I.
Innenpolitische Berichte in den Medien lesen sich heute wie Fernsehkrimis von der schlichteren Sorte. Da wird auf einem Parkplatz hinter einem Supermarkt nahe einer Landesgrenze ein Köfferchen voller Geldscheine von Hand zu Hand gereicht. Eine Million Bares – wir kennen das aus Mafia-Filmen. Verstohlen huscht ein Kanzler zur Telefonzelle und wählt selbst seinen Partner an – statt sein Vorzimmer zu bemühen; auch das haben wir schon im Fernsehen gehabt: wg. keine Mitwisser. Im Luxushotel schlägt der Gentleman-Politiker, uns allen bekannt aus dem Fernsehen, die Bettdecke zurück, und den Partner für einen Deal lacht viel Bares an. Da werden dem Kanzler auf Versammlungen von Wohlmeinenden Briefumschläge in die Rocktaschen gesteckt und später von ihm unbesehen zur Verbuchung auf Schwarzkonten weitergereicht. Nummernkonten in der Schweiz, Briefkastenfirmen in Liechtenstein, Scheinfirmen auf den Bahamas, anonyme Schließfächer – alles Teil eines Systems.
Auch die Besetzung des Politkrimis ist aus Fernsehserien der einfachen Strickart vertraut: Waffenhändler, Geldwäscher, bestechliche Politiker, korrupte Manager, Pöstchen-Jäger – obendrein noch der Ex-Chef eines bundesdeutschen Geheimdienstes, jetzt flüchtig vor einem internationalen Haftbefehl. Ihre allerhöchste Tugend ist die Verschwiegenheit; eine Frage der Ehre. Briefe, die nicht in die Akten sollen, werden von politischen Schwergewichten sofort zerrissen in den Papierkorb befördert – amtliche Unterlagen verschwinden aus den Zentren der Politik.
Es lebt sich gut in diesen Politkrimis: Exkursionen mit fremden Geld an den Nil, aufwendige Geburtstage mit gesponserten Kosten, Einladungen zu rauschenden Festen wie dem Opernball in Wien, Verwöhnwochen in Villen wichtiger Geldfürsten an der Côte d’Azur – und immer wieder Freiflüge in eigens für die Beschenkten bereitgestellten Jets. High Life!
All dies ist aber kein Krimi, es ist die Wirklichkeit. Das läuft auch nicht irgendwo in Südamerika, sondern bei uns. Hier wird das tatsächliche Verhalten von Politikern beschrieben – von hohen Politikern in Deutschland und auf allen Ebenen. Einige von ihnen waren sogar Respektpersonen, die uns zu verstehen gaben, dass sie moralische Vorbilder sein wollten – wie Ex-Innenminister Manfred Kanther oder auch Bundespräsident Johannes Rau. Und allen voran: Bundeskanzler Helmut Kohl. Als erste Schwarzgeld-Schiebereien ruchbar wurden, da erhielt Kohl, mittlerweile Ex-Kanzler, von einem Meinungsforschungsinstitut den Rat: Aussitzen. Ein grundfalscher Rat; denn hier wurde verkannt, welcher Erklärungsbedarf sich bei Wählern nach diesen Krimiverläufen aufbaute.
Der Verlauf der Spendenkrise hat hinsichtlich der Reaktionen eines republikanischen Publikums eine Eigenheit, die in den USA früher bereits am Falle des damaligen Präsidenten Richard Nixon deutlich wurde: Kommt die Wahrheit scheibchenweise ans Tageslicht, steigt die Spannung beim Publikum. Auch in Deutschland haben wichtige Akteure der Politik bislang alles getan, um auf diese Weise das Interesse des Publikums zu steigern. So ermittelte die Forschungsgruppe Wahlen bei repräsentativen Querschnitten über das Interesse an verschiedenen Themen der deutschen Politik:
Die wichtigsten Themen waren: (Mehrfachnennungen) | im Januar 2000 | im Februar 2000 |
Arbeitslosigkeit | 59 % | 54 % |
Politikverdruss/Spendenaffäre | 44 % | 51 % |
Familie/Kinder/Jugend | 2 % | 3 % |
Werte/Moral der Gesellschaft | 3 % | 3 % |
Seit Jahren führt die Arbeitslosigkeit mit weitem Abstand vor allen anderen Themen die Liste der Sorgen an. Das ist das Bemerkenswerteste an diesem Befragungsergebnis, dass jetzt die Sorge um den Zustand unseres politischen Systems zur sonst allein wichtigsten Sorge aufschließt. Die Schlapphut-Elemente unserer Skandale mögen bei einigem inneren Abstand komisch anmuten, aber lustig sind sie keinesfalls.
Gewiss, die SPD erhielt im Zuge der Spendenaffäre viel bessere Umfragewerte als die CDU – aber nicht wegen eigener Leistungen, sondern weil Kohl mit seiner Affäre Bundeskanzler Gerhard Schröder nun vergleichsweise besser aussehen ließ. «Kohl rettet Schröder», titelte das Wochenmagazin Der Spiegel eine seiner Top-Geschichten.
«Was ist die Ursache für den Aufschwung der SPD», fragte Anfang Februar das EMNID-Institut für den Spiegel und erhielt folgende Antworten:
Die gute Sachpolitik der SPD | 27 % |
Grund zur Besorgnis ist ganz besonders, dass man der SPD das Gleiche zutraut wie der CDU. «Gibt es auch bei der SPD nichtoffizielle Spenden-Konten?», fragte die Forschungsgruppe Wahlen in der bereits erwähnten Erhebung. Antwort: «Ja» = 77 %; «Nein» = 16 %. Selbst bei den eigenen Wählern der SPD hielten nur 25 % die Existenz schwarzer Kassen für undenkbar.
Wie sehr in einer solchen Spannungssituation die Profis der Politik die Urteile in der Bevölkerung verkennen, zeigt auch die Beurteilung des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch im Februar 2000. Dieser erhielt auf einem CDU-Landesparteitag von den Delegierten bei der Wiederwahl zum CDU-Landesvorsitzenden das Traumergebnis von 97,63 Prozent der Stimmen. Eine Mehrheit selbst der CDU-Wähler (!) befürwortete dagegen seinen Rücktritt als Ministerpräsident.
Was wir zeigen wollen
Skandale sind lehrreich – und am Ende hoffentlich auch hilfreich, wenn der Leidensdruck für uns Bürger und insbesondere bei Politikern Reformen bewirken sollte; lehrreich sind sie, weil wir Neues über das Innenleben von Parteien und den Stil der Politik erfahren.
Die Untersuchung politischer Vorgänge und Institutionen durch die Politologie und insbesondere auch die Soziologie der Politik ist in einer ganzen Reihe von Ländern sehr dichtmaschig. Wir glaubten, fast alles zu wissen über Wähler, sehr viel über politische Parteien und auch nicht wenig über Willensbildung in politischen Institutionen sowie über die Symbiose und Gegensätzlichkeit zur Verwaltung. Der gegenwärtige Zustand des politischen Systems, insbesondere die Skandale, erlauben zusätzliche Einblicke, die mit den Werkzeugen der empirischen Sozialforschung nicht zu ermitteln waren. Dieses war für uns der eigentliche Auslöser für den Entschluss, das Aufbrechen eines Kartells des Schweigens innerhalb der Kaste von Berufspolitikern zum Anlass dieses Buches zu nehmen.
Dass auch erfahrenen Politikern gravierende Fehleinschätzungen in der Beurteilung der Wähler unterlaufen, ist angesichts der Fülle demoskopischer Befunde, die heutzutage namentlich in Deutschland zur Verfügung stehen, zunächst verwunderlich. Die jetzt möglich werdenden Einsichten in das Innenleben der Parteien machen dies jedoch verständlicher. Da umgeben sich Politiker wie Helmut Kohl mit einem engen Kreis von Trostspendern, die umso widerspruchsfreier Unterstützung und Wärme verbreiten, je treffender in der Öffentlichkeit die Kritik wird. Aus Untersuchungen der Sozialpsychologie wissen wir, dass ein innerer Kreis von Gläubigen angesichts widriger Botschaften umso intensiver glaubt, je mehr seine Mitglieder zuvor in diesen Glauben investierten. Auch der zunehmend ruppige Umgang in Verdacht geratener Politiker mit Journalisten ist mit diesem Auseinanderklaffen von Innenansicht im Zirkel der Getreuen und der Sicht von außen zu erklären. Der Kern der immer noch Gläubigen ersehnt Bestätigung. Dies erklärt auch das Verhalten von Wolfgang Clement und Johannes Rau – um nicht immer auf Helmut Kohl abzustellen.
Zum Verständnis des «real existierenden» Systems der Politik – im teilweisen Gegensatz zu seiner geschönten Vorstellung in unserer politischen Bildung – ist ein anderer Mechanismus noch wichtiger, weil er auf eine Reihe von Sachverhalten in der Politik zutrifft. Offensichtlich ist die Sicht der Dinge unter Mitgliedern einer Partei nicht die gleiche wie bei den Wählern dieser Partei, und bei den Wählern stimmt sie wiederum nicht mit der in der allgemeinen Bevölkerung überein.
Weithin wird geglaubt, Politiker wollten zumindest in Worten, nach Möglichkeit auch...