2 Nicht ohne meinen Vater – im Schatten des Patriarchen
Der innere Drang, Spuren zu hinterlassen, gibt der väterlichen Leistung vieler Männer eine ruinöse Note. Ihr «Erziehungsziel» bezieht sich nicht auf die Kinder, sondern auf sich selbst: bei geringstmöglichem Einsatz den größtmöglichen Eindruck hinterlassen.
Und das gelingt ihnen oft auf fatale Weise.
Es ist leicht zu beweisen, daß die Flucht der Väter aus der Familie fatal ist für die Frauen und den Ehen nicht bekommt. Denn die Frauen können ihre Enttäuschung, ihre Ressentiments und ihre Frustrationen darüber sehr ausführlich und deutlich beschreiben, und aus den Exegesen von Ehescheidungen geht deutlich hervor, in wie vielen Fällen die männliche Abwesenheit von der Familie die Ursache war für das Scheitern der Ehe.
Die Sichtweise der Kinder ist schwerer zu ermitteln. Denn Kinder sind von immenser Loyalität und außerdem ausgestattet mit dem starken Urtrieb – der wahrscheinlich evolutionär sinnvoll war –, die Eltern zusammenhalten zu wollen, unter fast allen Umständen. In der Geschichte der Menschheit diente dieser Trieb wahrscheinlich der Selbsterhaltung, denn die Chancen eines Kindes, in einer gefährlichen Welt zu überleben, waren größer, wenn es zwei Erwachsene hatte, die sich verbindlich kümmerten. Auch heute, wo kein Bison mehr erlegt werden muß und keine Wölfe uns jagen, liegen Kinder mit diesem Instinkt nicht falsch. Auch heute noch trifft ihre instinktive evolutionäre Erkenntnis zu: daß ihre Chancen in unserer Welt größer sind, wenn sich zwei Erwachsene verbindlich für ihr Wohl einsetzen. Kinder sind – unsere Interviewpartner/innen berichteten stets staunend, oft kopfschüttelnd davon – in Familienfragen erz- und urkonservativ. Ihre Eltern sollen sich vertragen, nicht streiten und unbedingt zusammenbleiben. Und wenn sie sich nicht vertragen und dauernd streiten, dann sollen sie bitte trotzdem zusammenbleiben.
Eine Frau, die sich wegen Gewalttätigkeit ihres Mannes von ihm trennte, erzählte uns von der erstaunlichen Fähigkeit ihrer Kinder, das tatsächlich erlebte, schreckliche Familienleben gedanklich vollständig von einem idealisierten, hypothetischen Familienleben zu trennen: Ständig versuchten sie, die Mutter doch noch mit dem Vater zusammenzubringen. «Die Kinder», berichtete sie, «haben Vorstellungen von einer heilen Familie, wie sie nicht nur bei uns zu Hause auch nicht im entferntesten existierte, sondern wie es sie auch rund um uns herum eigentlich nirgends gibt. Sie malen z.B. Bilder von Harmonie und Familienglück, und ich muß mich ihnen gegenüber rechtfertigen, weil wir keine vollständige Familie mehr sind. Mein Mann hat mich auch vor den Kindern geschlagen. Beim letzten Gespräch darüber habe ich meine Tochter gefragt, ob ich bleiben und mich weiter hätte schlagen lassen sollen. Da war sie sehr entsetzt und meinte, natürlich nicht. Aber es ist, als ob sie die Verbindung nicht ziehen würde zwischen dem, was wir tatsächlich erlebt haben, und den Vorstellungen von einer glücklichen Familie. So, als ob sie auch heute noch den Vater, der sich für das Wochenende ankündigt und dann ganz einfach nicht kommt, und den Vater, der unbedingt wieder zu uns zurückkommen soll, nicht als ein und denselben Menschen erkennen kann.»
Mit hochgradigen Schutzinstinkten, mitunter auch mit Scheuklappen ausgestattet sind Kinder zudem, wenn es um ihr eigenes Selbstgefühl geht. Von einer fundamental wichtigen erwachsenen Bezugsperson abgelehnt zu werden ist so bedrohlich, daß ein Kind es fast nicht wahrhaben kann. Auch hier können wir die Taktik der menschlichen Evolution erkennen, denn ein ungewolltes Kind war über weite Strecken der menschlichen Geschichte hindurch schlicht auch ein todgeweihtes Kind. Ein Kind brauchte Eltern, die es für liebenswert und erhaltungswürdig hielten. Und ein Kind mußte, um ein Selbstwertgefühl zu entwickeln, alles daransetzen, um sich in seinem allerersten psychischen Spiegel schön zu finden: in den Augen und Gefühlen seiner Eltern.
Gelassenheit gegenüber den eigenen Eltern kommt deshalb bei Kindern so gut wie überhaupt nicht vor. Eher schon blinde Loyalität oder großer Zorn, letzterer meist erst viele Jahre nach den dieses Gefühl auslösenden Ereignissen und durchsetzt von Ambivalenzen und Selbstvorwürfen. Leichter, weil kulturell ausführlich vorgegeben, fällt dabei die Kritik an der Mutter als an dem Vater. Hierfür gibt es viele Vorlagen, ein ausführliches Vokabular, die Billigung der Umwelt und viele vulgärpsychologische Unterstützungen. Kritik am Vater dagegen ist in unserer Kultur relativ unbekannt. Es bedarf nicht einmal eines Tabus, um eine solche Kritik zu verhindern. Denn wenn wir die Begriffe «Kindheit», «Erziehung» und «Elternhaus» hören, denken wir ganz automatisch an unsere Mutter und nicht an den Vater. Das Alibiprinzip funktioniert auch in anderer Hinsicht tadellos. Aus Biographien und Erzählungen wird aber dennoch deutlich, daß die Spur bei später auftretenden Problemen sehr eindeutig zum Vater zurückführt.
Bei den Söhnen verbleibt, auch wenn sie sich noch so klar daran erinnern, unter seiner Abwesenheit gelitten zu haben, dennoch als Vorlage für die eigene Männlichkeit ein Duplikat der väterlichen Prioritäten: Mann sein heißt, im Job und in der Welt unterwegs zu sein. Die Kritik, und später die versuchte Korrektur, gilt nicht seiner grundsätzlichen Lebensphilosophie, sondern seinem Charakter. Hier versuchen die Söhne, wenn sie selber Väter werden, «anders» zu sein. Aber da sie die Lebensphilosophie des Vaters übernehmen, kann das nicht gelingen.
Nach ihren Vätern befragt, hatten unsere männlichen Interviewpartner nicht viel Schönes zu berichten. Sie erzählten von kalten, abwesenden, strengen, mißbilligenden Männern, von Männern, die sie als Kinder körperlich gefürchtet, vor deren hartem Urteil sie seelisch gezittert hatten oder die ihnen einfach fremd waren. Fast immer fügten sie, ganz am Schluß, einen entschuldigenden, einen verzeihenden Satz hinzu. Manche konnten auch genau den Zeitpunkt angeben, an dem sie begonnen hatten, ihren Vater in einem versöhnlicheren Licht zu sehen: nämlich mit dem eigenen Eintritt in das Leben eines männlichen Erwachsenen. Dadurch, daß sie eine ähnliche Lebensentscheidung treffen oder glauben, eine solche treffen zu müssen, müssen sie auch diese Entscheidung positiver sehen. Dadurch, daß sie erkennen, zumindest unterbewußt, daß sie für ihre Kinder ein nicht sehr radikal anderer Vater sind, als der eigene ihnen war, müssen sie auch diese Art von Vaterschaft rückwirkend billigen. Dann können sie sich damit trösten, daß sie ja schließlich auch noch zu einem positiven Vaterverhältnis gefunden haben … also werden auch ihre Kinder eines Tages milde über sie richten. Und so setzt sich die fatale Linie fort, von Vater zu Sohn zu Vater.
«Mein Vater ist für mich erst in Erscheinung getreten, als ich erwachsen war. Im positiven Sinn. Als Kind hab ich mich eher vor ihm gefürchtet, weil er für mich immer der Strenge war. Jetzt haben wir ein sehr gutes, kameradschaftliches Verhältnis. Der Wendepunkt? Der Wendepunkt war, daß ich ihn vielleicht jetzt besser verstanden habe, als Mann.»
Das sagt unser Retortenvater, der Gynäkologe Hermann. Und «eins halt ich meinem Vater zugute», fährt er fort. «Einfach war sein Job nicht. Er war immer um fünf Uhr auf, um vor den Caterpillarfahrern dort zu sein.»
Auch sein Job ist heute nicht einfach. Und «in Erscheinung treten» tut er für drei seiner Kinder so gut wie gar nicht und für die anderen drei sehr selten.
«Mein Vater hat sich nicht gekümmert, dem war das (die Erziehung der Kinder) völlig egal», sagt der Werbefachmann Bernhard lapidar. Ihm ist es nicht egal; aber nur an einem Abend in der Woche kommt er rechtzeitig heim, um seine Kinder noch im wachen Zustand zu erleben, und auch am Wochenende hat er oft andere Pläne. Seine Abwesenheit kompensiert er durch eine starke moralische Präsenz: wenn er daheim ist, herrscht militärische Disziplin, ist das freundliche Regiment der Mutter kurzfristig abgesetzt.
Der Facharbeiter Ronnie urteilt dezidiert über seinen Vater und erzählt von einem sehr desolaten Kind-Vater-Verhältnis:
«Mein Vater war, sagen wir es so, ein recht robuster Mensch. Ich habe viele Schläge von ihm gekriegt. Wobei», führt das loyale Kinderdenken sofort aus, «irgendwo kann ich das ja auch wieder verstehen. Schließlich hatte er selber ein mieses Leben. Das war die Generation, der man die Jugend geklaut hat, mit dem Krieg.» Nach dieser scheinbar psychisch obligaten Verzeihungsgeste fährt er fort: «Meine Beziehung zu meinem Vater war sehr distanziert. Es gab Zeiten, da hat er von mir nichts mehr erfahren. Nichts zumindest, was nicht absolut nötig war. Ich hab ihm einfach nichts mehr erzählt, zuerst aus Angst vor der Strafe, und später, weil ich nicht mehr wollte. Meine Mutter war halt eine liebe Frau, die uns vor ihm beschützt hat. Sie ist aber früh gestorben. Mein Vater hat dann noch mal geheiratet, aber verändert hat er sich nicht. Auch heute noch, wo er alt und eigentlich recht traurig ist, marschiert er einfach hier herein, sieht sich um und sagt mir sofort, was ich alles falsch mache. Aber heute sag ich einfach: du, so mach ich’s eben, aber wenn’s dich stört, mußt du ja nicht bleiben.»
Ronnie hat sich, dem Anschein nach, dem alternativen Leben verschrieben. Mit seinem achtjährigen Sohn und seiner Frau, einer Sozialarbeiterin, lebt er auf einem alten Bauernhof. Sie wählen grün, Ronnie ist aktives Mitglied im Elternverein und in verschiedenen lokalen Initiativen, und «im Prinzip» glaubt Ronnie absolut und selbstverständlich an...