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E-Book

Warten wir die Zukunft ab

Autobiografie

AutorHartmut König
VerlagNeues Leben
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl560 Seiten
ISBN9783355500432
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Hartmut König, im dritten Nachkriegsherbst geboren, wächst als Schul-, Kirch- und Grenzgänger in Ostberlin auf. In den sechziger Jahren ist er mittendrin in der entstehenden Beatszene. Als Liedermacher tritt er vor der UNO-Vollversammlung auf, im eigenen Land polarisiert er mit seinen Texten. Doch nicht für die künstlerische Laufbahn entscheidet er sich, sondern für die Politik. So wie er sich einst mit seinem Lied 'Sag mir, wo du stehst' positionierte, ist auch sein Buch von politischer und menschlicher Ortung bestimmt. Er berichtet über Begegnungen mit internationalen Künstlern und Politikern und lässt gleichzeitig tief in die DDR-Kulturpolitik und in die Vorgänge hinter den Kulissen der Macht blicken. König erzählt sein Leben; verzahnt mit den politischen Ereignissen ergibt das eine kleine, hochinformative Geschichte der DDR, insbesondere aus kultureller Perspektive.

Hartmut König, geboren 1947 in Berlin, war Mitbegründer der ersten deutschsprachigen DDR-Beatband 'Team 4' und des 'Oktoberklubs'; Autor und Komponist zahlreicher Lieder ('Sag mir, wo du stehst'; Songtexte für den DEFA-Film 'Heißer Sommer'); studierte Journalistik in Leipzig, 1974 Promotion; ab 1976 Sekretär des Zentralrates der FDJ; 1989 stellvertretender Kulturminister. Nach 1990 arbeitete er in einem Brandenburger Zeitungsverlag und lebt heute in der Gemeinde Panketal nahe Bernau.

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Leseprobe

Zufällig am Leben

Der 14. Oktober 1947 ist auch in der Schönhauser Allee schön. Das heißt, die Sonne wärmt ein bisschen, und das tut gut, wo doch alles kalt und öd ist im dritten Nachkriegsjahr Berlins. Not und Trauer überall. Das Land, die Stadt, die Straße in Trümmern. Aber nicht unser Haus. Nicht die Schönhauser Allee 27, die thront mit zwei Nachbarhäusern über den Ruinen. Den Grund nenn ich später. Zuerst muss ich darin geboren werden. Und zwar als ein für die Hungerzeit erstaunlicher Achtpfünder. Mein Kopf gleicht einer Spitztüte, weshalb die Großmutter aufschreit: »Der sieht ja aus wie die Heilige Inquisition!« Wie kann man so etwas beschreien? Und überhaupt: Welch lausige Begrüßung, wenn man doch nur am Leben ist, weil einiges nicht passierte!

Der mein Vater werden sollte, ein Matrose von fröhlicher Korpulenz und notorischer Weibstollheit, starb nicht den »Heldentod«. Kurz bevor sein Minensuchboot nachts auf See explodierte und sank, hatte es Alarm gegeben und im Schlaf war ihm der Smutje auf den Magen gesprungen. Der Vater in spe rettete sich über Bord und schwamm um sein Leben, zuckende Körper, die sich an ihn klammerten, zurückstoßend. Die meine Mutter werden sollte, starb, als das Kindermädchen unachtsam war, im Vorschulalter nicht unter dem Fangkorb einer Straßenbahn. Ein Feuerwehrkran befreite sie, als der Tod schon den Umhang schwenkte. Und ich endete nicht als Fehlgeburt, denn monatelang hatte meine Mutter auf Anraten des Arztes das Bett gehütet, um mich zu behalten. Und dann das Geburtshaus. Es brannte nicht wie die halbe Umgebung im letzten Kriegsjahr nieder. Mein Vater war nach Berlin kommandiert worden, und Heimweh hatte ihn zuerst in die 27 geführt, wo er und seine Kameraden alle übergreifenden Brände löschten. Man muss dem Schicksal für so viel Gefälligkeit dankbar sein.

Als ich zur Welt komme, wird unsere Familie fünfköpfig. Das Zepter schwingt meine Großmutter Katharina, fünfzig Jahre alt und immer noch eine schöne Frau. Sie stammt aus dem thüringischen Eisenberg, wo sie als Älteste von fünf Geschwistern von ihrer Mutter Martha als Aschenputtel gehalten wurde. Vielleicht wäre sie das auch geblieben, hätte die herrische Martha nicht eine Schwester Meta gehabt. Die war als Enfant terrible dafür bekannt, den geschlechtsreifen Söhnen Eisenbergs die Hosenställe zu lüften. Gelegentliche Unfälle behob ein anarchistischer Medizinalrat, bis es für Meta höchste Zeit war, im anonymen Großraum von Berlin unterzutauchen.

Schon immer hatte meine Großmutter ein Faible für ihre Tante und deren freien Geist gehabt. Sie liebte die unangepasste, aufsässige Art, mit der Meta die Karten des Lebens mischte. Nun zog es sie in ihre Nähe – nach Berlin. In einem reichen jüdischen Haushalt nahm sie die Stellung eines Kindermädchens an. Die gab sie auf, als der gutsituierte Schneidermeister Karl Sinnhöfer sie heiratete. Sie bekam zwei Kinder, meine Mutter Helga und Egon, den ein Jahr später Geborenen. Man wohnte im reichen Berliner Stadtteil Schmargendorf, überstand die Inflation durch Goldeinnahmen im Schneidergeschäft. Man hatte Hausangestellte und führte – sieht man von Helgas Straßenbahnunfall ab – ein sorgloses, komfortables Leben. Das änderte sich abrupt, als Karl Sinnhöfer 1929 starb. Meine Großmutter, vor Schmerz besinnungslos, musste mit Gewalt daran gehindert werden, dem in die Erde gelassenen Sarg nachzuspringen. Der Tod ihres Mannes war auch in materieller Hinsicht eine Katastrophe, denn dessen Kompagnon rückte der jungen, unerfahrenen Witwe keine Geschäftsanteile heraus. Die finanziellen Reserven waren bald aufgebraucht, und meine Großmutter hatte alle Mühe, sich selbst und die beiden Kinder mit Nähen, Waschen und Botengängen durchs Leben zu bringen. Mal waren Helga und Egon bei reicheren Klassenkameraden zum Essen eingeladen, mal spendierte die Kirche ein Brot.

Da trat die wilde Meta auf den Plan. Hatten sie und ihr Mann, der rote Nowakowski, einst sogar Rosa Luxemburg in ihrem Schönower Haus versteckt, so trafen sich in der Zeit der Weimarer Republik viele linke Geister an diesem Ort. Zu einer solchen Runde lud Meta auch meine Großmutter ein und stellte ihr einen ausgemergelten Mitarbeiter der »Roten Hilfe« vor. Er hieß Bruno Apitz. »Nimm ihn auf«, sagte Meta. »Allein kommst du vor die Hunde. Lass ihn bei dir wohnen, und schmeiß ihn raus, wenn er nicht mehr zuwege bringt als sein Geschreibsel.« Meine Großmutter gab ihm in Schmargendorf Logis, und er blieb, bis die Nazis an die Macht kamen. Großmutter beschrieb ihn als einen komplizierten, verzweifelt um seine literarischen Stoffe ringenden Geist. Mal wirr und hitzköpfig, dann wieder stundenlang schweigend oder theatralisch deklamierend. Aber er war im Herzen der klassenbewusste Leipziger Arbeiterjunge geblieben. Keiner konnte ahnen, wie sehr er die antifaschistische Literatur der Nachkriegszeit bereichern würde. Für Helga und Egon war er wie ein Vater.

So lange Bruno Apitz bei den Sinnhöfers lebte, übertrugen sich mehr seine sozialen als seine weltanschaulichen Ansichten auf meine Großmutter. Sie wurde nie Mitglied einer Partei, aber sie beteiligte sich engagiert an den politischen Debatten jener Jahre. Sie bildete als Christin ihr Herz und ihre humanistische Gesinnung. Antifaschisten, die bald verhaftet wurden oder emigrierten, wie der Musikwissenschaftler Georg Knepler, fanden bei ihr noch einmal zu freiem Meinungsaustausch zusammen. Ungeachtet der Gefahren trug meine Großmutter auch 1933 noch Flugblätter aus. Die Gestapo stand vor der Tür und erkundigte sich nach Apitz, der inzwischen wieder in Leipzig aktiv war. Auch meine Großmutter geriet in deren Visier, aber eine konservative Stadträtin, die gelegentlich die Dienste meiner Großmutter in Anspruch nahm, lenkte den Verdacht von ihr ab.

Als Bruno Apitz nach Leipzig gegangen war, fehlte den Sinnhöfers nicht nur der Mann im Haus, sondern es blieben auch seine geringen Beiträge zum Lebensunterhalt aus. Nach drei Jahren heiratete meine Großmutter deshalb den Witwer Eduard Caroli, einen verbeamteten Lokomotivführer aus Sachsen. Der gehörte um einige Ecken zur Familie, war aber nicht blutsverwandt. Hatte bei dieser Verbindung schon nicht ihr Herz gesprochen, so konnte er immerhin die Familie ernähren. Er besaß ein Haus in Großdeuben, man zog dorthin und später ins nahe Leipzig. Helga und Egon waren nicht unglücklich. Meine Mutter verbrachte ihre Pflichtjahre in einem Pastorenhaushalt, ging in Leipzig zur Schule und in die Lehre. Aber meine Großmutter hatte Sehnsucht nach Berlin. Und der Lokführer Eduard war viel zu weichherzig, um ihr diesen Wunsch abzuschlagen. So bestellte man den Möbelwagen und zog für 75 Reichsmark Monatsmiete in den zweiten Stock des Bürgerhauses Schönhauser Allee 27. Das war 1939, als der Krieg ausbrach.

Die Männer aus der 27 tranken in der Eckkneipe ihr Bier, vielleicht mit Ausnahme des Kommunisten Grosch, der nur deshalb nie abgeholt wurde, weil ihn bis zum Kriegsende niemand, nicht einmal der Blockwart, verpfiff. Helga bekam eine Anstellung im Familienbetrieb Dettlof, wo der Firmenchef mit dem ungeliebten Hakenkreuz am Revers höchstpersönlich die Rechnungen frisierte und falsche Bilanzen an die Bank gab. Egon durfte in die Marine-HJ gehen. Meine Großmutter hatte widerwillig zugestimmt. Helga hatte sie aus dem Bund Deutscher Mädel rausgehalten und einem fassungslosen Rekrutierungsgremium erklärt, ihre Tochter sei keine Matratze für pubertierendes Jungvolk. Zum Glück verstaubte der Vorgang. Egon aber wollte nach älterer Familientradition zur See fahren, das war ohne Hitler-Jugend chancenlos. Er meldete sich zur U-Boot-Flotte und kehrte bereits von seiner ersten »Feindfahrt« nicht zurück. Wann immer ich die hoffenden Worte der Becher-Hymne höre, »dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint«, werde ich meine Großmutter vor Augen haben, die zeit ihres Lebens kein Meer, keine Wellen, keine Unterwasseraufnahmen ohne Erstickungsanfälle ertragen konnte.

Egon war neunzehn. Sein weiches, jungenhaftes Gesicht unter der Marinemütze blieb in ihrer Erinnerung stehen wie eine Fotografie, die eingefroren war in der Zeit und der kein Bild mehr folgen konnte. Später bemerkte sie gar nicht, dass sie mich Egon rief, selbst dann nicht, als ich diesem Bild nicht mehr ähnelte.

Egons Tod schürte ihren Hass auf die Nazis. Seit der Bekanntschaft mit Apitz war dieser Hass gewachsen, aber nie organisierter Widerstand geworden. Vielmehr versuchte die Großmutter mit hilflosen Gesten, persönliches Leid zu mildern. Da gab es wenige Schritte von der Schönhauser Allee 27 entfernt ein jüdisches Altersheim nahe dem Friedhof, der noch heute als Mahnung steht. Meine Großmutter war Augenzeugin, als die alten Leute herausgeprügelt, an Händen und Füßen gepackt und wie Mehlsäcke auf Lastwagen geworfen wurden. Jeder in unserem Teil der Schönhauser, sagte sie, hat das gesehen oder gewusst. Sie aber hat mit Anna Dommeier, der kleinen, verwachsenen Haushälterin der Familie Rüdiger Schleicher, nachts jüdischen Frauen im Scheunenviertel geholfen, vor der Deportation das Nötigste zu packen, Kinder zu trösten, ihnen warme Sachen zu nähen. Das hat nichts aufgehalten, aber es war barmherziger als wegzusehen. So wie bei den ukrainischen Zwangsarbeiterinnen, die auf der Promenade vor unserem Haus im Eiswind Schwerstarbeit verrichten mussten. Ihnen schob die Großmutter Lebensmittelmarken zu und etwas Geld, damit sie sich bei dem anständig gebliebenen Kaufmann Dommer in der Wörther Straße Essen kaufen konnten. Derlei Menschlichkeit wurde...

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