Puls und erniedrigter Blutdruck; zuweilen kommt es zu Ohnmachtsanfällen.
- Schlafstörungen (vor allem Durchschlafschwierigkeiten)
- Bei Frauen: Aussetzen der Regelblutung
- Trockene Haut und trockene Kopfhaare, bis hin zu verstärktem Haarverlust
- Gefühl der Reizüberflutung, verstärkte Geräusch- und Lichtempfindlichkeit
- Nachlassen des sexuellen Interesses
Der BMI errechnet sich wie folgt:
Gewicht in kg, geteilt durch Körpergröße in m².
Ein Beispiel: Eine Frau wiegt 55 kg bei einer Körpergröße von 1,65 m.
Man rechnet 55 : 1,65² = BMI von 20,2.
Merkmale in Bezug auf die Gedanken- und Gefühlswelt
- Angst vor Gewichtszunahme und vor Kontrollverlust über die Nahrungsaufnahme
- Gewichtsabnahme vermittelt ein Gefühl der Stärke und des Sieges; verstärkte Verknüpfung von Selbstwertgefühl mit dem eigenen Körpergewicht.
- Körperschemastörung: Betroffene haben eine gestörte Wahrnehmung ihres Körpers; empfinden sich als zu dick, selbst wenn sie vollkommen abgemagert sind; schätzen ihren Körperumfang falsch ein.
- Stimmungsschwankungen, Gereiztheit und / oder depressive Verstimmungen
- Zwanghafte Fixierung auf das Essen und auf das Gewicht; ständiges Kalorienzählen, Vermeiden von fetthaltigen Nahrungsmitteln, Lesen von Diätratgebern u.Ä., permanente gedankliche Beschäftigung mit den Themen Essen und Gewicht
- Schuldgefühle z.B. nach Heißhungerattacken
Merkmale in Bezug auf das Verhalten und auf das Verhältnis zur Umwelt
- Zwanghafte Ritualisierung der Nahrungsaufnahme. Beispielsweise wird nur zu bestimmten Uhrzeiten bzw. Tageszeiten gegessen oder nur bestimmte Lebensmittel, nur bestimmte Lebensmittelkombinationen usw.
- Permanente Gewichtskontrolle (tägliches Wiegen)
- Sozialer Rückzug; soziale Kontakte beschränken sich auf das Notwendigste
- Vermeiden von Situationen, in denen man essen „muss“, wie z.B. Einladungen, Restaurantbesuche usw.
- Vermeiden gemeinsamer Nahrungsaufnahme. Betroffene können nicht gut im Beisein anderer Menschen essen.
- Soweit das noch möglich ist: Ständige Betriebsamkeit, indem man z.B. über Sport bzw. körperliche Aktivitäten (z.B. sinnloses Treppensteigen) versucht, an Gewicht zu verlieren.
- Paralleles Auftreten anderer Zwangshandlungen, z.B. übertriebener Ordnungssinn und andere Kontrollzwänge
1.3 Mögliche Ursachen von Magersucht
Magersucht ist, wie eingangs erwähnt, eine sehr komplexe Erkrankung, die sich sowohl auf körperlicher Ebene als auch im seelischen Bereich manifestiert und auswirkt. Ebenso vielfältig wie das Krankheitsbild sind auch die Theorien, die über die Ursachen aufgestellt und diskutiert wurden und werden. Manche Theorien gehen von medizinischen Ursachen aus, wie z.B. von einer genetischen Prädisposition oder biochemischen Fehlsteuerungsprozessen im Gehirn. Andere hingegen halten eher soziokulturelle Faktoren als ausschlaggebend, wie z.B. das Streben nach den gängigen gesellschaftlichen Schönheitsidealen, den Erziehungsstil der Eltern oder traumatische Erfahrungen, wie beispielsweise sexuellen Missbrauch. Die eine und eindeutige Ursache für das Ausbilden einer Magersucht gibt es aber anscheinend nicht. Wahrscheinlicher ist bei einer so komplexen psychosomatischen Erkrankung ein jeweils sehr individuelles und vielschichtiges Bündel von Ursachen. Nicht jedes sexuell missbrauchte Mädchen wird zwangsläufig magersüchtig. Nicht jede Frau, deren Mutter oder Schwester an Essstörungen leidet, bildet ebenfalls eine Essstörung aus.
Ich bin während meiner Recherche über die Erkrankung auf eine sehr interessante Definition gestoßen. Das folgende Zitat stammt aus einer Informationsbroschüre der Parkland-Klinik in Bad Wildungen-Reinhardshausen. Diese Klinik ist eine Fachklinik für Psychosomatik und Psychotherapie und hat u.a. eine Fachabteilung für Essstörungen.
„Nach unserem Verständnis ist eine Essstörung Ausdruck und Lösungsversuch seelischer Konflikte, die aus früheren Erfahrungen...