Pimpf in Hitlers Reich
»Der Junge muss Adolf heißen!«, schlug die Hebamme meinen Eltern vor, als ich just am 20. April 1933, Hitlers 44. Geburtstag, im Jahr des Machtantritts der Nazis in Falkenau bei Chemnitz zur Welt kam. Tausend Jahre, prophezeiten sie, sollte ihr Reich bestehen!
Meine Mutter, eine solide, einfache Frau, weigerte sich und nannte mich Karl. Adolf – zu diesem Zeitpunkt unvermeidlich – wurde mein zweiter Name. Als dritten trage ich den meines Vaters: Walter.
In meiner Familie waren fast alle politischen Strömungen vertreten: Mein Vater trat wenige Jahre nach meiner Geburt in die NSDAP ein, sein großer Bruder war Kommunist, mein Großvater Sozialdemokrat. Bei Familientreffen ging es hoch her, da wurden die politischen Kämpfe, die auf den Straßen tobten, am Küchen- oder Wohnzimmertisch ausgetragen. Alle diskutierten über die hohe Arbeitslosigkeit. Von fünfunddreißig Millionen Menschen im arbeitsfähigen Alter waren sechs Millionen arbeitslos gewesen – nahezu zwanzig Prozent. Aus diesem Arbeitslosenheer entstanden der Reichsarbeitsdienst und die Organisation Todt, eine paramilitärische Bautruppe. Welche Wege würde die Arbeiterklasse gehen – in Richtung Kommunismus? Oder würde sie den Nazis auf den Leim gehen? Auch darüber redete man sich bei uns die Köpfe heiß. Doch unsere Familie hatte sich einen Ehrenkodex auferlegt: Trotz unterschiedlicher politischer Überzeugungen achtete man sich gegenseitig.
Meine Vorfahren väterlicherseits waren allesamt ungelernte Fabrikarbeiter oder Landwirte gewesen. Die Generation meines Vaters brachte zum ersten Mal gelernte Schlosser, Werkzeugmacher oder Bauarbeiter hervor. Meine Mutter hingegen stammte aus einer Eisenbahnerfamilie – ein Berufsstand, der ein ausgesprochen hohes Ansehen genoss.
Die älteste meiner beiden Schwestern ist juristisch gesehen meine Cousine. Die Schwester meiner Mutter hatte drei Kinder mit drei verschiedenen Männern. Als im November 1931 das zweite geboren war, entschied meine Mutter: Wir nehmen die Kleine zu uns! Meine Eltern adoptierten sie nicht, da sie zu ihrer Mutter zurückkehren sollte. Jutta blieb jedoch bei uns und ist für mich bis heute meine Schwester. 1941 kam meine leibliche Schwester Karin hinzu.
Mit fünf Jahren hatte ich einen schweren Unfall. Ein Schafbock stieß mich um, ich rollte fast in einen Mühlgraben, konnte gerade noch vor dem Hineinfallen bewahrt werden. Der Schreck löste Anfälle aus, die bis 1942 andauerten. Trotzdem wurde ich zu Ostern 1939 in die Volksschule in Falkenau eingeschult.
Im September jenes Jahres brach der Krieg aus. Wir wohnten in einem Mietshaus mit acht Parteien. Die ersten Männer aus unserem Haus, die eingezogen wurden, verabschiedeten sich optimistisch: »In vier Wochen sind wir wieder da, Weihnachten feiern wir zu Hause!«
Auch die vier Brüder meiner Eltern wurden eingezogen. Nur Vater, der in einem kriegswichtigen Betrieb arbeitete, musste nicht an die Front.
1929 hatte er meine Mutter geheiratet, kurz darauf verlor er während der Weltwirtschaftskrise seine Stelle. In einer Baumwollspinnerei in Falkenau fand er wieder Arbeit. Als er 1937 der NSDAP beitrat, gehörte er zu jenen Millionen Deutschen, die nach der Krise Hitler für den Erlöser hielten.
Als Ende der Dreißigerjahre die Aktiengesellschaft Sächsische Werke in Espenhain bei Leipzig gegründet wurde, bewarb sich Vater dort und wurde als Schlosser eingestellt. Das Werk stellte über Braunkohlesynthese unter anderem Benzin und Rohöl her. Mit dem Fischer-Tropsch-Verfahren wollte sich das Dritte Reich – auch mit Blick auf den geplanten Krieg – von Kraftstoffimporten unabhängig machen.
Während des Krieges machte Vater auf der Abendschule seinen Meister als Werkzeugmacher und wurde Kolonnenführer. Er war überzeugter Nationalsozialist, aber er blieb ein Mensch. Als seine Kolonne Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene zugeteilt bekam, musste Mutter jeden Morgen einige Schnitten mehr schmieren, weil er sein Essen mit den Gefangenen teilte.
Wir zogen kurz nach Ausbruch des Krieges, im Dezember 1939, nach Magdeborn bei Leipzig um. Der Ort existiert heute nicht mehr. Ende der Sechzigerjahre wurden die Bewohner umgesiedelt, weil ihr Dorf inmitten des südlich von Leipzig verlaufenden Braunkohleabbaugebietes lag und zwischen 1977 und 1980 abgebaggert wurde.
Letztes Aufgebot
Mit zehn Jahren wechselte ich auf die Mittelschule. Ich war jetzt alt genug für das Deutsche Jungvolk. Da ich infolge meines Unfalls schmächtiger war als die anderen Jungen meines Alters, belegte ich beim Laufen meist den letzten Platz. Meine Resultate beim Keulenweitwurf – eine Vorbereitung aufs Granatenwerfen – fielen ebenfalls weit schlechter aus als die der anderen. Dafür lachten mich die Kameraden aus. Da ich ehrgeizig war, schmerzten mich die Demütigungen umso mehr.
Stolz hingegen konnte ich auf meinen Onkel Rudi sein. Ich bewunderte ihn, weil er zu unseren Helden in Afrika gehörte und unter General Rommel diente. Gern ließ ich mich mit ihm fotografieren. Er posierte in seiner Uniform, ich in meiner Pimpfen-Kluft. Er hatte zwar das Glück, den Krieg zu überleben, doch er steckte sich in Afrika mit einer unheilbaren Krankheit an und starb viel zu jung.
Der Krieg – anfangs scheinbar ein Kinderspiel – zog sich hin. Nach der Niederlage der Wehrmacht bei Stalingrad rückte Tag für Tag bedrohlich näher, was bis dahin so fern schien. Nicht nur Nachrichten von Gefallenen oder Vermissten häuften sich. Plötzlich spielte sich der Krieg vor unserer Haustür ab. Bomben fielen auf das nahe gelegene Leipzig. Die bevölkerungsreichste Stadt Sachsens erlebte einen der schwersten Angriffe im Dezember 1943, danach waren mehr als 1800 Tote zu beklagen. Über 900 Menschen starben im Februar 1944 im Bombenhagel. Auch das Werk in Espenhain wurde wegen seiner strategischen Bedeutung Ziel alliierter Angriffe.
Im Februar 1945 mussten wir Pimpfe nach Leipzig ausrücken. Ziele des Großangriffs der US Air Force waren die Verkehrsanlagen und der Hauptbahnhof gewesen, doch die Bomben trafen die gesamte Stadt. Selbst viele der bis dahin sicheren Bunker hielten der Bombardierung nicht stand. Die Amerikaner setzten unter anderem so genannte Kettenbomben ein. Schlugen zehn Bomben an derselben Stelle ein, so zerstörten sie auch die dicken Betondecken der Bunker unter dem Leipziger Hauptbahnhof. Die Stadt war wie Dresden, das ebenfalls schweren Bombardements ausgesetzt war, voller Flüchtlinge aus Gegenden, über die der Krieg bereits hinweggerollt war. Die Zahl der Opfer war deshalb wieder immens: Über tausend Menschen starben allein bei diesem Angriff.
Wir Pimpfe holten die Toten aus zerstörten Bunkern heraus. Den Anblick der leblosen Körper werde ich wohl auf ewig in meinem Gedächtnis behalten, die Bilder verfolgen mich bis heute.
Zu Hause in Magdeborn verbrachten wir die Nächte im Luftschutzkeller. Der Ort selbst blieb zwar vor Angriffen verschont, doch in der näheren Umgebung waren die Einschläge der Bomben und das Gebell der Flugzeugabwehrgeschütze deutlich zu hören. Als wieder Ruhe eingekehrt war, suchten wir Kinder Granatsplitter. Sie stammten von den explodierten Granaten, die die zweiunddreißig Geschütze der Flak-Batterie abgefeuert hatten, die das nahegelegene Werk in Espenhain schützen sollten. Wer die meisten Splitter fand, war der Sieger unseres makaberen Wettbewerbs.
Die Flakstellung war nur etwa drei Kilometer Luftlinie von unserem Ort entfernt. Da immer weniger Männer zur Verfügung standen, schufteten dort auch sowjetische Kriegsgefangene. Einmal schickte mich Mutter mit einem halben Brot zu den ausgehungerten Russen. Zum Dank schnitzten sie einen Vogel für mich.
Wir Pimpfe waren dem Volkssturm angegliedert, Hitlers letztem Aufgebot. Schlecht ausgerüstete alte Männer, Jugendliche und Kinder sollten den Ansturm der Alliierten aufhalten. Ich und meine Altersgenossen glaubten weiter an den Endsieg. Sehe ich heute Kindersoldaten im Fernsehen, denke ich: Du wolltest auch so einer sein! Ich fühlte mich damals stark, hatte das Gefühl, endlich zeigen zu können, was in mir steckte.
Gemeinsam mit den Erwachsenen hoben wir entlang der Hauptstraße in Magdeborn Schützenlöcher aus, aus denen wir, so lautete der Befehl, mit der Panzerfaust auf anrückende feindliche Panzer schießen sollten. Als die Löcher geschaufelt waren, übten wir täglich für den Ernstfall. Ich fieberte dem Moment entgegen, in dem ich beweisen konnte, dass ich kein Versager war.
Bei einer Übung in den Schützenlöchern kam mein Vater zufällig vorbei.
»Was soll das?«, fragte er entgeistert. »Du bist ein Kind!«
Er packte mich, schleifte mich nach Hause und sperrte mich ein, damit ich – fanatisch wie ich war – nicht auf Panzer schoss.
Vielleicht rettete er mir so das Leben …
Am 22. April 1945, zwei Tage nach meinem zwölften Geburtstag, rückten die Amerikaner in Magdeborn ein. Sie kampierten rund um den Ort. Wir Kinder liefen neugierig in ihre Stellungen und bekamen Schokolade und Kaugummi von ihnen. Spähtrupps patrouillierten regelmäßig durch den Ort.
Als einer dieser Trupps an unserem Haus vorbeikam und aus unserem Volksempfänger eine der letzten Ansprachen aus Berlin zu hören war, kamen die GIs nach oben, packten die »Goebbels-Schnauze« und warfen sie kurzerhand aus dem Fenster.
Im Juli 1945 zogen die Amerikaner ab, Panjewagen und Panzer der Roten Armee rollten durch den Ort. Die sowjetischen Truppen zogen allerdings, ohne Halt zu machen,...